Keine Deutungshoheit für das Recht

Familie als Liebes- oder als Verantwortungsgemeinschaft?
Spielen, lieben, streiten – Familie ist der Ort, an dem viele wichtige Fähigkeiten erworben werden.
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Spielen, lieben, streiten – Familie ist der Ort, an dem viele wichtige Fähigkeiten erworben werden.

Was ist Familie? In der Aprilausgabe der zeitzeichen beschrieb die Theologin Cornelia Coenen-Marx, warum es wichtig ist, neue Lebens- und Sorgemodelle rechtlich abzusichern. Ihr antwortet die Religionspädagogin Karin Ulrich-Eschemann, die davor warnt, dass rechtliche Regelungen gesellschaftliche Trends einleiten oder verstärken könnten.

Worauf konnten der Staat und die Gesellschaft sich in der Corona-Zeit verlassen? Und worauf müssen sie sich im Alltag und in Krisenzeiten verlassen können? Es waren vor allem die Familien, die Eltern und die Kinder, die alles mittrugen, bis zur äußersten Kraftanstrengung. Hoffentlich bleiben nicht zu viele Folgeschäden zurück. Es waren nicht nur Eltern und Kinder als einzelne Rechtssubjekte, deren Bedürfnisse und Rechte auf Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung auf der Strecke blieben. Der Staat und die Gesellschaft konnten sich in der immer noch anhaltenden Krise darauf verlassen, dass die Eltern nicht einfach aufgaben, sondern sich um die Kinder kümmerten, sich um sie sorgten, und oft gleichzeitig auch um deren Großeltern, ihre eigenen Eltern. Die Kinder saßen mit Masken in der Schule, ließen sich testen, trafen keine Freunde und nahmen vieles mehr in Kauf – nicht zuletzt den häuslichen Streit, weil die Nerven aller blank lagen.

Gewiss kann man hier im Zusammenhang mit der Generationengerechtigkeit beklagen, dass die älteste Generation als besonders vulnerable Gruppe zu sehr im Fokus stand, und zeitlich erst sehr spät die jüngste Generation in den Blick und wahrgenommen wurde. Hat das alles funktioniert, weil die Familie eine Verantwortungsgemeinschaft ist? Die Bilder, Filme und Berichte aus dem Krieg in der Ukraine sprechen für sich: große Angst, Sorge und Liebe. Gewiss handeln Eltern hier verantwortlich, aber was sie verbindet und antreibt, ist die Liebe zu ihren Kindern, zur Partnerin, zum Partner oder zu den Großeltern.

Es ist sicherlich eine gute Sache, soziale Verantwortungsgemeinschaften rechtlich absichern zu wollen, wie dies Cornelia Coenen-Marx in ihrem Artikel „Die Vielfalt wächst“ in der Aprilausgabe der zeitzeichen darstellt. Aber warum muss das im Zusammenhang mit einer Modernisierung des Familienbildes verstanden werden? Ist doch Familie anders, und gewiss sind nicht alle Lebensformen zu egalisieren unter dem Begriff der Verantwortung. Tut man es, bemerkt man schnell den Realitätsverlust.

Was ist Familie? Es ist eine Lebensgestalt, die das Leben dauerhaft und angemessen angenommen hat und zugleich ein Institut sui generis. Der Staat hat nicht die Autorität, inhaltlich zu bestimmen, was Familie ist und sein soll über das hinaus, was er im Sinn der Rechtsdogmatik zur Förderung und zum Schutz bestimmen muss. Die Familie als Institution ist unabhängig von der Institution Staat, und sie ist ihrem Wesen nach etwas anderes als eine Vertragsbeziehung. „Menschliches Leben entfaltet sich in Beziehungen – nicht nur in solchen, die wir willentlich wählen und eingehen, sondern auch in solchen, in denen wir uns vorfinden und uns die Voraussetzung dafür bereitstellen, dass wir überhaupt willentlich Beziehungen zu anderen aufnehmen können. Die Familie erinnert uns als vornehmliches Beispiel daran, dass die menschliche Gesellschaft als solche nicht auf hergestellten Vertragsbeziehungen beruht, sondern von dem her lebt, was an sozialen Relationen vorgefunden wird. Die Gesellschaft mag eine Mannigfaltigkeit an Wahlbeziehungen umfassen, aber wir gehören ihr vor-willentlich an und sind Ansprüchen ausgesetzt, die weder wir noch die anderen für uns erfunden haben. Die Beziehungen innerhalb der Gesellschaft sind für unsere Identitäten konstitutiv und nicht erst durch diese hergestellt“, heißt es in dem unter anderen von Gerhard Höver herausgebenen Buch Die Familie im neuen Europa.

Nicht nur die einzelne Person in der Familie hat Würde, wie dies in der Verfassung, den Menschenrechten und Kinderrechten grundgelegt ist, sondern die Familie als Lebensgemeinschaft neben anderen, als eine komplexe Institution gegenseitiger Verbundenheit. Es handelt sich um nichts weniger als die Eigenwürde der Familie. Ihre Würde ist ein Aspekt der Würde der Teilhabe an der gesamten menschlichen Gemeinschaft. Eine Institution, die dem Leben eine Form, Gestalt gibt und mit der Leben (bios) nicht amorph bleibt. Dietrich Bonhoeffer hat das in seiner Ethik auf den Punkt gebracht: „Natürliches Leben ist gestaltetes Leben. Das Natürliche ist dem Leben selbst innewohnende und dienende Gestalt. Löst sich das Leben aber von dieser Gestalt, will es sich frei von ihr bejahen, will es sich durch die Gestalt des Natürlichen nicht dienen lassen, dann zerstört es sich selbst bis in die Wurzeln.“ Leben als solches gibt es für Bonhoeffer nicht, es zeigt sich immer in bestimmten Gestalten, deren eine die Familie ist und hier Kinder von Vater und Mutter herkommen, also ein generatives Modell.

Ein generatives Modell

In der gesellschaftspolitischen Diskussion werden der Wert und die Bedeutung von Institutionen – keineswegs nur staatlichen – und ihre stabilisierende Funktion für die Gesellschaft wieder betont. Der Philosoph Roberto Esposito spricht von dem originär institutionellen Charakter des Lebens. Menschliches Leben ist von Anfang an und in jedem Fall instituiert, eingeschrieben in ein historisches und symbolisches Gewebe, aus dem es sich nicht herauslösen kann. „Nur wenn das Leben als von Anfang an geformtes betrachtet wird, können Institutionen seine lebendige Potenz in sich aufnehmen, können Kraft und Form, Leben und Institution, Natur und Geschichte ihre ursprüngliche Einheit anerkennen“, so Roberto Esposito in seinem neuestem Buch Institution und Biopolitik.

Der Staat und die Gesellschaft können sich darauf verlassen, dass die Eltern ihre Kinder lieben und dass die Kinder ihre Eltern lieben. Familie ist in erster Hinsicht als Liebesgemeinschaft zu verstehen. Das bleibt sie im Gelingen und Misslingen. Die hier praktizierte Liebe ist allerdings weit entfernt von einem idyllisch-romantischen Familienverständnis. Das englische Wort „storge“, dem griechischen Wort „storge“ entlehnt, meint familiäre Liebe als die Affinität zu Familienangehörigen, als emotionales Zugetansein, das bis aufs äußerste strapaziert werden kann und an Grenzen führen kann, wie es wohl viele Familien erfahren. Diese Emotionalität ist institutionell eingebunden. Liebe ist das Medium der Zusammengehörigkeit.

Kontrolle von Liebe und Hass

Ist die Familie eine vulnerable Gruppe, die vorrangig zu schützen ist? Gewiss gibt es in ihr eine große Verletzlichkeit, eine Schwäche, die aber gleichermaßen ihre spezifische Stärke ist. Familie ist „ein Ort, an dem die Fähigkeit zu lieben – zusammen mit der Fähigkeit, die rechten Dinge zu fürchten und zu hassen, erworben wird. Damit ist ein ebenso schmerzhafter wie unausweichlicher Prozess bezeichnet, der durch die kontrollierten emotionalen Kämpfe vermittelt wird, die unter Familienmitgliedern aufkommen. Die versöhnende Kraft der Familie besteht darin, die unvermeidlichen Tumulte von Liebe und Hass ans Licht und unter Kontrolle zu bringen. Die familientypischen emotionalen Turbulenzen markieren nicht etwa einen Defekt der Familie, sondern vielmehr ihre spezifische Stärke“, heißt es in Die Familie im neuen Europa.

Familie ist in keinem Fall ein defizitäres Gebilde. Wie wir sie derzeit öffentlich erleben und agieren sehen, sowohl in der Corona-Krise als auch im Ukraine-Krieg und nicht zuletzt im Alltag, zeigt sehr viel von ihren Ressourcen. Gewiss gab es immer und gibt es bis heute neben Familie andere soziale Lebensweisen, das verändert aber nicht die Wahrheit über die Familie und muss nicht politisch propagiert werden als Modernisierung des Familienbildes. Offensichtlich geht es bei der Modernisierung um die Logik eines „Updates“, das die Gestalt der Familie selbst betrifft. Solche Veränderungen empfehlen sich gerne als Liberalisierung. Aber was, wenn die Entwicklung in eine ganz andere Richtung geht? In der Liberalisierungslogik scheint sich die neue Regierung laut Koalitionsvertrag einig zu sein, wenn es heißt: „Familie ist vielfältig und überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen.“

Das, was Familie ist, ist verhandelbar und zeitgemäß neu zu gestalten. Die Familie ist eine dem Staat gegenüberstehende Institution und muss es bleiben, sonst ist sie nicht mehr frei. Der Staat allerdings muss in hohem Maße an dieser Institution interessiert sein, weil sie hilft, das Gemeinwesen zu ordnen und weil er auf das hier gelebte Ethos, wozu Liebe und Verantwortung gehören, angewiesen ist. Auch für das Recht gilt, dass ihm etwas vorgegeben ist mit der Familie als menschlicher Lebensgestalt und Institution, das es zu akzeptieren hat und ihm keine Deutungshoheit zukommt, darüber zu befinden, was Familie ihrem Wesen nach ist. Das steht erst recht nicht der Politik zu.

Wenn in der EKD-Orientierungshilfe „Autonomie und Angewiesenheit“ aus dem Jahr 2013 festgestellt wird, dass das Familienrecht dem Strukturwandel der Familie Rechnung trägt, dann ist das gewiss einerseits ein wichtiger Aspekt. Zugleich wird hier aber auch kritisch festgestellt, dass das Recht manchmal Regelungen vorgibt, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorauseilen und gesellschaftliche Trends einleiten oder verstärken.

Diese Kritik gilt es zu verstärken. In der Liberalisierungslogik gedacht heißt das, dass das Familienverständnis sich weiterhin wandeln wird und das Gesetz den Weg dazu fast schon vorgibt. Ähnliches ist zu beobachten bei dem Urteilstext des Bundesverfassungsgerichts und den zu erwartenden gesetzlichen Regelungen zum assistierten Suizid (siehe auch Seite 42). Das Bundesverfassungsgericht darf nicht weltanschaulich entscheiden und nicht selbst eine Weltanschauung produzieren. Das Verfassungsrecht ist von Menschen gemacht und sollte sich der Frage nach dem Guten, das ihm vorgegeben ist, wie die Familie als Liebesgemeinschaft und Institution, nicht verweigern. 

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Karin Ulrich-Eschemann

Karin Ulrich-Eschemann ist Professorin für Religionspädagogik und Didaktik an der Universität Erlangen-Nürnberg.


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