Der Tod geht alle an

Überlegungen vor dem Hintergrund des ausstehenden Gesetzes zur Regelung der Suizidbeihilfe
Lucas Cranach der Ältere (1472 – 1553): Kreuzigung Christi mit dem guten Hauptmann unterm Kreuz.
Foto: akg
Lucas Cranach der Ältere (1472 – 1553): Kreuzigung Christi mit dem guten Hauptmann unterm Kreuz.

Die christliche Ethik des Sterbens ist keine Sondergruppenethik, sondern ist ein bedenkenswerter Einwand gegen die „Ent-übelung“ des Todes. Eine Rekonstruktion des Kölner Theologen David Borgardts.

In diesen Wochen sind deutsche Gesundheitspolitiker*innen mit der Bewältigung der verschiedenen Herausforderungen im Zusammenhang der Covid-19-Pandemie noch immer gut beschäftigt. Früher oder später wird aber in dieser Legislatur ein weiteres, ebenso emotionalisiertes Thema auf dem Plan stehen: Die Frage nach der rechtlichen Regelung einer ärztlichen Beihilfe zum Suizid. Die Zeichen stehen auf Liberalisierung. Dies hat – trotz der bereits angekündigten Aufhebung des Fraktionszwangs bei der diesbezüglichen Abstimmung – sicher nicht wenig damit zu tun, dass im Herbst 2021 zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Bundestag zusammengetreten ist, in dem die zwei großen „C-Parteien“ nicht mehr die stärkste Kraft stellen (vergleiche zz 1/2022).

Wenn es stimmt, dass die restriktive(re) Haltung der Unionsparteien zum assistierten Sterben mit ihrer „christlichen“ Wertebindung zusammenhängt, dann scheint das Zurücktreten dieser Stimme in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft wie der unseren zunächst eine gewisse Folgerichtigkeit zu haben. Denn mag die Wahl einer „christlichen“ Lebensform auch jedem Bürger freigestellt sein, so kann der Gesetzgeber eine solche ja kaum für alle und jeden verbindlich machen. Tatsächlich scheint die Gesetzgebung daher nicht der richtige Ort, Sterbeideale festzuschreiben – wofür das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 im Übrigen auch reichlich wenig Spielraum gelassen hat.

So sehr die Frage als rechtliche damit vorentschieden ist, so wenig aber ist sie es als ethische. Denn wenn auch die Ausbildung von Sterbeidealen rechtlich in den Bereich der freien Entfaltung einer Persönlichkeit gehört, so sind sie darum nicht bloße Geschmacksurteile. Vielmehr können sie durchaus im Rahmen einer öffentlichen Meinungsbildung miteinander konkurrieren. Die Konkurrenz von Lebensformen und Lebensidealen, und damit auch von Sterbeidealen, ist das Wesen jeder ethischen Debatte. In dieser Debatte werden dann auch Vertreter einer von christlichen Quellen inspirierten Ethik ihre Perspektive einbringen können in der Hoffnung, mit ihren Argumenten zu überzeugen.

Bestimmte Verpflichtungen

Was aber ist überhaupt eine christliche Ethik des Sterbens? Häufig präsentiert sich eine solche als eng verbunden mit einem mehr oder weniger fixen Set an weltanschaulichen Überzeugungen wie dem Glauben an einen Gott als Schöpfer der Welt und des Menschen, aus dem dann bestimmte Verpflichtungen abgeleitet werden sollen. In diesem Sinne muss auch die Figur des Bischof Thiel in Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Gott“ zugeben, dass seine Position „einen ganz bestimmten Glauben an einen ganz bestimmten Gott voraussetzt“. Inwieweit eine solche Ableitungsfigur aus der Innenperspektive eines christlichen Weltbildes (falls es ein solches überhaupt geben sollte) überzeugen mag, sei dahingestellt – Menschen, die die entsprechenden weltanschaulichen Voraussetzungen nicht teilen, wird sie kaum beeindrucken. Damit wäre die christliche Ethik eine Sonderethik für eine durch einen weltanschaulichen Glauben verbundene Minderheit, die aber für die säkulare Mehrheit keine inspirierende Kraft (mehr) haben kann.

Nun könnte es aber sein, dass diese populäre Sichtweise die christliche Ethik unsachgemäß verkürzt. Nimmt man nämlich die christliche Religion im geistesgeschichtlichen Kontext ihrer Entstehung wahr, dann wird erkennbar, dass diese auf subtile Weise in einem Diskurs spricht, in dem gerade die Ethik des Sterbens eine große Rolle spielt, und dass sie dies tut, ohne dass ihr innovativer Beitrag zu diesem Diskurs von einem weltanschaulichen Überzeugungssystem abhängig wäre.

Um diesen Diskursbeitrag zu rekonstruieren sei zunächst an die philosophisch-ethische „Großwetterlage“ erinnert, in die das entstehende Christentum tritt: Die Philosophie der römischen Republik und der frühen römischen Kaiserzeit geht ohne wesentlichen Bruch aus den Diskursen hervor, die wir unter dem Namen der „hellenistischen“ Philosophie zu versammeln gewohnt sind. Bestimmende Grundentscheidungen für diese Philosophie sind zweierlei: erstens das Primat der Ethik vor der Metaphysik und zweitens die (an Aristoteles anschließende) Konzeption der Ethik als das Fragen nach dem individuellen Glück, der individuellen Eudaimonia. Das Leitmotiv aller drei großen hellenistischen „Systeme“ – der Epikureer, der Stoa und der Skepsis – ist dabei das Projekt, durch philosophische Reflexion ein Glück zu erreichen, welches von den äußeren Umständen des Lebens unabhängig ist.

Der Tod nach Epikur

Wenig überraschend, dass bei diesem Projekt auch der große „Stachel“ des menschlichen Glückes in den Blick gerät: die Erfahrung des Sterbens und des Todes. Hierbei hat vor allem die „Lösung“ Epikurs große Berühmtheit gewonnen: Der Tod, so Epikur, geht uns nichts an, denn in dem Moment, in dem er eintritt, sind wir bereits nicht mehr da, um an ihm zu leiden. Dieser Satz mag als logische Spielerei erscheinen, er korrespondiert aber mit einem in der hellenistisch-römischen Ethik tief verankerten Muster: der Überzeugung, dass die Furcht vor dem Tod (wie auch entsprechend die Trauer über den Tod eines nahen Angehörigen) ein „falscher“ Affekt sei und dass es ein wesentliches Kennzeichen des „Weisen“ sei, diesen Affekt überwunden zu haben.

Diese todesverachtende Haltung des Weisen gedanklich umkreisend verweist der späte, in Rom lehrende Stoiker Epiktet in seinen Lehrgesprächen an einer Stelle auf das Beispiel des Sokrates. Dieser, so erinnert uns Epiktet, habe im Anklagestand vor der Wahl gestanden, seine Lebensweise aufzugeben oder den Tod zu erleiden. In dieser Situation habe Sokrates nicht gewankt: Da ihm seine Lebensweise von den Göttern auferlegt worden sei, würde er auch bei ihr bleiben. Epiktet kommentiert: „Dies ist ein Mensch, der wahrhaft mit den Göttern verwandt ist.“ Wer mit den biblischen Evangelien bekannt ist, der mag bei der zitierten Formulierung Epiktets aufmerken und an die Worte des römischen Hauptmanns unter dem Kreuz denken. Besonders groß ist die Konsonanz im Markusevangelium. Dort reagiert der Hauptmann auf den Tod Jesu mit den Worten: „Wahrlich, dieser Mensch war ein Sohn Gottes.“ Nun sind die Lehrgespräche Epiktets gegenüber dem Markusevangelium der deutlich jüngere Text, zumal sie uns nur in einer Nachschrift seines Schülers Arian erhalten sind. Dennoch scheint Epiktet (der das Markusevangelium nicht gekannt haben wird) uns einen Diskurs zu bezeugen, in dem zum einen eine Verwandtschaft mit Gott beziehungsweise den Göttern zum Titel eines „Weisen“ werden konnte und in dem zum anderen „Weisheit“ eng mit einer vorbildhaften Haltung im Angesicht des eigenen Sterbens verbunden war.

Sterben wider das Ideal

Wenn das stimmt, dann fordern uns die Worte des Hauptmanns im Markusevangelium dazu auf, Jesu Sterben (auch) vor dem Hintergrund antiker populärphilosophischer Sterbeideale zu lesen. Tut man dies, dann fällt aber auf, dass das geschilderte Sterben diesen Idealen ganz und gar nicht entspricht. Zwar betet Jesus in Gethsemane: „Nicht was ich will, sondern was du willst!“ – eine Anerkennung des Unveränderlichen, zu der sich wiederum enge Parallelen auch bei Epiktet finden lassen. Entspricht der markinische Jesus dem stoischen Ideal hier noch seiner Rede nach, so weicht er in seinem Verhalten deutlich von diesem Ideal ab. In Gethsemane zeigt er sich von heftiger Todesfurcht bewegt, in der Schilderung der Kreuzigung lässt Markus keinen Zweifel daran, dass Jesus leidet. Am Ende stirbt er mit einem „lauten Schrei“.

Und dieses Sterben, dieses anti-stoische Sterben, kommentiert der Hauptmann mit den Worten: Dieser Mensch war ein Sohn Gottes, dieser Mensch war ein Weiser. Was ist dann die Pointe dieser Erzählung, was ist ihr „Twist“? Vielleicht könnte man die These wagen: Darin erscheint Jesus dem Hauptmann als weise, dass er den vergeblichen Versuch einer Ent-übelung des Todes aufgibt – „Ent-übelung“ hier in Anschluss an Odo Marquard verstanden als die denkerische Umwertung eines Übels, das nicht anders aus der Welt geschafft werden kann – und ihn als das nimmt, was er ist: ein Übel.

Für die Begleitung von Menschen mit Verlusterfahrungen gibt es eine Regel, die als grundlegend erscheint: die Regel, den erlittenen Schmerz nicht in Frage zu stellen, umzudeuten oder klein zu reden – das Übel also nicht vorschnell zu ent-übeln. Dieser Verzicht auf scheinbar tröstliche Umwertungen ist die Voraussetzung für jedes ernste Gespräch. Sie ist zudem die Voraussetzung dafür, diejenigen Sehnsüchte und Hoffnungen zu spüren, die im Verlust verletzt worden sind, die aber zugleich die tragenden Kräfte unseres Lebens sind. Eben diese wichtige Einsicht scheint im christlichen Einspruch gegen die hellenistisch-römische Ethik des Leidens seine bis heute klassische Gestalt gefunden zu haben.

Tod als kleineres Übel?

Der Tod geht uns – anders als Epikur formuliert hat – eben doch etwas an. Er ist die größte Infragestellung menschlicher Eudaimonia, denn er löscht uns als Subjekte jedes weiteren, möglichen Glückes aus. Daran muss, gegen eine neo-stoische Entproblematisierung des Sterbens, wie sie in der „Right-to-die“-Bewegung teilweise spürbar ist, durchaus erinnert werden. Damit soll nun kein Plädoyer für irgendeine rechtliche Regelung verbunden sein. Tatsächlich wird es immer wieder Situationen geben, in denen einem Menschen der Tod – gegenüber dem Leben, das er vor sich sieht – als das kleinere Übel erscheint. Aber eine Tendenz, die ein „selbstbestimmtes“ Sterben gegenüber einem Erleiden des Todes pauschal zum Ideal erhebt, erweckt den Verdacht, den Tod zu verharmlosen. Gegen diese Verharmlosung den Schmerz und die Traurigkeit zu artikulieren, kann ein Zeichen von Weisheit sein – und eben dies mag den Hauptmann unter dem Kreuz überzeugt haben. 

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David Borgardts

David Borgardts ist Pfarrer und Koordinator in der ambulanten Hospizarbeit in Köln. Zudem unterrichtet er als Lehrbeauftragter für theologische Ethik an der Universität Mainz.


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