Alles auf Null gesetzt

Von Männern, Kriegen und der ungerechten Wehrpflicht
Foto: privat

„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Ein Zettel mit diesem Satz hing jahrelang an einem Küchenschrank im Hause meiner Eltern. Meine Mutter war leidenschaftliche Friedensaktivistin und ging immer freitags zum Schweigekreis in die Fußgängerzone (später verlegte sie sich auf Hup-Demos für den Frieden vor Regierungsgebäuden). Als Kind hat mich dieser Satz fasziniert, weil es ein bisschen was von Schwänzen hatte: Die Pflicht ruft, und alle schwänzen – die Soldat*innen, die Mitarbeitenden in den Kasernen und im Verteidigungsministerium, die Arbeiter*innen in den Munitionsfabriken. Alle bleiben Zuhause, schmieren Brote für ihre Kinder und gießen die Blumen. Als Kind schien mir das eine ganz überzeugende Lösung zu sein: Für den Frieden muss man eigentlich gar nicht groß was machen, man bleibt einfach weg.

Heute lese ich den Satz natürlich genauer durch die Genderbrille: Keiner geht hin, d.h. kein Mann geht hin. Somit ist der Satz auch eine Kritik an der Diskriminierung von Männern, die aufgrund ihres Geschlechts gezwungen werden, Waffen in die Hand zu nehmen und im Falle eines Falles auch anzuwenden. Bis 2011 galt in der BRD: Wer das nicht wollte, musste verweigern (und damit eine mühevolle Prozedur der Gewissensprüfung über sich ergehen lassen) oder (bis zum Fall der Mauer) nach Westberlin ziehen oder ein Theologiestudium beginnen. Heute ist die Wehrpflicht (gemeint ist „natürlich“ die Wehrpflicht für Männer) nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt. Seltsam, wenn man bedenkt, dass die Gleichstellung der Geschlechter in den meisten gesellschaftlichen Bereichen zwar nicht umfänglich umgesetzt ist, aber doch angestrebt wird, und da, wo dies nicht geschieht, öffentliche Kritik erfolgt. Nicht so bei der Wehrpflicht: Ganz ohne Zweifel steht sie im Widerspruch zu der im Grundgesetz verankerten Gleichheit der Geschlechter. Das Bundesverfassungsgericht sieht es allerdings anders: 2002 beschied es, die Wehrpflicht für Männer sei mit dem Grundgesetz vereinbar und habe den gleichen Rang wie die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Wieso gab es in den zwanzig Jahren seit dieser Entscheidung keinen öffentlichen Protest gegen die vermeintliche Gleichrangigkeit von Geschlechtergerechtigkeit und offenkundiger Diskriminierung von Männern? Wo waren wir Feministinnen in all den Jahren?

Überkommene Rollenbilder

Vielleicht habe ich mich zu leicht der Illusion hingegeben, Krieg sei nur etwas für ferne Länder, dass in Deutschland so etwas nicht möglich sei und dass die Aussetzung der Wehrpflicht ihrer Abschaffung quasi gleichkäme, dass die Alarmstufe „Verteidigungsfall“, die der Bundestag beschließen müsste als Vorbedingung der Wiedereinsetzung der Wehrpflicht, ein rein theoretischer Zustand sei. Und mit all diesen Illusionen verband sich die stillschweigende Akzeptanz, dass der Krieg die scheinbar natürliche Grenze aller gleichstellungspolitischen Anstrengungen bildet. Der Krieg annulliert den Kampf gegen toxische Männlichkeiten und das Recht von Männern, gleichberechtigt Sorgearbeit für die Familie zu leisten. Der Krieg setzt alles auf Null und proklamiert: Männer zu den Waffen, Frauen zu den Kindern. Frauen fliehen und Männer bringen sich gegenseitig um.

Überkommene Rollenbilder feiern fröhliche Urständ und erfahren überdies Applaus in entsprechenden Szenen. Die rechtsgerichtete Organisation „Junge Alternative“ postete bei Facebook Anfang März: „Es ist interessant, wie empfänglich politmediale Eliten und Meinungsmacher der Bundesrepublik plötzlich für ausländischen Patriotismus, toxische Männlichkeit und Heroismus sind: Im Schützengraben gibt es keine 67 Geschlechter, keine Frauenquoten, keinen politisch-korrekten Wokism. Für all das wird dort nicht gekämpft.“ Genau, denn im Krieg geht es Größeres, um Nation und Vaterland und um Freiheit von allem Gender-Gaga.

Der Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit darf kein Handlungsfeld sein, das wir uns in Friedenszeiten leisten, um es im Krieg abzuschalten wie eine Kaffeemaschine. Eine feministische Friedenspolitik muss darauf dringen, dass das, was in der Innenpolitik gilt, auch in der Außenpolitik Gültigkeit hat. Für mich heißt das (unter anderem): Die Wehrpflicht für Männer ist abzuschaffen – wie auch für jedes weitere Geschlecht. Alles andere ist Gedöns.

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