Wie ein Zeuge vor Gericht

Philipp Schulz promoviert über die Lesung im Gottesdienst
Philipp Schulz
Foto: Nicky Hellfritzsch

Die Lesung im Gottesdienst gewinnt die ihr zustehende Bedeutung, wenn sie als „Rezitation“ verstanden und praktiziert wird. Diese These vertritt und untermauert Philipp Schulz (32) in seiner Doktorarbeit im Fach Praktische Theologie.

Das Grundstudium der Theologie verbrachte ich an der Berliner Humboldt­universität. Und schon früh war mein Thema die Sprache. Als Erasmus-Student wechselte ich für ein Jahr an die Universität Salerno, um Philosophie zu studieren. Ich hatte theo­logische Sprache oft als unscharf empfunden – wolkige Metaphern, die sich entzogen, wenn es konkret zu werden drohte. In Salerno beschäftigte ich mich mit der spanischen Philosophin Maria Zambrano (1904 – 1991), die sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Dichtung befasste hat. Durch ihr Verständnis von Dichtung fand ich Zugang zur theologischen Sprache und begann selbst, Lyrik zu schreiben.

Während ich das Studium in Berlin fortsetzte, wurde ich Vater und begann mich für das Vorlesen zu interessieren. Mit der Erzählerin Barbara Höllfritsch arbeitete ich zwei Jahre an meinem Vorlesen und setzte mich mit der Interpretation von Texten durch Sprechen auseinander. Ich erkannte, dass die lautsprachliche Interpretation eines Textes ebenso komplex und anspruchsvoll ist wie die metasprachliche Interpretation der klassischen Exegese.

Gegen Ende meines Studiums begeisterten mich Christian Lehnerts Essay Korinthische Brocken und dessen Sprache, die anders war als die, die ich bisher kennengelernt hatte. Über ihn kam es zur Verbindung mit Alexander Deeg. Bei ihm begann ich 2018 meine Doktorarbeit mit dem Titel Verbum Dei Recitatum. Über den Gebrauch der Heiligen Schrift in der gottesdienstlichen Lesung.

In der Vorarbeit stieß ich auf die Sprechwissenschaft und stellte fest, dass es zwischen ihr und der Theologie nur spärliche Verbindungen gibt. Das empfand ich als eklatante Lücke angesichts der großen Bedeutung, die das Sprechen für Theologie und Kirche hat. In einem ersten Schritt habe ich herausgearbeitet, was die Sprechwissenschaften zum Thema Vorlesen oder Textsprechen, wie es in der sprechwissenschaftlichen Begrifflichkeit heißt, sagen. Und ich bringe diese Erkenntnisse in den theologischen Diskurs um die Lesung ein.

Sprecherzieherinnen und Sprecherzieher arbeiten heute auch im Raum der Kirche, und ihre Methoden finden sich in den Praxisbüchern zur Lesung. Dabei bringen sie selbstverständlich ihr Verständnis von Sprechen und Lesen mit. In meiner Arbeit habe ich diese Voraussetzungen herausgearbeitet und mich theologisch mit ihnen auseinandergesetzt. Schließlich habe ich in Zusammenarbeit mit der Sprechwissenschaftlerin Gerlind Eschenhagen und im Dialog mit dem Denken George Steiners (1929 – 2020) einen Begriff der Lesung entwickelt, der als Grundlage gemeinsamer Arbeit von Sprecherziehung und Kirche dienen kann: die gottesdienstliche Schriftlesung als Übersetzung des biblischen Textes in das Leben. Wir veranstalten dazu in diesem Jahr ein Seminar im Atelier Sprache des Theologischen Zentrums Braunschweig, um die Chancen dieses Konzepts auch körperlich zu erkunden.

Im Laufe meiner Arbeit ist eine Frage immer präsenter geworden, auf die ich in der Theologie bisher nur wenig belastbare Antworten gefunden habe: Was ist die Lesung eigentlich? Auch in der kirchlichen Praxis wird diese Lücke deutlich. Zum Beispiel fehlt eine Berufungsagende für nicht-qualifizierte Lektorinnen und Lektoren, die die Aufgabe und Funktion des Lektorats reflektiert und bestimmt. An meiner eigenen Antwort auf die fundamentalliturgische Frage, Lesung als Übersetzung in das Leben, wurden mir mehr und mehr auch ihre Grenzen bewusst. Das veranlasste mich, einen Schritt zurückzutreten und mich erneut der Sprache zuzuwenden.

Die Lesung gebraucht Sprache in bestimmter Weise. Dabei bedienen sich eine ganze Reihe menschlicher Verhaltensweisen des Systems Sprache: Sprechen, Schreiben, Lesen, Denken und Singen. Für die Lesung ist charakteristisch, dass durch sie eine Transformation von geschriebener in gesprochene Sprache geschieht. Das gilt im Wesentlichen auch für die Sprachgebräuche des (Text-) Sprechens, (laut) Lesens und des Singens. Jeder dieser Gebräuche setzt aber jeweils andere Akzente. Historisch gesehen hat die Lesung zeitweise alle drei Formen gehabt. Und sie finden sich noch heute.

Während das Sprechen mich zur Lesung als Übersetzung geführt hat, bringen mich die Einsichten des Musikhistorikers Thrasybulos Georgiades (1907 – 1977) über das Singen zur musikalisch-ästhetischen Dimension der Lesung: Sie wechselt die Richtung weg von der Gemeinde und hin zu Gott. Lesung wird zu Lob, Doxologie. Auch das Lesen, wie es wesentlich im Mönchtum entwickelt wurde, wendet die Blickrichtung im Grunde zum Altar und in das Buch. Hier wird die Lesung zum Gebet, das durch den Text auf Gott ausrichtet. Alle drei Sprachgebräuche, Sprechen, Singen und Lesen, haben ihre Grenzen. Sie betonen jeweils andere Aspekte der Lesung und implizieren eine jeweils andere Haltung der Lektorin, des Lektors. Dennoch scheint mir die Lesung in keinem von ihnen restlos aufzugehen.

Die Überlegungen des emeritierten Bonner Systematikers Günter Bader haben mich schließlich zum offenen Fluchtpunkt meiner Arbeit geführt, einem vielleicht noch kaum bedachten Gebrauch von Sprache: Lesung als (Re)zitation. Könnte es sein, dass die Lesung die Heilige Schrift im Gottesdienst (re)zitiert und somit den Text aufruft, wie einen Zeugen im Gericht? Ein Zitat erlaubt uns ja, das Fremde ins Eigene zu integrieren, ohne es zu assimilieren. Könnte eine so verstandene Rezitation (Wiederaufrufung) eine Möglichkeit sein, die Fremdheit der Schrift zu bewahren und sie gleichzeitig durch die Stimme einer Lektorin, eines Lektors laut werden zu lassen, also ein stimmiges Verhältnis zwischen Aneignung und Fremdheit?

Der Diskurs der Lesung bewegt sich zwischen den Polen Verkündigung und Liturgie. Die einen betonen das Verstehen, den mitteilenden Aspekt der Lesung, die anderen den darstellenden Aspekt. Dabei gehören beide Aspekte zur Lesung wesentlich dazu. Möglicherweise ist Rezitation ein Begriff, der diese Binarität überwindet und Lesung aus sich selbst heraus versteht. Trotz all dieser theoretischen Überlegungen ist mein Blick stets auf die Praxis gerichtet. Oft scheinen derartige Gedanken abstrakt und drohen, die Grenzen der Machbarkeit im ehrenamtlichen Lektorat zu sprengen. Aber eine Klärung des Begriffs der Lesung ermöglicht, klar zu kommunizieren, was die Aufgabe der Lektorinnen und Lektoren ist, was unsere Erwartungen an sie sind und was auf der anderen Seite die Chance der Lesung ist. Wir brauchen das Ehrenamt im Gottesdienst, aber wir stärken es nicht dadurch, dass wir ihm Verantwortung abnehmen und Aufgaben zu Scheinaufgaben verkommen lassen, sondern indem wir ihm Verantwortung zutrauen. Das setzt aber voraus, dass wir selbst wissen, worin diese besteht, dass wir sie kommunizieren und nötige Unterstützung bereitstellen.

Die Lesung liegt zwischen Liturgie und Predigt und ist zugleich beides. In meiner Dissertation, die ich im Oktober abschließen möchte, suche ich nach einem Begriff, der die Lesung nicht von einer der beiden Seiten vereinnahmt, sondern ihrer Eigenart gerecht wird. Daraufhin war und ist meine Arbeit offene Suche. Aber ich ahne, dass die Lesung ganz entgegen ihrer leider manchmal lieblosen Praxis einer der zentralsten Vorgänge in der Kirche sein könnte – Verbum Dei Recitatum. 

 

Aufgezeichnet von Jürgen Wandel
 

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