Eine Kirche im Seuchenmodus

In Frankreich ist die katholische Kirche durch gleich mehrere Skandale erschüttert
Die Kirche im Dorf in „la France profonde“: Abendstimmung auf dem Land in der Nähe von Toulouse in Südwestfrankreich.
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Die Kirche im Dorf in „la France profonde“: Abendstimmung auf dem Land in der Nähe von Toulouse in Südwestfrankreich.

Erst der Brand von Notre-Dame 2019, dann ein niederschmetternder Missbrauchsbericht, schließlich ein heftiger Zank um die Alte Messe und der Fall des Pariser Erzbischofs: Die katholische Kirche Frankreichs, die „älteste Tochter“ der Kirche Roms, scheint derzeit kaum mehr ein Bein auf die Erde zu bekommen, analysiert Alexander Brüggemann, Ressortleiter Ausland bei der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Bonn.

Was denn noch alles, mögen sich die Katholiken in Frank­reich dieser Tage fragen – es war doch schon so arg zuletzt. Nicht nur, dass man die eigene Stimm- und Sprachlosigkeit im politisch-gesellschaftlichen Diskurs seit Jahren immer schmerzlicher fühlen musste: Das katholische Milieu gewinnt bei Familienthemen, Abtreibung oder Bioethik schon länger keine Abstimmungen mehr. Immer neue Hiobsbotschaften kamen hinzu.

Die katholische Kirche in Frankreich zählt zu den traditionsreichsten und geistesgeschichtlich wichtigsten in Europa. Marksteine sind die Taufe von Frankenkönig Chlodwig, die Reichskirche Karls des Großen („Charlemagne“), die großen Ordensbewegungen und das „Zeitalter der Kathedralen“; die Aufklärung. Zu Frankreichs Kulturerbe gehören ungezählte Klöster und Kathedralen von Weltrang. Die „älteste Tochter der Kirche“ nannten die Päpste Frankreich stolz. Doch die Revolution von 1789 war ein entscheidender Schlag, ja eine Art Genickbruch.

Staat und Kirche sind seit 1905 getrennt. Laizismus (oder Laizität) ist der Fachbegriff, strikte ideologische Distanz die gesellschaftliche Realität. Zwar bezeichnet sich heute immer noch jeder zweite der etwa 67 Millionen Einwohner Frankreichs als katholisch. Doch selbst katholische Medien beziffern die „Praktizierenden“ zuletzt auf nur noch zwei Prozent der Bevölkerung. Auch die Zahl der Priester und Ordensleute ist stark rückläufig. Dafür sind gerade in Frankreich rechtskatholische, traditionalistische Strömungen vergleichsweise stark vertreten. Nach der Verstaatlichung ihres Eigentums im Zuge der Revolution finanziert sich die Kirche heute allein durch Spenden; Kirchensteuern gibt es nicht. Priester und Bischöfe bekommen monatlich rund 950 Euro. Allerdings kommen viele der Bischöfe eher aus großbürgerlichen oder bürgerlichen Elternhäusern. Da ist finanziell oft noch was „im Hintergrund“. Das erklärt auch, warum manche tatsächlich „aus dem Privatvermögen“ in den Entschädigungsfonds einzahlen. Und gerade in ländlichen Gebieten gibt es die alte Praxis, dem Herrn Pfarrer eine Stiege Eier oder ein Huhn vorbeizubringen. Zumeist wird auch das Pfarrhaus gestellt. Übrigens obliegt der Unterhalt von Kirchengebäuden, die vor 1905 errichtet wurden, dem Staat; Neubauten sind selbst zu finanzieren. Nach wie vor sehr aktiv ist die Kirche in Schulen, Bildung und Medien. So weit der Befund einer vergangenen Herrlichkeit und einer womöglich ausbaufähigen Gegenwart. Doch die Kirche in Frankreich befindet sich, wie auch in anderen Ländern des „Alten Europa“, seit Jahren in einer Art Seuchenmodus: Skandale, die Erosion einer verfassten Gesellschaft, die Corona-Krise – viele Klöster, Kirchen und Tagungshäuser verloren dadurch dringend benötigte Einnahmen –, es gibt Phänomene wie antichristlicher Vandalismus und islamistischer Terror. Letzterer schlägt bei der heute multikulturell geprägten früheren Kolonialmacht noch härter zu. Erst kürzlich fand der Prozess um die so willkürliche wie brutale Ermordung des alten Gemeindepriesters Jacques Hamel durch zwei junge Islamisten im Sommer 2016 statt.

Katholisches Killervirus

Von allen schädlichen Faktoren ganz vorn zu nennen ist das katholische Killervirus schlechthin: sexueller Missbrauch durch Priester und Kirchenmitarbeiter. Der „Primas Galliens“ und Lyoner Kardinal Philippe Barbarin musste sich über mehrere Jahre und Instanzen weltlichen Prozessen wegen Vertuschung stellen. Am Ende stand 2020 ein Freispruch – und dennoch der Amtsverzicht. In einem so hohen Amt mit moralischem Anspruch ist Vertrauen das wichtigste Kapital.

2021 wurde dann sogar ein noch schlimmeres Jahr. Im Herbst legte eine unabhängige Expertenkommission („Ciase“) eine umfassende Missbrauchsstudie mit verheerenden Hochrechnungen von Opferzahlen und einem weitreichenden Forderungskatalog für strukturelle Veränderungen in der Kirche vor. Eine öffentliche Demütigung, gegen die ein konservativer Teil des intellektuellen Katholizismus entschieden aufbegehrte. Der „Ciase-Bericht“ sandte eine Schockwelle durch das Land. Auf 216 000 schätzt die Kommission die Zahl minderjähriger Opfer sexueller Übergriffe durch Priester, Diakone und Ordensleute in Frankreich seit 1950. Nimmt man Laien und Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen, Pfarreien und Katechese hinzu, kommt sie sogar auf geschätzt 330 000 Opfer. Diese Zahlen wären um ein Vielfaches höher als die in anderen Ländern ermittelten. Allerdings handelt es sich nicht um aktenkundige Verdachtsfälle, sondern um „Hochrechnungen auf sexualwissenschaftlicher Basis“. So wurden etwa der Zugang von Lehrern zu minderjährigen Schülern über viele Jahre und die statistische Häufigkeit von Taten pro einschlägigem Täter eingerechnet; das Ergebnis ist eine sogenannte Dunkelfeldstudie.

Der Vertrauensverlust ist immens. Die Bischöfe ringen um einen Neuanfang und kratzen Geld zusammen für einen Hilfs- und Entschädigungsfonds. Immobilien werden verkauft, Bischöfe spenden aus ihrem Privatvermögen zu. Von außen – aus dem Vatikan – und eigentlich doch von innen kam ein weiterer Spaltpilz ins Haus. Seit jeher ist Frankreich eine Hochburg des katholischen Traditionalismus. Die oft großbürgerlichen Anhänger der vorkonziliaren Liturgie haben in ihrer Kirche ohne Kirchensteuer häufig schon rein finanziell Gewicht. Das Papstdokument „Traditionis custodes“ (Die Wächter der Tradition) vom Juli 2021, mit dem Franziskus der sogenannten Alten Messe – dem Ritus vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) – eine klare Absage erteilte, sorgte daher für viel Unmut und Proteste. Zu den ersten Bischöfen, die ihre örtliche Umsetzung zu dem Papstschreiben veröffentlichten, gehörte der Pariser Erzbischof Michel Aupetit. Er verminderte die Zahl der Pariser Kirchen, in denen die Alte Messe noch gefeiert werden darf, von zwölf auf fünf. Und um nämlichen Pariser Erzbischof drehte sich dann der jüngste Kirchenskandal – und zwar so schnell, dass sich Beobachter nur verwundert die Augen rieben. Aupetit bot dem Papst seinen Amtsverzicht an – und der nahm ihn fast umgehend an. Was war geschehen? Schon länger soll es im Hauptstadterzbistum gebrodelt haben. Aupetit (70), ein langjähriger Arzt und kirchlicher Quereinsteiger, regiere unbarmherzig durch, berichteten französische Medien. Manche seiner Maßnahmen sorgten in „bestimmten Kirchenkreisen“ für böses Blut, hieß es. Unter dem Titel „Aupetits Geheimnisse“ trug das Magazin Le Point dann im November alles zusammen und fügte eine neue Komponente hinzu. Der Erzbischof habe als Generalvikar 2012 eine „unangemessene Beziehung“ zu einer erwachsenen Frau unterhalten. Aupetit erklärte, eine Beziehung habe es definitiv nicht gegeben; doch sein Verhalten damals könne als „mehrdeutig“ interpretiert werden. Gleichwohl bot er dem Papst seinen Rücktritt an, um Schaden vom Bistum fernzuhalten. Später sprach er von „einer Intrige“ aus einer bestimmten kirchenpolitischen Richtung. Heißt übersetzt wohl: eine Retourkutsche der Traditionalisten.

Eine regelrechte Erledigung

Immerhin: Aupetits furiose Abschiedspredigt in der Kirche Saint-Sulpice wurde gefeiert und mehrfach von Beifall unterbrochen. Vielleicht ein Hoffnungszeichen, das den Wappenspruch von Paris widerspiegelt: „Fluctuat nec mergitur“ („Sie schwankt, aber sie geht nicht unter“). Der Erzbischof erklärte inzwischen, er wolle sich künftig verstärkt um kirchliche Initiativen für Jugendliche in sozialen Brennpunkten und um Menschen in schwierigen Lebenssituationen kümmern.

Der Sturz, ja die regelrechte Erledigung Aupetits macht Spaltungen innerhalb des französischen Katholizismus deutlich. In diesem Zusammenhang lohnt – auch mit Blick auf die Präsidentenwahlen im April – ein Blick auf eine breit angelegte soziologische Studie von Anfang 2017, die wohl, mutatis mutandis, immer noch Bestand haben dürfte. Sie unterscheidet in Frankreich sechs Typen aktiver Katholiken und gibt einen guten Einblick in den Charakter der dortigen katholischen Kirche: Der meistvertretene ist demnach der „Heiligabend-Christ“ oder Kulturkatholik. Er geht an den Eckpunkten des Kirchenjahres oder zu Familienfeiern – Hochzeit, Taufe, Beisetzung – in die Kirche. Er zündet eine Kerze an, spendet für Karitatives, mag Kirchenmusik, Traditionen und Brauchtum wie Krippen, Geläut und die lateinische Messe, doch hält ansonsten eine gewisse Distanz zu Theologie und Glaube. Misstrauisch gegenüber Papst Franziskus, ist der Kulturkatholik auch kritisch gegen Migranten. Von den sechs Typen am häufigsten wählt er rechtspopulistisch. Der zweithäufigste Typus ist der „Teilzeitverbrüderte“. Für ihn zählt an Jesus weniger die theologische Person als seine Haltungen: Großzügigkeit, Gastfreundschaft und Offenheit für andere. Für sein geistliches Leben zählen vor allem Solidaritätsaktionen und Weitergabe des Glaubens, wie er ihn selbst von den Eltern gelernt hat. Kirchgang nur an höchsten Feiertagen. Hoch im Kurs stehen wohltätige Spenden. Als Anhänger von Papst Franziskus und Abbé Pierre wählt der „Teilzeitverbrüderte“ links bis bürgerlich, steht auf der Seite von Migranten und lehnt Rechtspopulismus ab. Dritter Typ ist der „Konzilskatholik“. Er lehnt alle „Theologien der kleinen Herde“, Vorschriften, Rechthaberei, Purismus und lateinische Messe ab. Er wünscht sich eine Kirche der Barmherzigkeit und Gemeinschaft mit der Welt. Seine biblischen Szenen sind die Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin und das Mahl mit dem Zöllner Zachäus. Der „Konzilskatholik“ ist fleißiger Kirchgänger und Pilger. Er engagiert sich stark im Gemeindeleben, karitativ und für die Familie und unterstützt vorbehaltlos Papst Franziskus. Überproportional oft wählt er links, ist aber auch in anderen Parteien anzutreffen.

Eine kleinere Gruppe sind die „Gehorsamen“. Für sie ist Christus vor allem der am Kreuz getötete Sohn Gottes. Streben nach Heiligkeit und Askese dient dem Ziel, sich Gottes Gnade würdig zu erweisen. Er hält eine gewisse Distanz zur Welt und hängt an der Schönheit der Liturgie. Auch die „Gehorsamen“ sind eifrige Pilger und Messbesucher, am liebsten auf Latein. In ihrem Glaubensleben spielen Gebet in der Familie, Privatschule und Pfadfindertum eine Rolle; häufig bestehen Kontakte zu Neuen Geistlichen Gemeinschaften. Sie leben im Bewusstsein einer Minderheit, die die Tradition hochhält, wählen rechtsbürgerlich oder -populistisch und sehen Zuwanderung und den Kurs des Papstes kritisch. Typ fünf sind die „Begeisterten“. Mental verwandt mit den „Gehorsamen“, haben sie häufig ein Bekehrungserlebnis gehabt und fühlen sich in stetigem Dialog mit Christus. Ihr spiritueller Ort sind weniger Pfarreien als charismatische Gemeinschaften und Gebetsgruppen. Politisch sind sie am ehesten im bürgerlichen Spektrum zu verorten. Die sechste Gruppe sind die „Emanzipierten“. Sie sehen in Christus den Befreier des Menschen und Protagonisten von Nächstenliebe. Katholisch zu sein, bedeutet für sie volle Verantwortung für ihr Leben und ihre Taten. Sie kritisieren eine Fixierung der Kirche auf die (Sexual-)Moral und wählen Mitte-links. Die eigene Spiritualität besteht im Kampf gegen Ungerechtigkeit und für die Umwelt, in persönlicher Bibellektüre sowie in Auszeiten im Kloster oder in Taizé. Der Sonntagsgottesdienst gilt ihnen eher als abgehängt von der gesellschaftlichen Realität. Papst Franziskus geht ihnen nicht weit genug.

Glaube in der Minderheit

Generell kann man sagen, dass der Glaube jenseits des Rheins an Boden verliert, wie repräsentative Umfragen von Frankreichs führendem Meinungsforschungsinstitut Ifop zum Thema Religiosität ergaben: Die über 65-Jährigen bleiben zwar die wichtigste Gruppe unter den Gläubigen. Aber gefragt „Glaubst du an Gott?“ war ein Ja erstmals überhaupt in der Minderheit. Von rund 1 000 Befragten über 18 Jahren glauben den Umfragen zufolge nur noch 49 Prozent an Gott, und das alle Religionen zusammengenommen. 2011 waren es noch 56 und 1947 noch 66 Prozent.

Angesichts solcher Zahlen wirkt der Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame 2019 in der Rückschau wie ein Menetekel. Und er sorgte auch nicht, wie zunächst mitunter heraufbeschworen, für eine „Rückkehr des Glaubens“: Die Franzosen scharten sich nicht wirklich um ihre historische Hochburg des Christentums. Aber immerhin: Präsident Emmanuel Macron treibt die symbolträchtige Restaurierung voran, während die Kirche bei ihren Entwürfen für die Innengestaltung der Kathedrale um eine Verheutigung der christlichen Botschaft ringt. Das darf als ein Hoffnungszeichen gelesen werden; es gibt auch heute noch einige Neubauten von Kirchen, in den Trabantenstädten und sogar auf dem Land. Es ist nach wie vor missionarisches Potenzial vorhanden, auch unter Jugendlichen. Dennoch: Die Lage der katholischen Kirche in Frankreich ist ernst. Ist das Glas halb voll oder halb leer in diesem Land mit so großer christlicher Tradition? 

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