Leider keine Friedenskraft
Große Empörung herrscht vielerorts über die Haltung der Russisch-Orthodoxen Kirche zum Überfall auf die Ukraine. Was sind die Hintergründe dieser Position? Und wie ist das Verhältnis der verschiedenen orthodoxen Kirchen zueinander? Die Theologin Regina Elsner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin, gibt einen Überblick und beschreibt die jüngsten Entwicklungen.
Am 21. Februar 2022 machte der russische Präsident Wladimir Putin unmissverständlich klar, was viele Kenner:innen der Region seit Monaten befürchteten: Er würde die Ukraine mit Waffengewalt einnehmen. Dies begründete er in seiner Ansprache unter anderem damit, dass die ukrainische Regierung russischsprachige und russisch-orthodoxe Menschen systematisch verfolgen und unterdrücken würde. Putin vereinnahmte damit orthodoxe Gläubige in der Ukraine für sein Narrativ der vom Westen bedrohten russischen Einflusssphäre. Warum spielt Religion in diesem Krieg eine so wichtige Rolle? Und warum ist mit einer friedenstiftenden Rolle der Orthodoxie in diesem Krieg nicht zu rechnen?
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat sowohl eine sicherheitspolitische und wirtschaftliche Vorgeschichte als auch eine ideologische, und in dieser spielt die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) eine entscheidende Rolle. Nach dem Ende der Sowjetunion konnte die ROK nach Jahrzehnten der staatlichen Verfolgung und Unterdrückung ihr religiöses Leben neu entfalten und auch erneut zu einer wichtigen gesellschaftlichen Stimme wachsen. Der Staat war ebenfalls an Kooperationen interessiert, da die Kirche Werte und eine Geschichte repräsentierte, die den Menschen und dem Staat eine neue Identität verleihen konnten.
Seit der ersten Amtszeit Wladimir Putins hat sich diese enge Zusammenarbeit von politischer und kirchlicher Führung verstärkt. Im Zentrum dieser neuen Nähe stand die kirchliche Legitimierung von staatlichen Einschränkungen gesellschaftlicher Vielfalt und Weltoffenheit auf der Grundlage einer Vorstellung des Kampfes gegen äußere Kräfte des Bösen. Dazu gehörte auch eine intensive Kooperation mit den russischen Streitkräften, die als effektive Abschreckung der Kräfte des Bösen durch die Kirche gesegnet wurden. Die Zivilgesellschaft jedoch, die seit 2012 unter wachsenden Druck geriet, wurde durch die ROK nie als gleichwertiger Partner für die Gestaltung der Gesellschaft akzeptiert.
„Russische Welt“
Unter anderem aus der Feder des heutigen Patriarchen Kyrill (Gundaev), von 1989 bis 2009 Leiter des kirchlichen Außenamtes, stammt das Konzept der sogenannten „Russischen Welt“, also eines zivilisatorischen Raumes, der durch die russische Sprache, den russisch-orthodoxen Glauben und bestimmte traditionelle Werte geprägt sei. Dieses Konzept war immer vage in seiner geographischen Dimension. Es sollte ausdrücklich transnational sein und Menschen auf der ganzen Welt einschließen, die sich mit diesen Werten identifizierten. Gleichzeitig betraf es ein sehr konkretes Territorium, nämlich die Länder Ukraine, Belarus und die Russische Föderation als Kerngebiet der historischen Rus.
Die Taufe der Rus, in Chroniken auf das Jahr 988 datiert, stellt den Ursprung des orthodoxen Christentums in dieser Region dar und wird von der russischen Orthodoxie als Gründungsdatum definiert. Diese Taufe fand in der Nähe von Kiew statt, so dass die ROK bis heute ihr geistliches Zentrum mit Kiew verbindet. Als die Ukraine 1991 die Unabhängigkeit erlangte, stellte diese geistliche Verbindung ein Problem dar, denn viele orthodoxe Gläubige verlangten auch nach einer kirchlichen Unabhängigkeit von Moskau. Das Moskauer Patriarchat konnte dieser Unabhängigkeit jedoch nicht zustimmen: Die Kirche hätte nicht nur ein Drittel ihrer Mitglieder verloren, sondern auch Deutungshoheit über ihren eigenen Gründungsmythos. In der Ukraine entstand darum 1992 eine Abspaltung, die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats, eine nationale Kirche ohne kanonische Anerkennung von irgendeiner anderen Kirche in der Welt. Die zu Moskau gehörende Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) blieb die größte Religionsgemeinschaft des Landes.
Die Frage der Zugehörigkeit der Ukraine zur „Russischen Welt“ wurde in der Geschichte der unabhängigen Ukraine immer dann zu einem Problem, wenn die ukrainische Gesellschaft Schritte zu einer größeren europäischen Integration ging. So auch bei der „Revolution der Würde“ 2013/14, die in der ROK als vom liberalen Westen gelenkte Revolution gegen die traditionellen Kräfte in der Ukraine gedeutet wurde. Die UOK wurde vom Moskauer Patriarchat rhetorisch als Vorhut im geistlichen Kampf um das Erbe der Rus und gegen die liberalen Werte des Westens dargestellt. Als Russland im Frühjahr 2014 die Halbinsel Krim annektierte und im Osten der Ukraine separatistische Gruppen unterstützte, äußerte sich die ROK zu diesen Ereignissen in keiner Weise.
Die UOK geriet in eine schwierige Lage, sie wollte zum einen der Kirchenleitung in Moskau nicht widersprechen, gleichzeitig erwartete die ukrainische Gesellschaft von ihr eine klare Positionierung zur ukrainischen Souveränität. Die unentschlossene Haltung des Metropoliten Onufryi und die klar pro-russische Position einiger Bischöfe führte in den folgenden Jahren zu starken Spannungen innerhalb der ukrainischen Orthodoxie.
Im Herbst 2018 führte die Anerkennung einer unabhängigen Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) zur Eskalation der kirchlichen Lage. Das Patriarchat von Moskau protestierte gegen den Eingriff des Ökumenischen Patriarchen in „sein“ Territorium und brach die kirchliche Gemeinschaft mit den orthodoxen Kirchen, die diese neue Kirche anerkannten (vergleiche zz 3/2019 und 1/2020).
Die zu Moskau gehörige UOK wurde in der Ukraine gesellschaftlich als russischer Agent gebrandmarkt, gemeinsam mit der ROK eröffnete sie eine Kampagne über die angebliche staatliche Verfolgung ihrer Gläubigen. Sie dokumentierten akribisch die Ereignisse gewaltsamer Übergriffe auf Kirchen und bestimmter fragwürdiger Gesetzesvorhaben gegen die Kirche, obwohl diese Einzelfälle blieben und oft auf lokalen Vandalismus zurückzuführen waren. Die UOK isolierte sich in der ukrainischen Gesellschaft zunehmend und verlor in vielen wichtigen gesellschaftlichen Debatten, etwa beim Kampf gegen häusliche Gewalt oder bei Initiativen zu einer ökumenischen Friedensethik, ihre Stimme.
Weltweiter Kampf
Nach Kriegsbeginn am 24. Februar erscheint diese Kampagne über die Dokumentation staatlicher Verfolgung orthodoxer Christ:innen durch das Moskauer Patriarchat als geplanter Vorspann des Krieges. Bereits 2018/19 hatte die politische Führung in Moskau bei einer Sitzung des Sicherheitsrates signalisiert, dass eine Bedrohung der orthodoxen Gläubigen des Moskauer Patriarchats Grundlage eines Eingreifens Russland in der Ukraine sein könnte. Die ROK intensivierte ihren weltweiten Kampf für verfolgte Christen und positionierte sich in internationalen und ökumenischen Gremien als einzig zuverlässiger Partner dieser verfolgten Kirchen. Auch die militärische Intervention Russlands in Syrien wurde von der ROK als „heiliger Kampf“ gelobt und unterstützt, und die Aktivitäten Russlands auf dem afrikanischen Kontinent folgen ebenfalls dieser Logik.
So fadenscheinig das Argument in der Kriegsbegründung Putins auch erscheint, es sichert und unterstreicht in erster Linie die Unterstützung der ROK für diesen Krieg. Die Tatsache, dass seit dem 24. Februar Menschen aller Konfessionen, Religionen, Sprachen und Nationalität durch russische Waffen sterben und vertrieben werden, wäre der letzte Moment gewesen, um einen deutlichen Protest der ROK zu erwarten. Er blieb jedoch aus, trotz der Hilferufe der UOK und vieler anderer Religionsvertreter weltweit. Die Verstrickung der ROK in die kriegstreibende Ideologie Putins macht es unmöglich, mit ihr als Teil einer friedlichen Lösung zu rechnen. Sie schützt weder ihre eigenen Gläubigen in der Ukraine noch diejenigen in Russland, die sich öffentlich gegen den Krieg äußern und durch den Staat unterdrückt werden.
Die Hoffnungen auf ein Machtwort des Moskauer Patriarchen gegen den Krieg starb in den westlichen Kirchen, aber auch in der Ukraine spätestens in der zweiten Kriegswoche. Als die Schreckensbilder zerstörter Wohnhäuser, städtischer Infrastruktur und von Millionen Flüchtlingen und Menschen in Luftschutzkellern durch die Welt gingen, schwieg der Moskauer Patriarch. Auf den Homepages der Kirchenleitung fehlen bis heute Bilder der zerstörten Städte und Kirchen, auch die deutlich anderslautenden Worte der zu Moskau gehörenden Kirchenleitung in Kiew werden nicht wiedergegeben.
Mit dem Beginn der orthodoxen Fastenzeit am 6. März eröffnete Patriarch Kyrill eine Reihe von Predigten, die offen die Kriegshandlungen Russlands als Verteidigung der Ukraine gegen Provokationen des Westens darstellen. In seinen Predigten wird die zu Moskau gehörende UOK entgegen ihren eigenen Verlautbarungen (!) vereinnahmt als „Leidende für den eigenen Glauben“. Die Kämpfe in der Ukraine werden als apokalyptischer, metaphysischer Kampf um die Ukraine, zwischen den guten und bösen Mächten der Welt beschrieben. Damit setzt Patriarch Kyrill die Rhetorik der Kulturkriege ein, die auch bei ultra-konservativen Akteuren in Westeuropa und in den USA große Sympathien genießt.
Keine pastorale Hilfe
In der Ukraine hingegen wurden das Schweigen des Patriarchen und seine seit 6. März offene Unterstützung des Krieges mit Fassungslosigkeit aufgenommen. Metropolit Onufryi, eigentlich bekannt für seine politische Zurückhaltung und Nähe zu Moskau, verurteilte den Krieg am zweiten Tag als „Sünde Kains, der seinen Bruder aus Neid ermordete.“ Während der Patriarch das Bild der Brüder instrumentalisierte, um den Krieg zu rechtfertigen, forderten seine ukrainischen Bischöfe mit demselben Bild ein sofortiges Ende des sinnlosen Mordens. Das Ausbleiben einer pastoralen Unterstützung der eigenen Kirche durch den Patriarchen ist gleichbedeutend mit einer Verweigerung, Verantwortung für diese zu übernehmen. Zahlreiche Bischöfe und Priester reagierten darauf mit dem Aussetzen der Nennung des Patriarchen in der Liturgie. Auch wenn dies keine kirchenrechtlichen Folgen hat, solange der Metropolit selbst den Patriarchen kommemoriert, ist es doch ein starkes Zeichen innerkirchlichen Widerstands, der in der orthodoxen Kirche keine Tradition hat. Patriarch Kyrill warf diesen Priestern Feigheit und Untreue vor.
Auch eine Annäherung der zum Moskauer Patriarchat gehörenden Kirche an die seit 2019 unabhängige Orthodoxe Kirche ist zu beobachten. Es gibt erste Berichte von Übertritten zu der OKU. Der Ökumenische Patriarch Bartholomäus I. hat zugestimmt, dass jeder Priester in der Liturgie ohne weitere kirchenrechtliche Schritte ihn als Patriarch kommemorieren kann, um so die Gültigkeit der Liturgie zu sichern. Dennoch gibt es nach wie vor Spannungen zwischen den beiden orthodoxen Kirchen, das gegenseitige Misstrauen und die Anschuldigungen der vergangenen Jahre wiegen schwer. Sowohl Provokationen rund um Kirchen der UOK, die vereinzelten Vorwürfe, russische Soldaten in Klöstern zu beherbergen, als auch rechtswidrige Verbote der Tätigkeit der UOK wie in einer Gemeinde im Gebiet Lwiw zeigen, dass die Lage rund um Kirchen in diesem Krieg äußerst fragil ist. Die UOK steht fraglos in der Gefahr, zwischen den Interessen Moskaus und der eigenen ukrainischen Identität zerrieben zu werden.
Gegen den Krieg geäußert
Diese innerorthodoxen Auseinandersetzungen haben bereits jetzt internationale Auswirkungen. Eine traditionsreiche Gemeinde der ROK in Amsterdam hat sich dem Ökumenischen Patriarchat unterstellt, nachdem der Druck durch die russische Botschaft und die Moskauer Kirchenleitung als Gefahr für die Gläubigen eingeschätzt worden war – die Gemeindeleitung hatte sich klar gegen den Krieg geäußert. Innerorthodox stellt sich erneut die Frage nach dem Umgang mit destruktiven politischen Orthodoxien und kanonischen Instrumenten unter den gleichberechtigten unabhängigen Kirchen. In ökumenischen Kreisen wird diskutiert, wie man die bisherigen Ergebnisse im Gespräch mit der ROK bewerten soll und vor allem wie ein Dialog weiterhin möglich sein kann, nachdem die Kirchenleitung offen einen Angriffskrieg unterstützt. Schließlich mahnen Theolog:innen dringend, zum einen der christlichen Friedensethik wieder größere Aufmerksamkeit zu schenken, zum anderen aber auch die Verstrickung aller Kirchen in den Diskurs über traditionelle und illiberale Werte neu zu bewerten. Bisher herrscht jedoch eine theologische Schockstarre angesichts der Tatsache, dass eine der größten christlichen Kirchen der Welt kompromisslos als Instrument des Krieges gegen die eigenen Gläubigen handelt und dafür das Gebet um Frieden missbraucht.
Regina Elsner
Dr. Regina Elsner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin.