„Jüdisch? Preußisch? Oder was?“

Das westfälische Minden zeigt eine Ausstellung über Juden in der preußischen Geschichte
Bereit zur Stuhlmitnahme? Ein Blick in die Ausstellung in Minden.
Foto: Angelika Hornig
Bereit zur Stuhlmitnahme? Ein Blick in die Ausstellung in Minden.

Im ersten Obergeschoss der Ausstellung „Jüdisch? Preußisch? Oder was?“ leuchten digitale Spruchbänder an der Wand, ein Sammelsurium weißer Sitzgelegenheiten lädt im Preußen-Museum Minden ein: „Nehmen Sie sich einen Stuhl, er wird Sie durch die Ausstellung begleiten.“ Vielleicht kann man ihn brauchen? Auf der weiten, 650 Quadratmeter großen Ausstellungsfläche, die über einen langen Flur in zehn Stationen führt, sind ebenso viele Themenbereichen untergebracht, gekennzeichnet durch unterschiedliche Farben und Lichteffekte. Auf geht’s.

Ankommen – der Blick wandert in eine Szene aus dem Jahr 1771, in der Moses Mendelssohn, der Wegbereiter jüdischer Aufklärung, an einem preußischen Stadttor kontrolliert wird. Mit gezogenem Hut erweist ihm ein Offizier Respekt, es gilt das Toleranzprinzip. Wie weit das reicht? Bettelnde Juden, so erfährt man, dürfen nicht passieren. Geld muss im Säckel sein.

Neben orthodoxen etablieren sich immer mehr reformierte jüdische Gemeinden in Preußen. Unter dem Stichwort Beten begegnen uns Reformer wie Louis Lewandowski, der Chorleiter der neuen Berliner Synagoge, denn Orgel und Musik halten hier Einzug. Interessant eine alte Bildertafel, die jüdische Zeremonien vom Laubhüttenfest bis zur Beschneidung abbildet, aber auch antijüdische Vorurteile über „Wexel-Juden“ und Händler. Verspotten ist ein Thema, das man nicht ausblenden kann. Und nun, in einer Kaserne, der blaue Uniformrock des Mindener Juden Sally Strauss, Zeugnis dafür, dass Juden im 19. Jahrhundert der Armee beitreten können. Doch ist zu erfahren, dass nur wenigen der erhoffte Aufstieg in einen Offiziersrang oder den Beamtenstatus gelingt, obwohl nun nicht mehr Herkunft entscheiden soll, sondern Bildung. Von hohem Niveau sind die meisten Schulen der jüdischen Gemeinden, erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts dürfen jüdische Kinder auch staatliche Schulen besuchen und haben damit deutlich bessere Aufstiegschancen. Im preußischen Minden werden Juden schließlich Mitglieder im Stadtrat und erfolgreiche Kaufleute.

Das neue Selbstbewusstsein fördert die Salonkultur; berühmte Salonièren im großen Berlin, wie Rahel Varnhagen oder Amalie Beer, kämpfen für die Freiheit der Worte. In den Salons gibt es zum ersten Mal den Austausch zwischen den Geschlechtern und Konfessionen, zwischen Adel, Bürgertum und Künstlern. Ein runder Tisch lädt den Besucher im Museum ein: „Nehmen Sie Platz, diskutieren Sie mit! Ideen und Fragen sind willkommen.“ Derweil ist nebenan eine Frauenstimme zu hören. Fanny Hensel, Komponistin und Schwester von Felix Mendelssohn-Bartholdy, erhält in einem Raum Stimme und Gesicht mit Projektionen, die über die Wände laufen und ihr kurzes Leben erzählen. Ihre Geschichte ist wie die vieler preußischer Juden auch eine Geschichte von dem Wunsch nach Anerkennung und sozialem Aufstieg. Um das zu fördern, steht für einige die Konversion zur Debatte, was oft zu heftigen Kontroversen innerhalb der Familien führt, wie Schriftstücke beweisen.

Schriftstücke. Verwaltung. Ein großes Thema in Preußen, das bald erstickt in Gesetzen, Verordnungen und speziellen Judenedikten. Aktenregale und Tische, zum Glück hat man noch den weißen Stuhl dabei, laden zum Stöbern ein.

Es gibt Einblicke in Positionen und Debatten preußischer Administration und jüdischer Philosophen, Aufklärer und Gelehrter, Debatten, die sich bis in die heutige Gesellschaft ziehen. Was nimmt der Besucher mit? Ein Basiswissen zum Judentum, Namen, die man nun zuordnen kann. Den Stuhl jedoch nicht, der landet, preußisch korrekt, wieder am Ausgangspunkt. 

 

Die Ausstellung ist ein Projekt zum Themenjahr 2021 – Jüdisches Leben in Deutschland und noch bis September 2022 am Simeonsplatz 12, 32427 Minden, zu sehen. Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, 

www.jp-pmm.lwl.org/

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