Mit langem Atem

Ein Streifzug durch die Geschichte des Begriffs „Spiritualität“
Atem
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Was genau verstehen wir unter Spiritualität? Die Antwort auf diese Frage ist vielschichtig, weiß Karl Baier, außerordentlicher Universitätsprofessor im Ruhestand am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien. Schon allein ein Blick in die Bedeutungsgeschichte zeigt, wie unterschiedlich der Begriff im Laufe der Jahrhunderte gefüllt wurde.

Wer der Entstehung und den Wandlungen des Begriffs Spiritualität nachgeht, den erwartet eine lange, verzwickte Route durch die Religionsgeschichte, von der an dieser Stelle nur wenige Stationen angedeutet werden können. Es macht Sinn, dieses Unterfangen mit der Anrufung der hebräischen ruach beginnen zu lassen. Sie wird den nötigen Fahrtwind und langen Atem nicht versagen. Ruach kann sowohl auf die Natur als auch auf den Menschen und auch auf Gott bezogen werden. Ihrer Grundbedeutung nach Atem oder Wind steht sie auch für Gemütszustände und Haltungen, die auf andere abzufärben vermögen. In jüngeren Texten des Tanach wird vereinzelt vom Atem Gottes als ruach ha-qodesh, „Atem der Heiligkeit“, gesprochen, was in neutestamentlichen Aussagen über das pneuma hagion, den „Heiligen Geist“, eine Fortsetzung findet. Das griechische pneuma wurde später mit dem Ausdruck spiritus ins Lateinische übersetzt, der die Wurzel des Lehnworts Spiritualität bildet. Spiritus und noch mehr das zugehörige Verb spirare verweisen immer noch auf das Hauchen und Atmen als Grundbedeutungen. Im Deutschen werden pneuma und spiritus meistens durch „Geist“ wiedergegeben, dessen Etymologie auf andere Zusammenhänge verweist (etwa erschrecken und schaudern), aber durch die christliche Semantik von ruach/pneuma/spiritus und den Einfluss der griechischen Philosophie geprägt wird, der schon in der Pneuma-Lehre des jüdischen Philosophen Philo zu Tage tritt.

Im biblischen Kontext meint der „Atem“ Gottes seine lebendige Gegenwart, die wie der Wind ungreifbar und unsichtbar, aber doch machtvoll ist. Dem menschlichen Atem vergleichbar, bleibt auch Gottes Lebensodem nicht in ihm, sondern strömt aus und teilt sich der Schöpfung mit, indem er alles belebt und zum Schöpfer hin in Bewegung setzt. Die Evangelien schließen an dieses Geistverständnis an. Jesus erscheint zu Lebzeiten als der vom Geist erfüllte Messias. Nach seinem Tod wird er durch den Geist auferweckt und erhöht. Wer an ihn glaubt, erfährt sich als wiedergeboren aus dem pneuma.

Lange vor dem Abstraktum Spiritualität war im griechischen und lateinischen Christentum ein entsprechendes Adjektiv geläufig. Schon im Neuen Testament kommt die Bezeichnung pneumatikós, lat. spiritualis („geistlich/geistig“) vor, die bei Paulus allem zugesprochen werden kann, was unter dem Einfluss des Heiligen Geistes geschieht. Erst im 5. Jahrhundert findet sich in einem Brief der früheste bekannte Beleg für das Hauptwort spiritualitas. Es bedeutet damals noch ein Leben im Heiligen Geist. Im Mittelalter wird spiritualitas dann mit incorporalitas, Unkörperlichkeit, Immaterialität identifiziert und steht im Gegensatz zu sensualitas, der sinnlichen Wahrnehmbarkeit. Die Amalgamierung der immer noch präsenten biblischen mit dieser platonisch gefärbten, philosophischen Bedeutung ist eine der Wurzeln für leibfeindliche Konzepte von Spiritualität, die in der Geschichte des Christentums öfter begegnen. Eine andere in dieser Zeit auftretende Facette des schillernden Begriffs, die bis heute nachwirkt, ist spiritualitas als Aszese, Disziplin, Übung, durch die sündhaftes Handeln und schlechte Charaktereigenschaften überwunden und Tugenden erworben werden sollen, damit der Mensch ein Gott zugewandtes Leben führen kann.

Seelische Zustände

Im 13. Jahrhundert kommt noch eine juristische Bedeutung hinzu. Nach ihr meint spiritualitas die kirchlichen Ämter und Güter sowie geweihte Personen, also Priester und Ordensleute. Der Gegenbegriff dazu ist temporalitas, Zeitlichkeit, will sagen die Gesamtheit weltlicher Personen und Dinge, die nicht direkt auf die Ewigkeit, sondern primär auf Vergängliches bezogen sind. Der Dualismus von Sinnlichkeit/Materie und Geist wird so auf ein hierarchisches Ordnungsschema zweier Lebensformen und sozialer Schichten innerhalb der christlichen Gesellschaft übertragen. Durch die Lehre von den zwei Wegen des christlichen Lebens wurde eine kirchliche Zweiklassengesellschaft zementiert. Der „Weg der Gebote“ (gemeint sind die zehn Gebote aus Ex 20,2–17 und Dtn 5,6–21) galt für die in der Welt Lebenden. Der darauf aufbauende, aber strengere „Weg der Räte“ (Armut, Keuschheit, Gehorsam) war für Mönche, die in der Regel die Priesterweihe hatten und in abgeschwächter Form auch für die sogenannten Weltgeistlichen, also Priester, die keine Ordensmitglieder waren sowie an letzter Stelle für die Nonnen. Die Berufung zur Vollkommenheit höchster spiritualitas blieb dem männlichen Ordensstand vorbehalten. Spiritualität wurde zur Sache einer dafür ausgebildeten Elite von religiösen Experten. Die ablehnenden Haltungen gegenüber dem Begriff Spiritualität in der Zeit nach der Reformation haben hier eine ihrer Wurzeln. Zunächst aber wurde die durch ein platonisierendes Verständnis angebahnte Verinnerlichung der Spiritualität in der frühen Neuzeit noch gesteigert.

Die Bedeutung des Begriffs verschob sich in Richtung auf innere seelische Zustände und Vorgänge. Man verband damit nun außergewöhnliche Bewusstseinszustände und ein stark emotionalisiertes Glaubensleben, so dass der Begriff den negativen Beigeschmack von Sentimentalität und Schwärmertum bekam. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts und im 18. rückte Spiritualität ähnlich wie der Terminus Mystik in die Nähe der Häresie. Auf katholischer und protestantischer Seite sprach man in der Folge lieber von Aszese, Frömmigkeit, geistlichem Leben, christlicher Vollkommenheit, um nur einige der geläufigen Begriffe zu nennen.

Erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer Renaissance des Spiritualitätsbegriffs, wobei man zwei einflussreiche Traditionsströme unterschieden hat. Im angelsächsischen Bereich taucht der Ausdruck vermehrt im Schrifttum alternativ-religiöser Bewegungen auf: in der Theosophie, im protestantisch geprägten New Thought und vor allem auch im Reformhinduismus, wo man eine angeblich immer schon aufgeklärt-rationale, wissenschaftsaffine „indische Spiritualität“ dem „westlichen Materialismus“ und einem als veraltet porträtierten Christentum entgegenstellt.

Unter Spiritualität wird in diesem Zusammenhang eine sich auf persönliche Erfahrung berufende, freigeistige Haltung zu religiösen Fragen verstanden, die im Gegensatz zu „dogmatischer Religion“ steht, wie man sie im herkömmlichen Christentum repräsentiert sah. Der alternativreligiöse Begriff von Spiritualität samt dem orientalistischen Vorurteil vom besonders spirituellen Asien breitet sich in der Folge auch in den deutschsprachigen Ländern aus. Hermann Hesse schreibt zum Beispiel in einem Brief aus dem Jahr 1923: „Ich halte indische Weisheit nicht für besser als die christliche, ich empfinde sie nur als ein wenig spiritueller, etwas weniger intolerant, etwas weiter und freier.“ Schon damals verband sich der Begriff Spiritualität mit einer neoromantischen Kritik an technokratischen und materialistischen Tendenzen der Moderne und der Suche nach einem ganzheitlichen Verständnis des Menschen. Das zieht sich bis in die Gegenwart.

Negativ konnotiert

Das sogenannte alternativ-religiöse Feld mit seinen Erscheinungsformen Okkultismus, Lebensreform, New Age und holistisches Milieu samt dem darin angesiedelten Verständnis von Spiritualität ist in den vergangenen hundert Jahren aus der alternativen Ecke marginaler Bewegungen abseits des Mainstreams in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Heutige Menschen, die von sich sagen, sie seien spirituell, aber nicht religiös, nehmen oft die Angebote dieses Felds in Anspruch, besuchen Yogakurse, Fastenkuren nach der Hl. Hildegard oder Achtsamkeitstrainings und lesen die Bücher des Dalai Lama. Da für sie der Begriff Religion negativ konnotiert ist, weichen sie, wie Christoph Bochinger feststellte, auf den unbelasteten Terminus Spiritualität aus, um ihrem Experimentieren und ihrem eigenen religiösen Weg einen Namen zu geben. Soziokulturell sind die Grenzen zum religiösen Leben in den Großkirchen trotz immer wieder geäußerter wechselseitiger Kritik durchlässig.

Nicht direkt mit dieser Entwicklung verkoppelt, aber sehr wohl in Verbindung mit dem Revival der Mystik, das ebenfalls seit der Zeit um 1900 eine einflussreiche religiöse Strömung innerhalb und außerhalb der Kirchen darstellt, erschienen ab 1900 in Frankreich auffällig viele theologische Werke, die spiritualité im Titel führen und die im Lauf der Neuzeit in den Hintergrund geratene kontemplative Praktiken, Erfahrungen und Theologien wiederbeleben. Sie stammen durchwegs von katholischen Mönchstheologen, zielen aber nicht bloß auf eine Vertiefung des monastischen Lebens, sondern auf die Erneuerung und Vertiefung des katholischen Glaubenslebens im Allgemeinen. Erstmals seit dem 17. Jahrhundert wird wieder offensiv für eine mystische Religiosität und dazu gehörige Formen der Kontemplation geworben. Die Trennung von Aszese (Gebets- und Tugendübung) und Mystik (gnadenhafte Erfahrungen der Nähe Gottes oder des Einsseins mit ihm) wird rückgängig gemacht, so dass Spiritualität als untrennbare Einheit beider verstanden werden kann. Von Frankreich aus verbreitet sich dieser Begriff Spiritualität in den ersten fünfzig Jahren des vorigen Jahrhunderts überall in der katholischen Welt und wandert ab den 1960er-Jahren auch in die protestantischen Kirchen ein, wo zunächst Vorbehalte gegen ihn bestanden, weil man ihn mit katholischer Frömmigkeit und mönchischer Praxis identifizierte und befürchtete, dass dadurch eine religiöse Haltung gefördert wird, die dem Prinzip der Rechtfertigung sola gratia widerspricht. In dieser Hinsicht bedeutete die Fünfte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975 eine Wende, in deren Schlusskommuniqué die gemeinsame Sehnsucht nach „einer neuen Spiritualität“ artikuliert wird.

In den 1960er-Jahren begann außerdem eine zunächst hauptsächlich von theologischer Seite vorangetriebene Arbeit am Begriff der Spiritualität, die ihn aus dem christlichen Kontext herauslöst und auf die Heraushebung einer Dimension abzielt, die sich in verschiedenen Religionen und Weltanschauungen finden lässt und auf einem grundlegenden im Menschsein angelegten Potenzial beruht. In diesem Sinn definierte Hans Urs von Balthasar 1965 Spiritualität als die existentielle und handlungsbezogene Grundhaltung eines Menschen, die aus dem jeweiligen Verständnis des eigenen Lebens folgt, das sie emotional-stimmungsmäßig prägt. Von einem solchen weitgefassten Begriff von Spiritualität aus macht es Sinn, nicht nur von christlicher, sondern ebenso von buddhistischer oder etwa muslimischer Spiritualität zu sprechen und auch humanistisch-atheistische Grundhaltungen als spirituell zu bezeichnen. Dieser anthropologische Spiritualitätsbegriff wurde in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur in den Theologien christlicher Konfessionen, sondern auch von Vertretern anderer Religionen und Weltanschauungen und in verschiedenen akademischen Disziplinen aufgegriffen, ergänzt und modifiziert, aber natürlich auch auf seine Schwachstellen abgeklopft.

Situationen, in denen eine über die alltäglich-pragmatische Problembewältigung hinausgehende Frage nach dem, was ein menschliches Leben letztlich trägt, aufbricht und eine ihm angemessene Grundhaltung gefordert ist, ereignen sich vor allem an Brennpunkten unseres Lebens, die dem Getriebe von Arbeits- und Konsumwelt Einhalt gebieten, wo sich Einfallsschneisen der alten, unverwüstlichen ruach öffnen können: Da sind die Sternstunden, die unserem Leben Sinn verleihen, und die unscheinbaren Momente, in denen man innehält, um sich zu sammeln, um achtsam zu werden, wie man das heute gerne nennt. Hierher gehören aber auch die existentiellen Herausforderungen im Angesicht von Armut, Ungerechtigkeit, Verbrechen, tiefem Beziehungsleid und an die Substanz gehenden Interessenskonflikten sowie die Konfrontation mit unheilbaren Krankheiten und Tod. Deshalb wurde das Thema Spiritualität in Bereichen wie Psychotherapie, Sozialarbeit, Strafvollzug, Mediation, Palliativmedizin und Hospizarbeit aufgegriffen. Auch wenn das Rauschen des Medienwalds über einen angeblichen Megatrend in den vergangenen Jahren etwas leiser geworden ist und Spiritualität als Modewort schon in die Jahre kommen ist: Es geht dabei nicht um einen kurzfristigen Hype, sondern um einen stets aktuellen Themenkomplex, der unter dem Titel Spiritualität eine zeitgemäße Artikulation gefunden hat, die den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft mit ihrer religiösen Individualisierung entspricht.

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