55 Jahre ungestraft geschlagen

Gibt es in Deutschland einen besonderen Nährboden für sexualisierte Gewalt gegen Kinder?
Foto: Harald Oppitz

Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist ein internationales Phänomen. Dennoch lohnt die Überlegung, inwiefern die Haltung der deutschen Gesellschaft zu Kindern hierfür einen idealen Nährboden bieten konnte und kann. Es braucht kein Pädagogikstudium um feststellen zu können, dass Kinder in Italien oder Spanien sehr viel freundlicher behandelt werden als in Deutschland – und das, obwohl beide Länder ebenfalls eine faschistische Vergangenheit haben. Doch offenbar konnte sich die Erziehungsmaxime des Nationalsozialismus, perfekt vermittelt im Erziehungsbestseller der Nazizeit „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, nur in Deutschland so konsequent durchsetzen. Scheinbar hatten spanische und italienische Eltern keine Lust, ihre Kinder mit emotionaler Kälte zu erziehen. Anders in Deutschland, wo Johanna Haarers Werk sogar nach dem Dritten Reich – nun unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ bis 1987 weiter gedruckt wurde, immerhin politisch gesäubert. Es hat schon eine eigene Ironie, dass ein Land einen „Babyboom“ produziert, diese Kinder dann irgendwie meistens lästig, zu laut oder schwierig findet und sie - ganz selbstverständlich und gesetzlich legitimiert - körperlich und seelisch peinigt. Die durch das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Erziehung ihrer Eltern traumatisierte Kriegsgeneration misshandelte die eigenen Kinder und fand das ganz normal.

Ein kleiner privater Rückblick: Meine Schwester wurde an ihrem ersten Schultag geschlagen, weil sie das „böse Händchen“ zum Buchstabenmalen benutzt hatte. Sie ist Linkshänderin, und es bedurfte anschließend eines schriftlichen Antrags meiner Eltern, damit sie dieses böse Händchen auch weiter zum Schreiben gebrauchen durfte. Meine Grundschullehrerin schlug die Kinder, die ihre Hausaufgaben vergessen hatten, mit dem Lineal auf die Fingerspitzen. Andere mussten eine Stunde lang in der Ecke stehen. „Kopfnüsse“ halfen begriffsstutzigen Mitschülern auf die Sprünge. Im Ballettunterricht wurde ich ermahnt, disziplinierter zu sein. Ich, acht Jahre alt, fragte daraufhin, was denn „Disziplin“ sei, ich kannte das Wort nicht. Die Mutter einer Mitschülerin folgte mir in die Umkleidekabine und gab mir eine Ohrfeige, weil ich nicht so frech sein dürfe.

Recht auf gewaltfreie Erziehung

Erst seit dem Jahr 2000 haben Kinder das ausdrückliche Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Durch §1631 sind körperliche Strafen, seelische Verletzungen und entwürdigende Maßnahmen unzulässig. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass allein nach dem Dritten Reich Kinder und Jugendliche 55 Jahre lang ungestraft geschlagen, seelisch gekränkt und entwürdigt werden durften.

Klar, es gab Ausnahmen. Meine Schwester meint, wir hätten einfach Glück gehabt, dass unsere Eltern liebevoll waren und selbst Eltern hatten, die Kinder mochten. Und sicher gab es auch andere Menschen, die in Deutschland Kinder achtsam und liebevoll erzogen haben. Aber grundsätzlich war man in Deutschland der Ansicht, dass ein „Satz hinter die Ohren“ noch niemandem geschadet habe.

So was hat Auswirkungen. Die Forschungen zu transgenerationaler Weitergabe von Traumata unterstreichen meiner Ansicht nach die These, dass auch nach dem Ende der Legitimierung elterlicher Züchtungsgewalt die Traumata dieser Zeit unheilvoll weiterwirken. Wenn wir über sexualisierte Gewalt diskutieren, sollten wir das mitbedenken.

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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