Ohne Polemika

Reformierter Pfarrer bei Exit

Ein „alter Siech“ sei er, aus der Zeit gefallen, und ein Buch über ihn eitel, sagt Werner Kriesi (* 1932) in einem der Gespräche, die Suzann-Viola Renninger dazu mit ihm führte. Die Philosophin drängt dennoch, er solle mehr aus seinem Leben preisgeben. Um Biografisches geht es ihr nur bedingt. Sie interessieren seine Motive und Erfahrungen.

Kriesi war lange prägende Gestalt im Schweizer Sterbehilfe-Verein „Exit“ mit 135.000 Mitgliedern. Erstmals Freitodbegleiter, wie er bevorzugt sagt, war er 1995, damals noch als reformierter Pfarrer. Mit den Worten „Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer, sind Sie dabei“, hatte ihn ein Gemeindeglied darum gebeten. 1997 wurde der pietistisch Geprägte im Verein Mitglied, leitete bald die Gruppe der Freitodbegleiter und assistierte 500 Mal beim Weg in einen selbstbestimmten Tod – mit allem, was dazugehört: den Gesprächen zuvor, Interventionen von Familie oder Freunden und dem Dabeisein am Tag mit der tödlichen Natrium-Pentobarbital-Dosis.

In seiner aktiven Zeit äußerte er sich oft professionell dazu, hier scheint er mitunter zögerlich, schließlich hat er seinen Beitrag geleistet. Der Intensität der Gespräche indes nutzt das, es geht durchweg ums Eingemachte. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass in solch existentiellen Fragen, wo nüchternes Überlegen teils so wenig überzeuge wie Sich-Verlassen auf das Bauchgefühl, engagiertes Erzählen und eben Erfahrungen weiterhelfen können. Darum wandte Renninger sich an Kriesi. „Traue keiner Philosophie, die bloß vom Schreibtisch aus erfolgt, und sei es deine eigene“ ist leitende Maxime – weshalb sie im Buchverlauf auch ihre Zusage einlöst, selber einzuspringen, wenn mal eine unabhängige, juristisch notwendige Zeugin für die Begleitung fehlen sollte. Was sie davon berichtet, ist bewegend und zugleich bezeichnend für ihren „praktischen“ Ansatz, den mal ein Fußballer so formulierte: „Alle Theorie ist grau, entscheidend ist auf’m Platz.“

Im Buch wechselt sie zwischen Interview-Parts, die auch kontrovers sind, etwa wenn es um Finanzen und Honorare geht oder den historischen Streit über eine radikalere Position des Vereins, sowie Erzählungen von Kriesi. Besonders ergreifen die Abschnitte zu Freitod aus Lebensüberdruss, dem rechten Zeitpunkt vor dem seelischen Demenztod (ausführlich am Beispiel von Walter Jens, der mit Hans Küng darüber schrieb, aber selbst den Absprung verpasste) sowie dem Todeswunsch psychisch Kranker oder junger Menschen.

Dazwischen stellt sie kompakte, gute Exkurse zu Denkern, die unsere Auffassung vom Suizid prägen (Augustin, Thomas von Aquin, Epikur, Seneca, Epiktet, dessen „die Tür steht offen“ in der Tendenz prägend ist).

So entsteht ein rundes, ernstes Bild, das den Zwiespalt umfasst wie auch die Entwicklung zur aktuellen Situation. Lebhaftigkeit und Engagement Kriesis setzen die Akzente, etwa wenn er über die in einer Zeitung abgedruckte Predigt einer jungen Pfarrerin wettert, die die Pein Pflegender verklärt, die auszuhalten hatten, wie Sterbewillige „zum Sterben abtransportiert wurden“ – weil „Exit“ zu ihren Seniorenheimen der Zugang verwehrt war. Situationen, die es hierzulande bald auch geben dürfte, sollten die Kirchen beim rigorosen Njet bleiben.

Kriesi kommentierte den Ausriss dazu: „Junge, Gesunde, Maul halten!!!“ Furor, den seine Bekenntnisse ausbalancieren, wie er all die Freitodbegleitungen überhaupt auszuhalten vermochte: „Ich habe in Elend gebadet.“ Wie er das sagt, macht den Seelsorger, der er stets blieb, greifbar.

Jene Grautöne, die das Leben nun mal ausmachen wie auch alle Gedanken zur Sterbehilfe, handhabt dieses Buch glänzend. Trotz klarer Position kommt es ohne Polemik aus. Für die noch anstehende Debatte nach dem Suizidbeihilfe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist es ein wichtiger Beitrag. Und es sollten auch jene lesen, die bisher auf moraline Richtigkeiten beharren, zugleich aber die Mittel haben, zur Not in die Schweiz zum „Exit“-Ableger „Dignitas“ zu fahren – der auch sterbewillige Bundesdeutsche bedient.

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