Ratzinger und die Smoking Gun
Ein „historischer Moment“: Nun ist das unabhängige Gutachten zum Jahrzehnte langen Skandal um sexualisierte Gewalt im Erzbistum München öffentlich. Die Folgen sind gravierend, vor allem für Erzbischof Reinhard Kardinal Marx und den emeritierten Papst Benedikt XVI., der erwiesenermaßen gelogen hat. zeitzeichen-Redakteur Philipp Gessler fragt: Tritt Marx nächste Woche erneut zurück?
Es war die zentrale Frage des „Watergate“-Skandals, die 1974 zum Sturz der Regierung unter US-Präsident Richard Nixon führte – und die seitdem immer wieder gefragt wird, wenn es um die Macht und vertuschte Vergehen an der Spitze von großen Institutionen geht: „What did the president know, and when did he know it? – Was wusste der Präsident, und wann wusste er es?“
An diesem Donnerstag war dies in nur kleiner Abwandlung auch die kirchenpolitisch zentrale Frage bei der Vorstellung des Münchner Gutachtens zur sexualisierten Gewalt im Erzbistum von 1945 bis 2019, verfertigt von der unabhängigen Anwaltskanzlei „Westpfahl Spilker Wastl (WSW)“: Was wusste der damalige Erzbischof von München und spätere Papst Benedikt XVI., Kardinal Joseph Ratzinger, von einem priesterlichen Missbrauchstäter, Peter H., den er in sein Bistum aufnahm? Und wann wusste er es?
Nun ist klar, und das ist durchaus eine Nachricht von Weltgeltung: Erzbischof Ratzinger wusste seit dem Beschluss in einer Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980, also von Anfang an, von der Aufnahme des Verbrechers in sein Erzbistum. Und das gilt, auch wenn der nunmehr 94-jährige Ratzinger Mitte Dezember vergangenen Jahres in einer schriftlichen Stellungnahme von über 80 Seiten, eingeholt von den Münchner Rechtsanwälten, das Gegenteil behauptet, nämlich dass er an dieser Sitzung im Januar 1980 gar nicht zugegen war.
Ein Protokoll als „Smoking Gun“
Diese offensichtliche Schutzbehauptung Ratzingers ist umso absurder, da Rechtsanwalt Ulrich Wastl bei der Pressekonferenz in München das Protokoll der Sitzung vorlegen konnte, das Kardinal Ratzinger mit Aussagen zitiert, die laut Protokoll von ihm stammen und auch nur von ihm stammen können – etwa, was der damalige Papst Johannes Paul II. zum seinerzeit noch sehr virulenten Fall des Theologen Hans Küng meinte, der von der Kirche brutal gemaßregelt worden war.
Das heißt, um es auf den Punkt zu bringen: Ratzinger hat gelogen. Das Protokoll ist, um es amerikanisch-pathetisch zu sagen, die „Smoking Gun“, nach der Journalistenteams aus aller Welt seit mindestens zwölf Jahren gesucht haben. Früher hätte Ratzinger deshalb vielleicht als Papst zurücktreten müssen. Das geht heute nicht mehr, er ist schon emeritiert. Sein Versagen im Fall des Priesters Peter H. (bei der Vorstellung des Gutachtens „Priester X“ genannt) hat den von Ratzinger und seiner Entourage sorgsam gepflegten Ruf als Aufklärer endgültig ruiniert.
Der im Erzbistum München aufgenommene Sexualstraftäter Peter H. kam 1980 aus dem Bistum Essen und sollte in der Erzdiözese München-Freising eine Psychotherapie gegen seine pädophil-verbrecherischen Neigungen machen. Und obwohl alle Verantwortlichen von seiner Vorgeschichte und seiner Gefährlichkeit wussten, wurde er im Erzbistum wieder als Seelsorger eingesetzt - und missbrauchte später erneut Kinder. Das ging sogar so weiter, als ihn 1986 ein staatliches Gericht verurteilt hatte. Ratzingers Nachfolger, Friedrich Kardinal Wetter, setzte ihn ein Jahr später an anderer Stelle wieder ein, erneut wurde Peter H. zum Täter. Erst 2010 wurden ihm alle Priestertätigkeiten entzogen. Insgesamt hat er nach neuesten Erkenntnissen mindestens 28 Minderjährigen sexualisierte Gewalt angetan.
Zahlen wie in Frankreich?
Alles in allem wurden im Erzbistum für die untersuchten Jahrzehnten bei sehr schlechter Aktenlage knapp 500 Opfer ermittelt, wobei die Rechtsanwälte angeben, das sei nur das „Hellfeld“. Die Dimensionen würden bundesweit wohl eher denen aus Frankreich nahekommen, wo die Zahl der Geschädigten im vergangenen Jahr auf 300.000 geschätzt wurde. Martin Pusch von WSW stellte zudem klar, die sexualisierte Gewalt sei „kein Phänomen der Vergangenheit“.
Von den überführten Priestern seien vierzig weiter in der Seelsorge eingesetzt worden, 18 sogar noch, als es bereits eine staatliche Verurteilung gegeben habe. Die Münchner Anwaltskanzlei hat von sich aus Zeitzeugen, Opfer wie Täter und Verantwortliche, befragt (anders als etwa im zweiten Kölner Gutachten, wo nur nach Aktenlage geurteilt wurde). Auch deshalb kamen sie zu viel tieferen Ergebnissen, so die Anwälte. Außerdem wurden nicht nur rechtliche, sondern auch moralische Urteile getroffen – und ist das angesichts solcher Verbrechen überhaupt anders möglich?
Es habe über Jahrzehnte eine „vollständige Nichtwahrnehmung der Opfer“ gegeben, so Pusch. Ähnliche Vorwürfe treffen auch den jetzigen Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx. Ihm wurden zwar nur zwei Fehlverhalten vorgeworfen. Im Gutachten aber wird mit klaren Worten kritisiert, er habe seine Aufgabe vor allem in der Verkündigung gesehen. Marx habe über viele Jahre wenig Interesse an dem Schicksal der Opfer gehabt und diese Fälle stets möglichst wegdelegiert.
Wird Marx erneut um Rücktritt bitten?
Es war sicherlich auch kein gutes Zeichen, dass Marx der Vorstellung des Gutachtens in München trotz ausdrücklicher Einladung fernblieb und am Donnerstagnachmittag nur recht dürre Worte des Entsetzens und der Scham angesichts des Gutachtens fand, das er nun erst einmal gründlich lesen wolle. Am kommenden Donnerstag will er in einer Pressekonferenz ausführlich dazu Stellung nehmen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn er den Papst erneut um seinen Rücktritt bittet – unwahrscheinlich, dass dies dann wieder abgelehnt würde.
Wie geht es nun weiter? Die Anwaltskanzlei hat in 42 Fällen ihre Unterlagen schon im Sommer vergangenen Jahres an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Es geht um Fälle, die noch lebende „Verantwortungsträger“ betreffen, wie die Anwälte erklären. Also könnte auch Marx im Fokus der Staatsanwaltschaft stehen. Im Raum stehen nach Angaben von Pusch in den 42 Fällen Delikte wie Beihilfe zum sexuellen Missbrauch oder Strafvereitelung.
Kardinal Ratzinger in Rom hat in einer ersten Reaktion angekündigt, er werde das knapp 1.900 Seiten starke Gutachten ebenfalls gründlich lesen und für die Opfer beten. Auch im Vatikan will man dies vor einer Stellungnahme erst einmal tun. Die rechtskatholische „Tagespost“ aus Würzburg, für die Ratzinger seit Jahren so etwas wie ein Heiliger ist, verdreht unterdessen die Münchner Fakten so lange, bis der Papst emeritus weiterhin als Held und der liberalere Marx als der einzig Schuldige dasteht. Wenn die reaktionäre katholische Szene in Deutschland in nächster Zeit ebenso reagiert, dürfte das WSW-Gutachten in dieser Gruppe gar nichts ausrichten außer ein verbissenes Kreisen in der eigenen Wagenburg zu befördern.
Ist nun „die Politik“ gefordert?
Irme Stetter-Karp, die neue Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, hat in ersten Stellungnahmen bereits angekündigt, dass nun in irgendeiner Weise die Politik sich um die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt in der katholischen Kirche Deutschlands kümmern müsse. Das ist eine Forderung, die schon länger in eher liberalen katholischen Kreisen erhoben wird.
Von Missbrauchsopfern wurde neben wirklichen Entschädigungen (bisher gibt es ja nur „Zahlungen in Anerkennung des Leids“) vorgeschlagen, die Missbrauchs-Akten der Glaubenskongregation in Rom offen zu legen, um auf diese Weise die Aufarbeitung voran zu bringen. Der Sprecher der Opferinitiative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch, sprach von einem „historischen Moment“ für die katholische Kirche. Andere forderten eine Reform der katholischen Sexuallehre, die als ursächlich für die sexualisierte Gewalt in der Kirche angesehen wird.
Die ZdK-Präsidentin Stetter-Karp wie Kardinal Marx verweisen weiter auf den Reformprozess „Synodaler Weg“, der sich trotz der erneuten Explosion der Corona-Zahlen weiterhin vom 3. bis 5. Februar 2022 in Frankfurt am Main treffen will. Es wird spannend sein zu sehen, wie Basis und Hierarchie dort mit dem Gutachten umgehen und ob man überhaupt eine gemeinsame Sprache dazu findet.
Gemeinsamer Rücktritt aller deutschen Bischöfe?
Vorstellbar ist weiterhin, nach chilenischem Vorbild, ein gemeinsames Rücktrittsangebot der deutschen Bischöfe beim Papst – aber sehr wahrscheinlich ist es nicht. Zeit, darüber zu sprechen, wäre bei der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz im Wallfahrtsort Vierzehnheiligen Anfang März im oberfränkischen Bad Staffelstein.
Unterdessen erodiert angesichts des Missbrauchsskandals neben der Mitgliederzahl zur katholischen Kirche auch das Vertrauen in sie immer mehr. Nach einer neuen Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Forsa haben nur noch zwölf Prozent der Bundesbürger großes Vertrauen zur katholischen Kirche. Vor fünf Jahren waren es noch 28 Prozent. Zur evangelischen Kirche haben immerhin noch 33 Prozent der Befragten großes Vertrauen.
Aber in den vergangenen Jahren hat sich immer wieder gezeigt, dass ein Vertrauensverlust auf katholischer Seite auch die evangelische, etwas zeitversetzt und geringer, in Mitleidenschaft zieht. Übrigens ergab die Umfrage noch etwas: Größer als zu den christlichen Kirchen ist mit 43 Prozent mittlerweile das Vertrauen der Bundesbürger zum Zentralrat der Juden. In Deutschland leben noch etwa 41 Millionen Mitglieder der Volkskirchen, Mitglieder jüdischer Gemeinden gibt es etwa 100.000.
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.