Je länger die Pandemie dauert, desto tiefer scheint sie unsere Seelen anzugreifen und herauszufordern. Und dann das Reizthema Impfen. Was hilft? Der Theologe und Journalist Stefan Seidel, rät zur nüchternen Anerkenntnis des wissenschaftlich Erforderlichen, auch wenn es nicht „100%-tig reine Wege“ sind ...
Seit nunmehr vielen Monaten befindet sich unsere Seele im erhöhten Betriebsmodus, um die mit dem neuartigen Virus einhergehenden Bedrohungen und Ungewissheiten zu managen. Sie greift dabei auch auf die zahlreichen von der Psychologie bereits erforschten Mechanismen des seelischen Umgangs mit konflikthaften Problemen zurück: Verdrängung, Verleugnung, Spaltung, kindlicher Rückzug, Projektion, Angst- und Aggressionsverschiebung.
All diese – eigentlich die Seele im Alarmfall schützenden – psychischen Manöver haben eines gemeinsam: Sie verzerren die Realitätswahrnehmung, um irgendwie handlungs- und lebensfähig zu bleiben. Dabei verwandeln sie etwas Bedrohliches in irgendwie seelisch handhabbareres. Doch das hat einen Preis: die Neurose, der Zwang, die nur verschobene Angst. Die Neurose schafft nur kurzfristige Beruhigung und führt eben zu einer eingeschränkten Realitätswahrnehmung und -beurteilung, mit den möglicherweise fatalen Folgen, die eine falsche Realitätswahrnehmung mit sich bringt. Die Abwehr der Bedrohung geht auf Kosten der Ratio und befördert die irrationalen Kräfte, Wahrnehmungen und Deutungen.
Die Neurose, die in diesem faustisch zu nennenden Handel der Seele der Preis für die vorübergehende seelische Rettung ist, muss fortan aufrechterhalten werden, indem sie genährt wird. Die Verzerrung der Wirklichkeit muss verzerrt bleiben – und zementiert sich dabei. Man hat sich den verführerischen odysseus’schen Sirenen ausgeliefert, weil sie eine kurzfristige Rettung verkündeten – und hat dabei sich selbst und seine gesunde Seele verloren.
Neurose nach außen gewendet
Die irrationale Verleugnung, Spaltung, Verschiebung wird vertieft und verstärkt, solange die Realität nicht geradegerückt, den verzerrenden Sirenen mit Wachs in den Ohren begegnet und gleichsam die eigene Verkrümmung in sich selbst von anderswoher aufgebogen und zu einem vertrauensvollen Horizont geweitet wird. Freilich, und das wusste schon die Bibel, schafft das der seelisch gepeinigte Mensch oft nicht aus eigener Kraft. Er bedarf dazu der Hilfe eines Gottes, der sich als stärkere Instanz als die verführerischen Verzerrer und Realitätsflüchter erweist.
Insbesondere in einem kollektiven Konfliktfall – wie einer Pandemie – kann es leicht dazu kommen, dass der innerseelische Konfliktbewältigungsmodus der Neurose schnell nach außen gewendet und auf der Bühne gemeinschaftlicher Verzerrungen, Verleugnungen und Spaltungen „aufgeführt“ wird. Mir scheint, dass die derzeit mancherorts so vehemente Verweigerung der Corona-Schutzimpfung als ein solcher Mechanismus irrationaler Realitätsverschiebung anzusehen ist, der eine (seelische) Bedrohung mittels einer Rettung in eine andere (irrationale) Wirklichkeit zu zähmen versucht, um (seelisch) zu überleben. Freilich eben um den Preis der Ratio und des Erkennens wirklich rettender Wege und Horizonte.
Eine (Psycho-)Therapie der Neurose besteht zunächst und zuallererst darin, die Neurose nicht zu bedienen und sich als Therapeut nicht in das falsche Weltbild des Patienten hineinverstricken zu lassen. Ein Grundsatz lautet: „Bediene nie die Neurose deines Gegenübers.“ Auch wenn es anfänglich schwer und schmerzlich ist, sollte der Therapeut als sicherer Vertreter der – in dem Moment noch anderen – Realität erscheinen, in der die Kräfte der Ratio und des zurzeit bestmöglichen Rettungswissens zugänglich sind. Nach und nach kann er dann mit dem Betroffenen nach Trittsteinen im aufgewühlten Meer suchen, auf denen der Fuß gehen kann hin zum rettenden Ufer.
Der Therapeut ist eben auch der „Geraderücker“ der Realitätswahrnehmung, der stellvertretend für die „gesunde Realität“ ist und gleichsam dem Patienten Wachs in die Ohren gibt, um den verführerischen Verzerrstimmen der irrationalen Wirklichkeiten zu widerstehen und irgendwann empfänglich für die rettende Realität zu werden und ihr zu trauen.
Bedrohliche Anteile verleugnet
Diese psychologische Betrachtungsweise der im Konfliktfall aktivierten seelischen Mechanismen könnte möglicherweise dabei helfen, die vehemente Ablehnung des rational und real rettenden Auswegs der Corona-Schutzimpfungen zu verstehen. Der Ablauf könnte so gewesen sein: Die – sicherlich allgemein auch phasenweise zu stark geschürte – Angst vor der Bedrohung durch ein potentiell tödliches Virus, gegen das es erst nach und nach Verteidigungsmittel gibt, muss gezähmt werden, damit sie nicht zum Seeleninfarkt führt und die (Über-)Lebensfähigkeit blockiert. Die bedrohlichen Anteile werden verleugnet und abgespalten, um ein handhabbares Risiko zurückzubehalten.
Die solcherart gespaltene Wirklichkeit muss aufrechterhalten werden durch Nährung der Spaltung: Es darf kein „Gegengift“ eindringen. Und so hält man sich andere Informationen und Personen mit anderen Sichtweisen vom Leib, fügt der Neurose beständig Nahrung zu. Diese besteht im stets wieder zu vergewissernden Glauben an die eigens geschaffene Realität und oftmals in Ritualen der Bestätigung der Wahrheit des gespaltenen Weltteils, dem man sich einseitig zugeschlagen hat.
Mit Händen zu greifen ist dabei, dass diese Spaltwahrheit alle Züge des Paradieses trägt. Es ist die sehnsuchtsvolle Beschwörung des Heilseins, in dem die tobenden Bedrohungsmächte schweigen und alles ganz und gar geheilt und geborgen ist. Diese odysseus’schen Sirenen sind mächtig, weil die Seele eben empfänglich ist für rationale wie für irrationale Kräfte.
Bestmöglicher Weg zur Zähmung
Das Problem bei der Therapie dieses Problems ist, dass man gegen einen irrationalen und totalen Heilsanspruch kämpft – und für die Ablösung dieser Heilswahrheit „nur“ eine Bruchstückwahrheit anbieten kann, in der offenen Auges mit nach wie vor nicht schlussendlich gezähmten Risiken und Gefahren und Beschädigungen des irdischen Lebens umgegangen wird. Aber eben ein im Moment bestmöglicher Weg zur Zähmung der größten Gefahren für Leib und Leben aufgezeigt werden kann.
Von den unaufhebbaren Ambivalenzen des Lebens in dieser Welt kann das Mängelwesen Mensch (Arnold Gehlen) keine Wahrheit erlösen. Höchstens eine Nirwana-Wahrheit, die so weit entfernt ist von der irdischen Realität, dass sie gegebenenfalls das irdische Leben kostet.
Doch gerade auch die christliche Wahrheit hat sich dem Heilenden verschrieben: dass alles Menschen- und Gottesmögliche in Bewegung gesetzt wird, um Leben zu sichern und Leiden zu lindern. Dass man dieser irdischen Realität, die mit all ihrem Leid und Schmutz und potentiell Bedrohlichem nun einmal so ist wie sie ist, nicht entflieht, sondern sich ihr stellt und kraftvolle Worte und Wege findet, sie zu bestehen und – wo möglich – ihr heilend und rettend zu begegnen. Die falschen Nirwana-Wahrheiten gilt es zu entzaubern, denn sie spielen im Zweifelsfall mit Menschenleben.
Heils- und Reinheitsphantasien verabschieden
Gott ist ein Liebhaber des Lebens (Weisheit 11,26) und nicht der absoluten Reinheit und der irrationalen Luftschlösser. Deshalb sollte es auch den Religionen heute darum gehen, falsche Heilsversprechen zu entzaubern und das Rettende zunächst und zuerst in einer nüchternen Realitätsanerkennung und dem Vertrauen in eine rationale (in dem Fall: wissenschaftlich-medizinische) Bewältigung der Nöte dieser Realität zu sehen. Dazu gehört die Verabschiedung von absoluten Heils- und Reinheitsphantasien.
Mag sein, dass die Impfung auch Nebenwirkungen und vielleicht auch manchen nicht ganz reinen Stoff enthält. Doch sie ist die Spitze des derzeit bestmöglichen Menschheitswissens zur Bekämpfung der Pandemie. Das ersehnte umfassend reine, heile, schmutzbefreite, unzerstörbare Leben gibt es nur in der Phantasie irrationaler Realitätsverweigerer, die oftmals ihre Sicht als „religiös“ oder auch „göttlich“ verbrämen. Doch ihr Gott ist als falscher Gott, als Götze, zu entlarven, der im Zweifelsfall Todesopfer fordert.
Der Weg reifer Religion – und der Weg eines religiösen Existenzversuchs in christlicher Spur – ist die Anerkennung der notvollen und unreinen und unerlösten irdischen Realität, deren Heilung nicht im Überspringen des Irdischen hinein in ein phantasmatisches Nirwana besteht, sondern in der Bejahung und Bewältigung dieser Realität mit allem, was Gott an Heilungsmöglichkeit in die Köpfe und Hände seiner Menschen gelegt hat.
Nirwanische Sirenen zurückweisen
Vertrauen ist nötig. Und eine entschiedene Zurückweisung der nirwanischen Sirenen, die im Namen eines Gottes des absoluten Rein- und Heilseins die möglicherweise nicht hundertprozentig „reinen“ Wege realitätsbezogener Wissenschaft ablehnt und bei dieser Vermeidung des „kleinen Schmutzes“ das Risiko einer um ein vielfaches größeren Destruktion in Kauf nimmt: den Tod.
Die christliche Religion ist auf den Weg des Lebens gerufen, zu dem auch die Anerkennung der Leidrealität gehört – aber eben nicht in einem fatalistisch-ergebenden Sinn, sondern in einem beharrlichen und vertrauenden Aufsuchen von Heils- und Lebensmöglichkeiten solange es irgend möglich ist. So wie es Dietrich Bonhoeffer einmal ausdrückte: „Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“
Heute sind therapeutische Fähigkeiten gefragt: Die neurotische Weltwahrnehmung nicht bestätigen, Wachs in die Ohren träufeln gegen die verführerischen Sirenen des Irrationalen, das im Zweifelsfall Leben kostet; und nach und nach Vertrauen in die rettenden Trittsteine im stürmischen Meer zu finden. Hierzu gehört der Einsatz für die Corona-Schutzimpfung.
Stefan Seidel
Stefan Seidel ist Theologe und Psychologe und als Leitender Redakteur der evangelischen Wochenzeitung DER SONNTAG in Leipzig tätig. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Entfeindet Euch! Auswege aus Spaltung und Gewalt“ (Claudius-Verlag München).