Der Verstrickte

Neue Heidegger-Biografie

Er war der neben Ludwig Wittgenstein einflussreichste deutschsprachige Philosoph des 20. Jahrhunderts. Wie dieser widmete auch Martin Heidegger (1889–1976) der Sprache besondere Aufmerksamkeit. Beide brachen radikal mit der philosophischen Tradition. Anders als Wittgenstein strebte der aus bescheidenen Verhältnissen entstammende Heidegger aber nach Einfluss – und ließ sich auch deshalb zeitweilig vom Nationalsozialismus faszinieren, dem er eine ganze Philosophie widmen wollte. Seine unselige Freiburger Rektoratsrede vom Mai 1933 ist oft missbilligt worden. Wie weit sein Antisemitismus und dubioses Trachten tatsächlich gingen, haben seine vor wenigen Jahren publizierten „Schwarzen Hefte“ mit Notaten offenbart.

Heidegger hat nach 1945 kaum je Einsicht in seine Irrtümer oder schlechtes Gewissen geäußert. Gleichwohl (oder auch insofern) zeigt sich sein Leben und Denken mit der Zeitgeschichte eng verflochten, ein Umstand, dem der Publizist Lorenz Jäger in seiner Biografie Heidegger. Ein deutsches Leben Rechnung trägt. Jäger deutet den Denker als eine Persönlichkeit, die sich überhaupt oft „verstrickt“.

 

Die umsichtige und glänzend geschriebene Darstellung folgt dem Leben von den Wurzeln bis zum knapp skizzierten Nachruhm. Eine Biografie ist das ebenso wie allgemeine Ideengeschichte und subtiler Nachvollzug heideggerschen Denkens. Der Autor widmet der Herkunftsfamilie viel Aufmerksamkeit, ihrer Verwurzelung im Katholizismus, der die Kindheit des Philosophen, der zunächst Theologie studierte, prägte. Heideggers Hang zum ganzheitlichen Denken, zum einsamen Nachsinnen mehr als zum lebendigen Gedankenaustausch leitet Jäger aus diesen Wurzeln her. Auch deshalb war der Philosoph ein Kritiker der Moderne, von Naturferne und kapitalistischem Liberalismus, und er betrachtete den Nationalsozialismus noch vor Hitlers Machtergreifung als vermeintlich gute Alternative zur als verbraucht empfundenen politischen Mitte und marxistischen Linken. Daneben sind es nicht zuletzt die Liebesaffären, besonders die jahrzehntelange Beziehung zu Hannah Arendt, denen Jäger seine Aufmerksamkeit widmet. Heidegger hat sie als inspirierend für sein Denken bezeichnet und so auch gegenüber seiner Frau Elfride zu rechtfertigen versucht.

Heidegger wird als ein Denker vorgeführt, der heutige Fragen an ältere Texte heranträgt. Das machte ihn als Lehrer so faszinierend. Sein Denken versteht sich als phänomenologische Auslegung des Seins und Daseins. Auf dieses unmittelbar Gegebene, brillant vorgeführt im frühen Hauptwerk Sein und Zeit (1927), richtet sich sein Interesse. Nach seiner sogenannten Kehre bemüht er sich aber nicht mehr um einen aktiven Zugriff, sondern erwartet gleichsam eine Selbstoffenbarung des Seins.

 

Heidegger war gewiss ein schwieriger Zeitgenosse. Der Biograf lässt daran keinen Zweifel. Er würdigt ihn aber auch als Kritiker der Technik und einseitiger Wissenschaftsorientierung, die für ihn Ausdruck einer allgemeinen Seinsvergessenheit waren. Heidegger war ein früher Diagnostiker der Umweltzerstörung.

Einem verengenden, gewaltsamen Zugriff auf die Welt widersetzte er sich grundsätzlich – und das markiert eine bemerkenswerte Nähe zu jenen Denkern, die sich als seine Antipoden verstanden, die Frankfurter Schule und allen voran Theodor W. Adorno. In Frankreich, wo man bezüglich Heideggers nach 1945 weniger Berührungsängste hatte, wirkte er auf Philosophen wie Jacques Derrida und dessen Differenzdenken. Es könnte sich lohnen, ihn wieder vorbehaltlos zur Hand zu nehmen. Die in Sackgassen führende technikorientierte Ausbeutung der Welt findet in Heidegger einen beständigen Kritiker. In seinen Schriften lassen sich auch deshalb noch viele Anregungen finden.

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