Schon der Titel verblüfft. Für sich sein und weiß hervorgehoben ist das ICH im SICH. Es geht im Buch der beiden Autoren Johann Hinrich Claussen und Ulrich Lilie um das isolierte Ich, um verschiedene Facetten der Einsamkeit. Wie die Selbstgewählte, die alles andere als ein Unglück in turbulenten Zeiten sein kann. Oder die leidvolle Isolierung, verstärkt in der Corona-Pandemie.
Es ist sicher kein Zufall, dass sich Claussen und Lilie, der eine Kulturbeauftragter des Rates der EKD, der andere Präsident der Diakonie Deutschland, für das Thema Einsamkeit entschieden haben. Beide sind Experten auf diesem Gebiet, der eine aus der diakonischen Praxis, der andere mit kulturgeschichtlichem Blick. Das macht den Reiz des Buches aus. Die evangelischen Theologen widmen sich zunächst der Fachliteratur von Psychologen, Psychiatern, Soziologen, Stressforschern, Ethnologen und fördern Erstaunliches zutage. So können zum Beispiel gesundheitliche Folgen durch Einsamkeit immens sein. Dazu kommt: Einsamkeit ist mit Scham besetzt und oftmals mit einem Tabu belegt.
Woher kommt es, dass manche Menschen eher das Alleinsein suchen, andere unter Einsamkeit leiden? Es lässt sich erblich erklären als „unterschiedlich ausgeprägte Empfindlichkeit gegenüber fehlender sozialer Einbindung“. Hat doch jeder Mensch dazu die Möglichkeit, seine Erfahrungen mit Einsamkeit zu beeinflussen. Diese Fähigkeit kann jedoch bei anhaltender Isolation erlöschen, erfährt die Leserschaft.
Claussen und Lilie sind in diesem Buch und in der Forschung, die es dokumentiert, den großen Gang durch die Kulturgeschichte gegangen und zu der Erkenntnis gekommen, die Einsamkeit nicht grundsätzlich für schlecht zu halten. Sie erzählen ausführlich und zugänglich, mal originell, mal sachlich, immer vorurteilsfrei von Menschen, die die Einsamkeit suchen wie der junge Ägypter Antonius, der um das Jahr 270 nach Christus zunächst sein Dorf verlässt und später in die arabische Wüste an den Berg Kolzim zieht, um seine Sehnsucht nach Einsamkeit zu stillen, „ein Freund Gottes zu werden“.
Von dem Dominikaner Meister Eckhart, für den im 14. Jahrhundert „die Abgeschiedenheit die höchste aller Tugenden“ ist. Von Isaac Newton ist zu erfahren, dass er die Zeit der Pest in aller Abgeschiedenheit für seine mathematischen Entdeckungen nutzte. Und Schriftsteller wie Petrarca taten es ihm gleich, um auf dem Land die nötige Ruhe zum Schreiben zu finden.
Die Autoren berichten von der Literatur Lateinamerikas, stellen weltberühmte Einsiedlerinnen des 20. Jahrhunderts vor wie Greta Garbo und Marlene Dietrich, das Leben in Geiselhaft ebenso wie das der Obdachlosen. Darüber hinaus führt das Buch zu schöpferischen Interpretationen des Themas – wie zum Einzelkartenspiel „Solitaire“, zu „Der Mönch am Meer“, von Caspar David Friedrich gemalt, zum Einsamkeitsgesang „Fado“ in Portugal oder zur „Ikone der Einsamkeit“, der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson (1830 – 1886).
Im Kapitel „Wege und Orte der Befreiung“ erläutern die engagierten Theologen die Entwicklung der Gefängnis- und Telefonseelsorge, rechnen ab mit dem britischen Einsamkeitsministerium und appellieren an Politiker, ihre Sprache sorgfältiger einzusetzen. Am Ende machen sie keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, dass zwar Einsamkeit zum Menschsein gehört, aber: „in ihrer akuten Gestalt ein wesentlicher Aspekt der heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und des gegenwärtigen Lebensstils ist“. Kurz gesagt, eine Erkenntnis schwarz auf weiß.
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.