Leider keine Delia

Antje Schrupps Erfahrungen mit Gott
Antje Schrupp
Foto: Tamara Jung

Am Anfang war ihr Kinderglaube, aber der wandelte sich mächtig im Laufe der Jahrzehnte. Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Antje Schrupp möchte ohne Gott nicht leben. Aber sie sagt auch: „Gott ist die, die ich beschimpfe, wenn wieder mal alles schiefläuft …“

Ich weiß noch, wann mir klar wurde, dass Gott nicht allmächtig ist. Ich muss ungefähr neun oder zehn Jahre alt gewesen sein und hatte das Buch „Delia, die weiße Indianerin“ gelesen. Es handelt von einem Mädchen im 19. Jahrhundert, das auf der Suche nach seinem verschollenen Vater als blinder Passagier im Schiff nach Amerika übersetzt, dort bei „Indianern“ wild und frei aufwächst und eine lebenslange Blutsbruderschaft mit dem Häuptlingssohn eingeht. Schlimmster kolonialrassistischer Kitsch, aber nun wünschte ich mir nichts sehnlicher, als selbst auch ein „Indianermädchen“ zu sein. Jeden Abend betete ich inbrünstig zu Gott, er möge mich doch am nächsten Tag als ein solches aufwachen lassen.

Aber nichts passierte. Das stürzte mich in meine erste große Glaubenskrise. Sicher, es war nicht das erste Mal, dass meine Gebete nicht erhört wurden. Ein paar Jahre zuvor hatte ich wochenlang vor dem Zubettgehen darum gebeten, am nächsten Morgen bitte, bitte keinen Haferbrei essen zu müssen! Vor dem inneren Auge meines fünf- oder sechsjährigen Ichs war das eine Kraftprobe zwischen Gott und Mama, denn Letztere war es schließlich, die mir den Haferbrei jeden Morgen vorsetzte. Weil ich als Kind dagegen nichts tun konnte, rief ich Gott zu Hilfe!

Als meine Mutter das irgendwann mitbekam, machte sie mir schnell klar, dass Gott auf ihrer Seite stand. Mein Flehen wäre ganz vergeblich, denn ebenso wie sie wolle auch Gott für mich immer nur das Beste. Und das sei nun mal Haferbrei zum Frühstück. Beten sei kein Wunschkonzert und Gott kein Essensvorlieben-Erfüllungsautomat. Das leuchtete mir ein, vor allem das anschauliche Beispiel mit der ganzen Schüssel Kuchenteig, die ich mir sicherlich wünschen und von der mir mit Sicherheit schlecht würde. Irgendwie fand ich das Ganze sogar beruhigend, denn meine Wünsche an Gott konnten nun umso größer und wilder werden, da Gott ja aufpassen würde, dass ich es nicht übertreibe.

Doch als ich älter wurde, kamen mir Zweifel an dieser Erklärung. Sie erschien mir allzu praktisch für meine Mutter. Was, so verdichtete sich ein ketzerischer Gedanke, was, wenn Gott meine Wünsche gar nicht erfüllen KANN? Und die Erwachsenen nur behaupteten, das wäre zu meinem Besten, um Gottes Unfähigkeit zu vertuschen?

Schließlich hatte sich auch schon bei meiner Mutter herausgestellt, dass sie nicht allmächtig ist. In unserem kleinen westdeutschen Dorf gab es damals in den 1960er-Jahren keinen Kindergarten, weshalb ich meine Tage mit Mama und Babyschwester zuhause verbringen musste. Um mir die Langeweile zu vertreiben, brachte meine Mutter mir lange vor der Einschulung Lesen und Schreiben bei. Weil sie aber nicht genau wusste, wie in der Schule Schreibschrift aussehen musste, tat sie das mit Großbuchstaben und in Druckschrift. Meine Entrüstung darüber, als ich am ersten Schultag feststellen musste, dass meine Mutter mir ALLES FALSCH beigebracht hatte, soll legendär gewesen sein.

Wenn also meine Mutter nicht alles wusste, war es gut möglich, dass Gott auch nicht perfekt ist. Die Indianermädchen-Sache war sozusagen seine letzte Chance. Ich beschloss, die Laufzeit der Probe über mehrere Wochen auszudehnen und ihm jede nur erdenkliche Chance zu geben. Aber im Lauf dieser Wochen, in denen ich jeden Abend für meine Verwandlung betete, wurde mir zunehmend klar, dass das, was ich da tat, ein albernes Unterfangen war. Ich erkannte: Es geht nicht. Es ist unmöglich, dass ich über Nacht zu einem Indianermädchen werde. Eine Erkenntnis, die dann nur einen logischen Schluss zuließ: Gott ist nicht allmächtig. Auch Gott kann nicht machen, was nun einmal unmöglich ist.

Rückblickend sehe ich diese Episode als eine Art Initiation in eine höhere Wahrheit des Glaubens. Tatsächlich kommen mir Menschen, die die Theodizee-Frage stellen – also wissen wollen, warum Gott „das“ zulässt – immer ein bisschen kindisch vor. Sie erinnern mich an Zehnjährige, die unbedingt ein Indianermädchen sein wollen und nicht verstehen, warum Gott sie nicht zu einem macht.

Gott ist nicht allmächtig, und eine Zeitlang habe ich aus diesem Grund das Glaubensbekenntnis tatsächlich nicht über die Lippen gebracht, sondern nur gesprochen, dass ich an „Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde“ glaube, also den Allmächtigen ausgelassen. Inzwischen habe ich mir eine Erklärung zurechtgelegt: Vielleicht verhält es sich mit Gottes Allmacht analog zu menschlichen Fähigkeiten, etwa hundert Meter in unter zehn Sekunden zu rennen oder Beethovens Mondscheinsonate fehlerfrei zu spielen. Beides können Menschen im Prinzip durchaus, in einer konkreten Situation, in der es drauf ankäme, aber eben nicht. „Im Prinzip“ hätte Gott mich natürlich auch als Angehörige der amerikanischen First Nations zur Welt kommen lassen können. Aber in der konkreten Situation ging es halt nicht.

Ganz glücklich bin ich mit der Lösung noch nicht, zumal meine christlichen Mit-Gläubigen, statt mit mir am selben Strang ziehen, den kindischen Wunderglauben immer weiter schüren. „Wo ist Gott, wenn ich Hilfe brauche?“, poppte mir zum Beispiel neulich auf Facebook als eine dieser Kirchenpropaganda-Kacheln entgegen. Himmel! Falsche Frage! (würde meine Mutter sagen, und zu Recht). Ganz in ihren Fußstapfen kommentierte ich drunter: „Wo bist du, wenn Gott deine Hilfe braucht?“

Dass tatsächlich das die relevante Frage ist, habe ich von der jüdischen Autorin Etty Hillesum gelernt, die kurz vor ihrer Deportation ins Konzentrationslager in ihrem Tagebuch notiert hat: „Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: Ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: Dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das Einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.“

Es ist genau diese Umkehrung der Perspektive, die notwendig ist, um dem Glauben an Gott irgendeinen Sinn zu geben. Zu behaupten, dass der Glaube an Gott dich glücklich macht, dir die schweren Zeiten erleichtert, unterm Strich: sich für dich rechnet! – das ist eine höchst zweifelhafte Marktschreierei, die auch zu gar nichts führt. Denn erstens stellen die meisten Verbraucher:innen irgendwann verärgert fest, dass es gar nicht funktioniert. Und zweitens gibt es da anderes, das locker mit dem kirchlichen Angebot mithalten kann. Was religiöse Menschen ausmacht ist, dass sie selbst nach einer Beziehung zu Gott streben, und zwar ohne Kosten-Nutzen-Rechnung: Gott ist das Gute für die Welt, aber wir sind es, die dafür zuständig sind! Wir müssen ihr helfen! Gott ist die, die da ist – aber nur, wenn wir ihr Platz einräumen. Wenn nicht, ist die Welt eben schlecht. Unser Pech.

Gott ist die, der ich danke, wenn ich durch einen sonnigen Herbstwald radle und denke „WOW WIE SCHÖN IST DAS.“ Und: Gott ist die, die ich beschimpfe, wenn wieder mal alles schiefläuft, und niemand ist da, der die das dafür zur Verantwortung gezogen werden kann. Und dann stelle ich mir vor, wie Gott seufzt und genervt denkt: „Ihr dummen Menschen, selber schuld!“, aber das natürlich nicht laut sagt, sondern verständnisvoll nickt und mir zärtlich ins Ohr flüstert: „Es tut mir so leid, aber ich kann leider auch nichts dran ändern.“ 

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