Der letzte Jude ist gegangen

Religiöse Minderheiten unter den Taliban in Afghanistan
Im Bamiyan-Tal in Zentral- Afghanistan befanden sich zwei 55 und 38 Meter hohe Buddha- Statuen, die 2001 von den Taliban zerstört wurden.
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Im Bamiyan-Tal in Zentral- Afghanistan befanden sich zwei 55 und 38 Meter hohe Buddha- Statuen, die 2001 von den Taliban zerstört wurden.

Im Oktober-zeitzeichen charakterisierte Ahmad Milad Karimi die neuen Macht­haber Afghanistans, die Taliban. In diesem Text skizziert die Berliner Religionswissenschaftlerin und Indo­login Liane Wobbe die Geschichte und das aktuelle Schicksal religiöser Minderheiten in dem fast ausschließlich islamisch geprägten Land am Hindukusch.

Afghanistan ist als muslimisches Land bekannt, denn von 33,7 Millionen Einwohnern sind 99,7 Prozent Muslime, davon 80 Prozent Sunniten und 17 Prozent Schiiten. Alle anderen religiösen Gruppen machen nur 0,3 Prozent aus. Doch wer sind diese „Anderen“ und welchen Status haben sie im Land? Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 verweisen zahlreiche Medien auf die drohende Gefahr für Angehörige religiöser Minderheiten, zu denen in erster Linie Bahai, Zoroastrier, Hindus, Sikhs, Juden und Christen zählen.

Zur größten religiösen Minderheit zählen in Afghanistan die Schiiten, von denen die meisten zur Ethnie der Hazara gehören. Diese werden seit Jahrzehnten diskriminiert, wobei der Grund vermutlich nicht in der Religion, sondern in historisch bedingten Stammeskonflikten liegt. Waren schiitische Moscheen in den letzten Jahren immer wieder Ziel von Taliban-Anschlägen, zeigten sich dieselben jetzt nach ihrer Machtübernahme verhandlungsbereit und offen gegenüber der schiitischen Minderheit. So nahmen in Kabul führende Taliban-Mitglieder im August 2020 an den schiitischen Aschura-Zeremonien der Hazara in Kabul teil, um ihre Verbundenheit mit dieser ethnischen Gruppe zu bekunden.

Unter den Schiiten Afghanistans gehört eine größere Gruppe zum Zweig der Ismailiten. Diese Richtung entstand im achten Jahrhundert infolge eines Nachfolgestreites nach dem Tod des sechsten Imams. Während die Mehrheit der Schiiten dessen Sohn Musa folgte, erkannte eine kleine Gruppe den Sohn Ismail als Nachfolger an, aus der sich die Ismailiten-Schia entwickelte. Ismailiten glauben an das lebendige Imamat, das der Prophet Muhammad über seinen Schwiegersohn und Cousin Ali bis hin zum gegenwärtigen 49. Imam, bekannt als IV. Agha Khan, weitergab.

Millionen Dollar investiert

Heute leben etwa 200 000 Ismailiten in Afghanistan, die meisten in der nordöstlichen Region Badachschan, vor allem im Wakhan-Korridor, in der Provinz Baghlan und in Kabul. Ein großes Verdienst kommt dieser Gemeinschaft darin zu, dass ihr derzeitiges Oberhaupt neben der geistigen Gemeindeführung auch zahlreiche Institutionen ins Leben rief, die der Gesundheit und der Bildung dienen. So gilt das Aga Khan Development Network (AKDN) als weltweit größte private Entwicklungshilfeorganisation, welche Krankenhäuser, Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie Landwirtschaftsprojekte vor allem in Indien, Pakistan, Zentralasien und Ostafrika unterstützt. Diese Organisation investierte seit den 1990er-Jahren 80 Millionen Dollar in den Wiederaufbau Afghanistans. Dank ihrer Kooperation mit Regierungsvertretern gelang es ihnen sogar, 20 Jamatkhanas (ismailitische Gebetsstätten) im Land zu bauen, welche sich vor allem in Kabul, den Provinzen Baghlan und Badachschan befinden.

Obwohl Ismailis eine lange Tradition in Afghanistan haben und sehr geschätzt sind, werden dennoch immer wieder Berichte von Diskriminierungen laut. Wie ein Mitglied der ismailitischen Gemeinde zu Berlin mitteilte, rief der Imam nach der Machtübernahme der Taliban die Gemeinden auf, im Land zu bleiben und sich ruhig und besonnen zu verhalten. Zudem sollten Mitarbeiter des AKDN alles tun, um die Menschen vor Ort zu unterstützen und ihnen weiterhin Bildung und Religionsausübung zu gewähren. Darüber hinaus sollten sie den Taliban ihre Zusammenarbeit anbieten, nur so ließe sich die neue Situation im Land positiv beeinflussen. Zwar verließen einige Familien dennoch das Land. Aber da Ismailiten ihrem Imam vertrauen und seine Anweisungen als göttliche Botschaft sehen, ist ein Großteil auch geblieben.

Die dritte islamisch geprägte Minderheit in Afghanistan ist die Ahmadiyyabewegung. Ihre Geschichte im Land begann in den 1930er-Jahren, wurde aber bald darauf mit Todesstrafen und Verhaftungen der ersten Anhänger zurückgedrängt. Da Mirza Ghulam Ahmad, der Gründer dieser indischen Reformbewegung, sich 1882 als Messias und letzter Prophet des Islam bezeichnete, werden Ahmadis von anderen Muslimen bis heute der Häresie beschuldigt und verfolgt, so auch in Afghanistan. Nur wenige Familien praktizieren ihren Glauben im Untergrund, öffentliche Gebetsstätten gibt es nicht. Neuesten Angaben zufolge sollen sich derzeit etwa 450 Ahmadis im Land aufhalten. Wie der Imam der Berliner Gemeinde mitteilte, unternehmen jetzt Ahmadiyya-Organisationen alles, um ihren Glaubensgeschwistern die Flucht zu ermöglichen.

Die ursprüngliche Religion des einst persischen Landes Afghanistan war der Zoroastrismus, als dessen Begründer Zarathustra (griechisch: Zoroaster) gilt. Dessen Anhänger heißen Zoroastrier. Nach einigen zoroastrischen Schriften lebte Zarathustra zwischen 1800 und 800 vor Christus in der nordafghanischen Provinz Baghlan, weshalb diese als Hochburg des Zoroastrismus galt. Heute noch praktizieren Afghanen zahlreiche Bräuche aus dieser Zeit, wie Nauruz, das persische Neujahrsfest am 21. März, oder Chaharchanbeh suri, den vorausgehenden roten Mittwoch, an dem sie über das Feuer springen, um Krankheiten des alten Jahres zu verbrennen. Heute gibt es vermutlich zweitausend Zoroastrier in Afghanistan, die ihre Identität jedoch verstecken. Die meisten von ihnen leben in Balch, Kandahahar und Kabul.

Am 7. September emigrierte der 62- jährige Zebulon Simentov als letzter Jude Afghanistans in die USA und beendete damit eintausend Jahre Geschichte der jüdischen Minderheit in Afghanistan. Die Geschichte begann im 12. Jahrhundert mit einer Gemeinde von etwa 80 000 Gläubigen. Mit der Gründung des Staates Israel 1948 setzte eine große Auswanderungswelle ein, so dass bis 1969 noch etwa dreihundert Juden in Afghanistan lebten, die meisten in Herat und Kabul. Mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen 1979 ging die Zahl der Gläubigen auf etwa zehn zurück. Als 1996 die Taliban das Land besetzten, wurden Zebulon Simenov und Isaak Levi in Kabul als letzte Juden Afghanistans so bekannt, dass deren Leben Eingang in zwei Theaterstücke fand. Als Gebetshaus der größten Gemeinde afghanischer Juden im Westen dient heute die afghanische Anshei Shalom-Synagoge in New York.

Im November 2019 versammelten sich etwa 200 Bahai-Gläubige zum letzten Mal in Kabul, um den Geburtstag ihres Begründers Bahaullah mit traditionellen afghanischen Tänzen, Musik und poetischen Beiträgen zu feiern. Nach Afghanistan gelangte die Bahai-Lehre zwischen 1880 und 1970, so dass es dort Mitte der 1970er-Jahre etwa vierhundert Anhänger gab. Nach abwechselnden Flucht- und Rückkehrwellen unter den Sowjets und den Taliban lebten im Jahr 2000 etwa 23 000 Bahai im Land. Anzunehmen ist, dass sich deren Sicherheitslage in den darauffolgenden Jahren verschlechterte, da die Zahl ihrer Anhänger sich heute auf etwa 200 beläuft.

Die Geschichte einer christlichen Minderheit zeigt in Afghanistan kaum sichtbare Spuren. Zwar gab es vom fünften bis vierzehnten Jahrhundert in Herat, Kandahar und Balkh Zentren der Apostolischen Kirche des Ostens, diese verschwanden jedoch mit der Eroberung Persiens durch die Mongolen. Nach der Auflösung einer kleinen armenischen Gemeinde im 18. Jahrhundert durfte die italienische Botschaft in Kabul 1921 auf ihrem Grundstück eine kleine Kapelle bauen. Heute ist dies die einzige Kirche in Afghanistan und wurde bis vor kurzem nur von ausländischen Diplomaten, Hilfskräften und Militärangehörigen besucht. Da Konversion für Muslime in Afghanistan verboten ist, gibt es keine weiteren öffentlichen Andachtsräume im Land. Dennoch spricht die evangelikale Organisation Open Door von einigen Tausend konvertierten Muslimen, die als Christen im Untergrund leben. Die meisten kamen wahrscheinlich durch Evangelikale, Adventisten oder Zeugen Jehovas mit dem Christentum in Kontakt. Seit dem Rückzug der USA und ihrer Verbündeten hegen christliche Hilfsorganisationen die Befürchtung, dass die Verfolgung von Christen wieder zunehmen wird.

„Wir afghanischen Hindus sind ursprünglich die ältesten Afghanen, die an ihrer Religion noch festhalten und als eine religiöse Minderheit leben“, schreibt der der afghanische Hindu-Autor Ischer Dass in seinem Buch Die Gefährten Afghanistans von 2013. Zu den religiösen Minderheiten in Afghanistan gehören in erster Linie Hindus und Sikhs, deren Vorfahren aus Indien stammen. Im afghanischen Hinduismus werden neben traditionellen Hindugottheiten wie Ganesha, Shiva, Vish-nu und Durga auch der Sikhbegründer Guru Nanak und der Sindhi-Heilige Jhule Lal verehrt. Die größte Ansiedlung von Hindus und Sikhs erfolgte vermutlich Anfang des 18. Jahrhunderts, als König Ahmad Shah Hindu- und Sikh-Familien aus dem heutigen Pakistan ins Land holte.

Fluchtwellen nach Indien

Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Lebensbedingungen der Hindus und Sikhs relativ gut. Nach einer darauffolgenden Zeit religiöser Einschränkungen erlebten sie von 1950 bis 1980 eine Blütezeit und konnten in Kabul, Kandahar und Jalalabad sogar eine eigene Infrastruktur mit Tempeln, Läden und Imbissen errichten. Die Machtübernahmen der Sowjetarmee 1979, der Mujaheddin 1992 und der Taliban 1996 brachte erneut Unterdrückung, Verfolgung und Enteignungen mit sich und führte zu mehreren großen Fluchtwellen nach Indien und in den Westen. Auch Deutschland wurde zu einem beliebten Zufluchtsort für afghanische Hindus, wo sie in acht Städten, darunter Köln, Essen und Hamburg zehn Hindugemeinden und zwei Sikhgemeinden gründeten.

Presseberichte, die die Situation von Hindus und Sikhs in Afghanistan nach dem Sturz der Taliban 2001 beschrieben, zeigten unterschiedliche Bilder. Während die einen sich von muslimischen Nachbarn gut behandelt fühlten, sprachen andere von anhaltender Anfeindung aufgrund ihres „Indisch-Seins“. Während sich religiöse Stätten anderer Minderheiten meist in den Bergen oder im Untergrund befinden, wurden Hindutempel (Mandir) und Sikhtempel (Gurdwara) immer sichtbar in Städten gebaut. So gibt es allein in Kabul mindestens acht Gurdwaras und fünf Mandirs. Obwohl von Muslimen ungern gesehen und teilweise verschmäht, ist es Hindus in Afghanistan sogar erlaubt, öffentliche Leichenverbrennungen zu zelebrieren.

Der Buddhismus war in vorislamischer Zeit in vielen Teilen des Landes von zentraler Bedeutung. Vom dritten bis achten Jahrhundert bildete das Ghandaragebiet, welches Teile des heutigen Afghanistan, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan umfasst, ein Zentrum des Buddhismus. Da dieser aus Indien über die Seidenstraße in Zentralasien nach China gebracht wurde, entstanden hier viele buddhistische Bauwerke. Der chinesische Mönch Xuanzang reiste im siebten Jahrhundert durch die Provinz Badachshan und sprach von einhundert Klöstern und dreitausend Mönchen.

Als wichtigste Denkmäler der buddhistischen Epoche Afghanistans galten lange Zeit die zwei Buddhafiguren in Bamyan, welche zwischen 544 und 644 errichtet wurden. Seit ihrer Zerstörung durch die Taliban 2001 verloren sie zwar ihre Gestalt, dennoch erinnern ihre ruinenartigen Höhlen an eine buddhistische Religionspraxis. Seit der Machtübernahme durch die Taliban beschäftigen sich verschiedene Kulturstiftungen verstärkt damit, wie das buddhistische Erbe Afghanistans bewahrt werden kann. Ein Vergleich der religiösen Minderheiten in Afghanistan zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer historischen und gegenwärtigen Situation.

Wenngleich sich Hindus, Sikhs und Ismailiten als bedrohte Minderheiten sehen, so erfahren sie doch eine größere Akzeptanz in ihrem muslimischen Umfeld als beispielsweise Christen, Bahai oder Ahmadis. Das mag vor allem daran liegen, dass sie mit afghanischen Muslimen den geographischen Hintergrund und kulturelle Werte teilen. Kritikpunkte an Hindus aus muslimischer Sicht sind Polytheismus und bildliche Darstellung, bei Ismailiten die Verehrung eines Imams. Da es im Unterschied zu einigen anderen muslimischen Ländern wie Libanon, Syrien oder Irak hier keine christlichen Gemeinden gibt, die vor oder während der Verbreitung des Islam in Afghanistan entstanden, handelt es sich bei Christen, wie Bahais und Ahmadis auch, um konvertierte Muslime.

Mit dem Christentum verbinden viele Afghaninnen und Afghanen eine westlich-moderne Kultur, die für die einen reizvoll ist, für andere wiederum die traditionellen muslimisch geprägten Werte gefährdet. So sind gerade junge Menschen daran interessiert, zum Christentum zu konvertieren.

Viele Menschen verließen in den vergangenen Wochen Afghanistan, nur wenige sehen die Hoffnung auf eine positive Zukunft für das Land, zu der der Generaldirektor der Aga Khan Foundation aufruft: „Jetzt ist es an der Zeit, präsent zu sein, im Dialog zu bleiben und gemeinsam mit den Gemeinden für Frieden, Zusammenhalt, Chancen und Wohlstand zu arbeiten.“ Bleibt zu wünschen, dass diese Hoffnung Früchte trägt zum Wohlergehen aller religiösen Gemeinschaften in Afghanistan! 

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