Therapeutikum

Unsere Hände und die von Gott

Eine Sache mit Hand und Fuß ist ein gutes Ganzes. Und die fortgeschrittene menschliche Evolution wäre ohne die differenzierten Fähigkeiten der beim aufrechten Gang freien Hände nicht möglich gewesen. Erst recht in sprachlicher Hinsicht ist der Zusammenhang deutlich: Wer überhaupt handelt, wer Handel treibt oder, etwas veraltet, Händel, also Streitigkeiten, führt und das auch so sagt – immerzu unterstreicht diese Person die fundamentale Bedeutung der oberen Extremitäten, von denen die Begriffe abgeleitet sind. Die Rede von der Hand Gottes, in der alles ruht, ist so bekannt wie die unsichtbare Hand des Marktes, wie die öffentliche oder private Hand. Das alles gibt Anlass, um eine entsprechende Kulturgeschichte, die der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch unter dem so schlichten wie vielsagenden Titel Hände vorlegt, gut begründet erscheinen zu lassen.

Hörisch nimmt Anleihen bei diversen wissenschaftlichen Disziplinen, liefert vor allem aber feinsinnige und gelehrte Interpretationen belletristischer Literatur, besonders von Werken Goethes. Im Götz-Drama, im Faust, Torquato Tasso oder Wilhelm Meister finden sich zahllose Verweise und Bilder, die mit Händen operieren. Und geistesgeschichtlich reflektieren Goethes Werke den Übergang von jener Zeit, da die Hand Gottes noch überwiegend anerkannt war, zu derjenigen, die im Zeichen der unsichtbaren Hand des Marktes und also der lebensweltlichen Dominanz wirtschaftlicher Prozesse steht. Hier bewegt sich Hörisch auf vertrautem Terrain, denn dem Wandel der Sinn verbürgenden „Leitmedien“, Abendmahl, Geld und später audiovisuelle sowie elektronische Medien, hat er sich ebenso schon gewidmet wie besonders dem Fortwirken religiöser Motive in wirtschaftlichen Zusammenhängen, dem er etwa in seiner Studie „Man muss dran glauben“ nachgegangen ist.

Sein Buch bestätigt für alle Lesenden, was für Germanisten und besonders ihn selbstverständlich ist: Die Literatur um 1800 ist die ergiebigste und am meisten anregende geblieben. Und Goethe ist und bleibt der Beste. Den spezifischen Wissensvorrat, den die hohe Literatur bereithält, unterstreicht der Autor, indem er viel daraus schöpft. Da es sich um Interpretationen handelt, liegt es in der Natur der Sache, dass man diese zuweilen als (zu) weit hergeholt empfinden kann. Überzeugend begründet wird nicht zuletzt der kulturkritische Impuls dieser gut lesbaren und souverän formulierten Studie: Wir leben in einer Zeit der Handvergessenheit; Kopfarbeit wird nicht von Ungefähr am besten bezahlt. Der allgemeine Preis, den das kostet, wird auch an digitaler Bildung deutlich. Kein Zufall, dass Smartphones mit nur einer Hand bedienbar sind und vor allem Wischbewegungen erfordern.

Ganzheitlichkeit sieht anders aus; weitere Fingerfertigkeiten, die menschliche Vielfalt befördern, verlieren an Bedeutung. Kunsthandwerkliche Prozesse und überhaupt musische Bildung trainieren sie aber mindestens genauso. Da zeigt sich erneut, was sich vom alten Goethe lernen lässt. Er, in dessen Horizont auch alles Natürliche einen Platz hatte, schätzte nicht zuletzt das Kunsthandwerk. Fragestellungen der „reinen Vernunft“, dem Spekulativen, für das sich Dichterkollege Schiller erwärmen konnte, begegnete er mit Skepsis. Seine Dichtung und Weltsicht sind erdverbundener, realistischer, doch nicht weniger klug. Auch das lehrt dieses Buch. Es ermuntert mit Hilfe der Literatur dazu, das Leben ganzheitlich in die eigene Hand zu nehmen, und es lässt sich nicht zuletzt angesichts hochfliegender digitaler Pläne als Therapeutikum empfehlen.

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