Die 1920er-Jahre erfreuen sich wieder großer Beliebtheit. Das zeigt der sagenhafte Erfolg der Fernsehserie „Babylon Berlin“. Ähnliche Filmwerke, die die Explosion der Moderne zwischen 1918 und 1933 spannend ins Bild setzen, sind in Vorbereitung. Auch die Literatur dieser Epoche wird neu entdeckt oder war nie „weg“: Man denke nur an Erich Kästner, Hans Fallada, Mascha Kaléko oder Irmtraud Keun. Auch die Architektur, die Mode und das Design aus der ersten deutschen Republik genießen höchste Wertschätzung.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Taschenbuchs möchten die Faszination, die von dieser Epoche ausgeht, nutzen, um an Karl Barth zu erinnern und an den 100. Jahrestag der Veröffentlichung der zweiten Auflage seines Römerbriefs (1922). Es handelt sich also um einen Jubiläumsband, erarbeitet im Auftrag des Evangelischen Bundes Hessen. Originell ist der Ansatz, die Erinnerung an diesen Gegen-Kultur-Theologen zu verbinden mit Reminiszenzen an die Kultur der Weimarer Republik. Das ist ein reizvoller konzeptioneller Widerspruch, aus dem sich Funken schlagen ließen: Der Theologe, der jeder Form von Kultur-Theologie eine schroffe Absage erteilt hat, soll in den bunt schillernden Facetten der Kultur seiner Zeit gespiegelt werden. So gibt es interessante Kapitel zur Literatur, zum Kino, zur Mode, zur „neuen Frau“, zu Bauhaus und Kirchenarchitektur, zu Kulturkonflikten wie Blasphemie-Prozessen, zu Frömmigkeitskulturen und zur Kirchenmusik. Vieles liest sich anregend, anderes ist zu kurz geraten, als dass es in die Tiefe gehen und wirklich interessant werden könnte. Die Beiträge zu Barth dagegen sind sympathisch, weil sie den Charakter theologischer Liebesbriefe tragen. Das Verhältnis zu diesem Kirchenvater des 20. Jahrhunderts ist durchgehend affirmativ, voller Bewunderung und darauf aus, seine Thesen für die Gegenwart zu aktualisieren. Gelegentlich nimmt dies fast etwas Predigthaftes und Heilsgeschichtliches an: Da ist zunächst die „Götterdämmerung“ der alten liberalen Theologie, die wegen ihrer anfänglichen Kriegsbegeisterung, ihrem „Sündenfall“, verworfen wird, bis der Römerbrief erscheint – wie ein „Erdbeben“, so gehört es sich für eine Theophanie – und sein Autor als neuer „Leitstern“ auf den Plan tritt. Eine präzise Kontextualisierung und kritisch-konstruktive Auseinandersetzung werden so eher nicht angebahnt, aber wahrscheinlich war dies gar nicht die Absicht.
Das Problem dieses Buches nun besteht darin, dass die kulturhistorischen und die theologischen Beiträge zu selten in einen Dialog miteinander treten. Das liegt sicherlich an Barth selbst. Er war kein Ernst Troeltsch, der in seinen berühmten „Spektatorbriefen“ oder neu herausgegebenen Briefen eindringliche Schilderungen und Deutungen der kulturellen und politischen Ereignisse seiner unmittelbaren Gegenwart geliefert hat. Über Kunst hat Barth sich nicht geäußert. Allerdings lässt sich auch bei ihm das „reformierte Paradox“ aufspüren, wonach auch eine Theologie, die sich nicht mit der Kultur ihrer Zeit verbinden will, kulturprägend wirkt: Bilderverbot als Kunstprinzip. Doch dazu gibt es beim frühen Barth nur sehr allgemeine Aussagen.
Der beste Beitrag ist der letzte. Er gießt allerdings einen ordentlichen Schuss Wasser in den Jubiläumswein. Christian Nottmeier erinnert daran, dass die eigentlich prägende theologische Gestalt dieser Zeit Adolf von Harnack war. Die Dialektische Theologie und andere antiliberale Aufbrüche in der Theologie waren dagegen „nicht mehr als Binnendiskurse“. Betrachtet man sie zudem im Zusammenhang der „antihistoristischen Revolution“ auch in anderen Disziplinen, erscheinen sie durchaus auch als problematisch. Jedenfalls waren es Ältere wie Harnack oder Troeltsch, die wesentliche Beiträge zur Begründung einer neuen demokratischen Kultur und Politik leisteten, zu denen die Jüngeren in ihrem kulturkritischen Furor nicht bereit oder in der Lage waren.
Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.