Anleihen bei Luther haben immer Konjunktur. Insofern verwundert es nicht, dass in dem vorliegenden Buch des Autorenduos Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer von „95 Thesen“ die Rede ist. Und genauso wie beim Thesenpendant von 1517 ist in der ersten These schon das Wichtigste enthalten, denn sie lautet: „Europa braucht eine Verfassung, die auch in stürmischen Zeiten Orientierung bietet.“
Damit deuten die beiden wie der Finger von Grünewalds Täufer auf die Wunde, die für sie Quell aller Hemmnisse ist, die das Wachstum eines starken und zukunftsfähigen Europas erschweren: Es fehlt eine Verfassung, die Dinge klar regelt. Und solch klarer Regelung, die die anderen bis jetzt vorherrschenden Mechanismen ablöst, bedarf die Union der 27 dringend, so das Credo der beiden, die gleich eingangs im „Prolog“ davon erzählen, wie sie 2014, vor sieben Jahren, mit zwei Interrail-Tickets binnen weniger Wochen durch 14 europäische Länder reisten, und daraufhin zu Europaenthusiasten wurden.
In den Jahren danach haben sie diesen Enthusiasmus mit gehöriger Sachkenntnis unterfüttert, die ihr Buch für jeden Interessierten zu einer Fundgrube machen, ja zu einem geeigneten Vademecum für europapolitisches Denken. In den Jahren seit 2014 sind aber – Stichwort Brexit, Streit um Migration, Konflikt mit Russland, Rückkehr der Nationalismen und, und und … – die Dinge schwieriger geworden. Andererseits aber haben Herr & Speer gerade in jüngster Zeit die folgende Beobachtung gemacht: „Das Engagement für eine gerechte und geeinte Gesellschaft und Politik ist auf einem neuen Level angekommen. Angetrieben von den Ideen und der Zukunftssehnsucht der jungen Generation.“ Diesen neuen Geist nennen die beiden ganz unbescheiden „neue Europäische Renaissance“.
Die Sache mit der Verfassung scheiterte 2004/2005 an den Referenda in Frankreich und den Niederlanden, und bisher ist noch kein neuer Versuch unternommen worden. Sollte es aber zu einer Verfassung kommen, so müsste darin nach Meinung des Autorenduos niedergelegt werden, dass ein Mitgliedsstaat, der wiederholt gegen Grundsätze der EU verstößt, aus der Union ausgeschlossen werden kann. „Wer verstößt, der fliegt“, fordert salopp die siebte These. Wobei natürlich ein Ausschluss nur als Ultima Ratio erwogen wird. Aber die beiden hoffen sowieso, die „reine Existenz dieser Möglichkeit“ möge ausreichen, um alle Mitgliedsstaaten daran zu erinnern, „dass die EU nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Werteunion ist und dass diese Werte nicht zur Debatte stehen.“
Eng verbunden ist damit für Herr & Speer auch die Forderung nach einem neuen „unabhängigen Richterinnengremium (…), um europäische Rechtsstaatlichkeit besser schützen und überwachen zu können.“ Auf deutsch: ein europäisches Karlsruhe. Dass dies in der entsprechenden These sechs unter ein Zitat von Lenin gestellt wird („Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“), sollte wohl nicht überbewertet werden.
Dies sind nur kleine Einblicke in den überbordenden Ideenreichtum mit Anregungspotenzial, der auf über 300 gut geschriebenen und gut informierten Seiten niedergelegt wurde. Immer wieder geht es auch um ganz praktische Dinge. So wird zum Beispiel, das Beispiel des UN-Headquarters in New York aufnehmend, ein „Europäischer Distrikt“ in Brüssel gefordert, ein Gebiet also, das extraterritorial verwaltet wird und in dem alle EU-Organe ihr Zelt aufschlagen sollen (These acht). Ob die Belgier davon begeistert wären? Müsste man halt sehen …
Die große Stärke des Buches liegt just in der Thesenstruktur. (Fast) jede These ist für sich zu lesen und zu verstehen und informiert by the way über die Strukturen und die Arbeitsweise der EU. Unterwegs bricht sich immer wieder der Enthusiasmus der beiden Autoren Bahn, der aber mich zumindest sehr für sie einnimmt. Ach, gäbe es doch viele solcher Menschen! Aber es werden ja auch immer mehr
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.