„Mehr Europa wagen“

Warum mehr Europa unbedingt nötig ist, aber auch ziemlich nerven kann, erklärt Sven Giegold, Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament und engagierter Protestant
Sven Giegold
Foto: Dominik Butzmann
Sven Giegold (geboren 1969), ist als studierter Wirtschaftswissenschaftler und Politiker von Bündnis 90/Die Grünen seit über zwanzig Jahren in sozialen und ökologischen Bewegungen aktiv. Seit 2009 ist er Europaabgeordneter und Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament. Giegold gehört dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags an. Er ist Mitglied der EKD-Kammer für nachhaltige Entwicklung und Vorstandsvorsitzender der European Christian Convention (ECC).

zeitzeichen: Herr Giegold, Sie sind seit zwölf Jahren im Europäischen Parlament und gelten als einer der erfahrensten deutschen Europapolitiker. Wie definieren Sie Europa?

SVEN GIEGOLD: Europa, das ist im Wesentlichen da, wo die europäischen Werte gelebt werden und wo man sich einer Verfassungsordnung zugehörig fühlt. Und vor allem sind die Grenzen Europas nicht für alle Ewigkeit historisch gezogen. Natürlich gibt es gemeinsame Quellen des Zivilisationskonzeptes Europa. Das römische Recht, die griechische Philosophie, das Christentum, die Aufklärung, diese „großen Vier“ werden immer genannt. Aber wer sagt denn, dass nicht auch andere Länder sich dieses Zivilisations­konzeptes annehmen können, auch wenn sie andere geschichtliche Wurzeln haben? Aus diesem Grunde ist Europa für mich kein geschlossenes Konzept für eine soziologische Definition, sondern es ist ein Zivilisationsraum, der sich entwickelt. Und wo man diese Grenzen zieht, ist immer wieder neu auszuhandeln.

Momentan feiert auch im Raum der EU der Nationalismus fröhliche Urständ …

SVEN GIEGOLD: Ja, das ist offensichtlich. Allerdings gilt es wahrzunehmen, dass Nationalismus und Rechtspopulismus zwar große Überschneidungsbereiche haben, aber nicht notwendig dasselbe sind. Der Nationalismus ging ja von der Überlegenheit des eigenen Volkes gegenüber anderen aus und war auch zumindest darauf basierend immer wieder latent aggressiv. Die radikale politische Rechte hat ihre theoretische Basis heute aber nicht mehr – von Ausnahmen abgesehen – im Nationalismus, sondern eher in einem Konzept des Ethnopluralismus.

Was sollen wir uns darunter vorstellen?

SVEN GIEGOLD: Die Vertreter des Ethnopluralismus sagen, die Welt werde eine bessere, wenn möglichst gleichförmige Gruppen von Menschen in einer Region zusammenleben und sich eben nicht durchmischen. Daher auch die hetzerische Rede von der angeblichen „Ausrottung“ des deutschen Volkes durch Zuwanderung und Durchmischung, die ähnlich auch in Frankreich verläuft. Die Ethnopluralisten hingegen fordern, es solle nur Kooperationen und Verträge zwischen Staaten geben, aber eben keine Entwicklung zu einer europäischen Eigenstaatlichkeit und zu einer  uropäischen oder gar einen weltweiten Demokratie hin. Dagegen wäre Vieles zu sagen, zum Beispiel, dass menschliche Kulturen sich immer befruchtet und vermischt haben. Vor allem aber versündigt sich die extreme Rechte am Prinzip Verantwortung, denn Verantwortung für die Welt ist auf nationaler Ebene schlicht nicht mehr wahrnehmbar.

War es ein Fehler, manche Länder in Osteuropa in die EU aufzunehmen?

SVEN GIEGOLD: Nein, denn es gibt in allen zentral- und osteuropäischen Ländern starke Gruppen, die den europäischen Weg von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie beschreiten möchten und die gegen eine autoritäre, illiberale Variante der Demokratie sind. Das sieht man an den großen Massenprotesten gegen Korruption und autoritäre Herrschaft in der Slowakei, in Tschechien, in Bulgarien, in Rumänien. In Deutschland wird immer so getan, als seien diese Länder ein monolithischer Block, aber meine Erfahrungen sind andere: Sicher gibt es in diesen Ländern einen Stadt-Land- und einen Generationenkonflikt, und wie diese Konflikte ausgehen, ist unklar. Unsere Aufgabe als europäische Institutionen und als Zivilgesellschaft – und dazu zähle ich auch die Kirchen – ist es, beharrlich die Gruppen in Mittel- und Osteuropa zu stärken, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Garantie von Grundrechten wollen. Wenn wir das tun, gibt es gute Chancen, die Probleme in diesen Ländern zu überwinden.

Woher kommt Ihrer Meinung nach die Renaissance des Nationalismus in Osteuropa in den vergangenen Jahren?

SVEN GIEGOLD: Nationalismus und Rechtspopulismus sind sicher auch eine Konsequenz gewachsener regionaler Ungleichheit, also der Tatsache, dass immer noch ein gehöriges Wohlstandsgefälle zwischen den westlichen und den östlichen EU-Staaten und mehr noch zwischen erfolgreichen und abgehängten Regionen in Osteuropa herrscht. Andererseits aber ist es schlicht auch ein kulturelles Problem: Da gibt es viele Menschen, sicherlich mehr als in Deutschland oder Westeuropa, die wollen diese schnelle Veränderung nicht. Die wollen, dass der Mann weiter das Sagen hat, und die wollen traditionelle Lebensweisen nicht unter Druck sehen. Außerdem müssen wir zugeben, dass es Funktionsprobleme in Europa gibt, die das Ganze befördern, was unter Pro-Europäer:innen leider selten offen angesprochen wird.

Woran denken Sie da?

SVEN GIEGOLD: Die EU ist gegenwärtig noch zu schwach, um durch Handlungsfähigkeit und starke Symbole europäischer Gemeinschaft in unsicheren Zeiten zu überzeugen. Und weil europäische Räte und Gremien, die im Konsens ewig diskutieren, bei der Lösung großer Probleme sehr langsam sind, nährt dies bei vielen das Gefühl, Europa schaffe es weder gegenüber China und anderen Global Playern noch gegenüber der wachsenden Macht transnationaler Unternehmen, und das stiftet Verdruss. Wenn es eine handlungsfähigere Institutionenlandschaft gäbe, die demokratisch noch stärker fundiert ist, die also beides ausstrahlt, Handlungsfähigkeit und Demokratie mit einem Mut zu Identität und Symbolik, dann würde man Viele für Europa gewinnen, die heute von der Rückorientierung auf den Nationalstaat fasziniert sind.

Aber sind nicht gerade die Menschen in Osteuropa so EU-skeptisch, weil sie nach überwundener Zwangsbindung an die Sowjetunion sich nicht wieder einem kollektiven supranationalen Konzept unterordnen wollen?

SVEN GIEGOLD: Die Lage ist differenzierter: Gerade in den Ländern Osteuropas herrscht die Meinung, dass wir mehr Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Die wollen auf diesem Feld mehr Europa, denn sie haben zu Recht Angst vor Putin. Deshalb ist der Ausbau der politischen Handlungsfähigkeit der EU so wichtig. Das ist für viele, die eher von „Mitte-Links Proeuropäisch“ kommen, eher ungewöhnlich. Aber staatliche Handlungsfähigkeit ist zentral als Prophylaxe gegen Institutionen ablehnende autoritäre Wählergruppen.

Gerade läuft ja vieles schief in Sachen Rechtsstaatlichkeit, zum Beispiel in Polen und besonders in Ungarn. Wie weit sollte man gehen? Bis hin zum Ausschlussverfahren?

SVEN GIEGOLD: Darüber nachzudenken ist absolute Zeitverschwendung, denn eine Ausschlussoption gibt es in den EU-Verträgen nicht. Aber wir haben EU-Rechtsprinzipien, die man durchsetzen kann. Es ist ein großes Versäumnis, dass die Europäische Kommission sich in den vergangenen zwanzig Jahren immer weniger als Hüterin der Verträge gesehen hat. Teilweise zu Recht weisen Ungarn und Polen darauf hin, dass in ihren Ländern gegen bestimmte Rechtsstaatprobleme vorgegangen wird, die es in ähnlicher Form auch anderswo gibt. So gelingt es ihnen, die eigene Bevölkerung gegen die europäischen Institutionen aufzubringen.

Was könnte dagegen helfen?

SVEN GIEGOLD: Wir müssen unbedingt wieder dahin kommen, dass die europäischen Institutionen sich nicht nur ein paar wenige Vertragsverletzungsverfahrensfälle im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie suchen, sondern dass Vertragsverletzungen konsequent und zügig verfolgt werden. Die EU-Berichte sowohl bei Rechtsstaatlichkeit als auch bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die jährlich über alle Staaten gemacht werden, sind meist sehr verschwurbelt, und die Umsetzung der Empfehlungen wird bewusst schwer nachvollziehbar und vergleichbar dargestellt. Die EU verzichtet aus Rücksichtnahme gegenüber den Regierungen der Mitgliedsstaaten auf ihre eigenen Instrumente. Es bleibt also verborgen, wie groß die Widersprüche zu sozialen und ökonomischen Beschlüssen der EU, aber auch zum  europäischen Recht und zu den europäischen Rechtsprinzipien in vielen Ländern sind – eben nicht nur in Polen und Ungarn. Meiner Meinung nach gehört gerade die Durchsetzung der Grundrechte aber ganz nach oben auf die Maßnahmenliste der EU-Kommission. Dazu gibt es mehrere Instrumente, zuvorderst das ganz schnöde  ertragsverletzungsverfahren. Viele der Probleme könnten damit konkret angegangen werden, das zeigen einschlägige Urteile des Europäischen Gerichtshofes. Insofern be­dauere ich sehr, dass die von Ursula von der Leyen geleitete EU-Kommission diesbezüglich so eine Pick-and-Choose-Mentalität hat, und kann die Kritik daran gut verstehen.

Welche Zielvorstellung haben Sie bezüglich der Zukunft der Union: Eine eher lockere Verbindung der EU-Staaten oder ein europäischer  Bundesstaat?

SVEN GIEGOLD: Nach den Verträgen ist das ganz klar: "ever closer union". Es gibt jetzt erstaunlich viele, die das plötzlich nicht mehr wollen. Ich bin da ganz altmodisch, ich bin Mitglied der Europaunion, und seit den 1940er-Jahren ist das unser Ziel: ein europäischer föderaler Bundesstaat mit starken demokratischen Institutionen. "Ever closer union"  bedeutet nicht, dass alles europäisiert sein muss, sondern das ist ein Prozess, in dem weitere Rechtsbereiche  europäisiert werden müssen aufgrund der Globalisierung mit all ihren Folgen und der technischen Entwicklung. Das Ziel ist schon, irgendwann einmal eine richtige europäische Demokratie zu bauen, die wir ja heute nur imperfekt haben. Aber natürlich gilt das Sub­sidiaritätsprinzip, das gehört mit zu dieser Konzeption. Nur das, was man über­regional nachweislich besser regeln kann, darf man dort auch regeln.

Halten Sie es für eine sinnvolle Idee, dass beim Ausbau der Gemeinschaft immer wieder einzelne Länder gemeinsam voran­schreiten, oder müssen alle immer auf den Letzten warten?

SVEN GIEGOLD: Alle größeren Integrationsschritte der vergangenen zwanzig Jahre sind von Ländergruppen, die vorangingen, umgesetzt worden, etwa das Schengener Abkommen, die Einführung des Euro, die Bankenunion oder die Einrichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft. So ein Vorgehen ist äußerst sinnvoll. Aber die Vorstellung von einem „Kerneuropa“ halte ich für falsch. Alle Versuche, diesen Kern zu definieren, werden scheitern, denn manche Länder wollen bei bestimmten Dingen mehr Europa und andere bei anderen Dingen. Zudem führt ein fest definierter Kern zu einer neuen institutionalisierten Spaltung Europas.

In der Migrationspolitik werden sich doch aber kaum alle 27 EU-Staaten auf eine Linie einigen …

SVEN GIEGOLD: Ja, das stimmt. Und daraus folgt, dass die Länder, die bereit sind, hier weiterzugehen, sich zusammentun müssen, statt immer weiter zu warten. Im Bereich der Migrations- und Flüchtlingspolitik haben wir ja seit vielen Jahren im Rat der Mitgliedsländer den Minimalkonsens, dass man in Sachen Flüchtlingsabschreckung unter Duldung des Bruchs europäischen Rechts bereit ist, gemeinsam zu arbeiten – nicht aber bei der Aufnahme. Wir haben im Bereich der gemeinsamen Migrationspolitik also einen andauernden und sich immer wiederholenden Rechtsbruch. In Deutschland müssten Parlamentarier*innen das nicht dulden, denn da könnte man vors Bundesverfassungsgericht ziehen. Auf EU-Ebene aber braucht man für eine Normenkontrollklage vor dem Europäischen Gerichtshof eine Mehrheit im Plenum, und die gibt es nicht, genauso wenig wie eine gemeinsame Migrationspolitik im Rat der EU. Und deshalb haben wir leider auch kein juristisch scharfes Schwert, um zum Beispiel die Verhältnisse auf Lesbos und an anderen Orten zu verändern. Das ist empörend und extrem schmerzhaft!

Was muss nun konkret passieren?

SVEN GIEGOLD: Spätestens nach den französischen Präsidentschaftswahlen im April muss Deutschland zusammen mit Frankreich, Italien und Spanien eine Kerngruppe von Ländern bilden, die dafür sorgen, dass diese menschen­unwürdigen Zustände durch eine großzügigere Migrationspolitik ein Ende finden. Zum Glück haben wir bei uns anders als in vielen anderen EU-Ländern ja in der Bevölkerung ein durchaus flüchtlingsfreundliches Klima. Viele Kommunen wären im Rahmen der Seebrückenbewegung bereit, mehr Menschen aufzunehmen, und es ist durchaus auch ein Verdienst der Kirchen, dass das Meinungsklima in Deutschland bei dieser Frage nicht in die rechte Ecke abgerutscht ist. Herzlos ist, dass die Bundesregierung den Kommunen verbietet, weitere Schutzbedürftige aufzunehmen.

Zu den großen Baustellen gehört auch immer noch die gemeinsame Finanzpolitik, nach der großen Wirtschafts- und Finanz­krise 2008/2009 war ganz viel in der Planung. Unter anderem sollte endlich eine Finanztransaktionssteuer (FTT) kommen. Warum hat das bisher noch nicht funktioniert?

SVEN GIEGOLD: Der Grund dafür war, dass die europäischen Reformen nach der Finanzkrise im Wesentlichen den weltweit besprochenen Reformen entsprachen, und auf dieser Ebene war die FTT nicht einigungsfähig. Das hat dazu geführt, dass erst Jahre später das Europaparlament die Kommission dazu getrieben hat, einen Vorschlag vorzulegen. Da war aber ein großer Teil des Reformeifers nach der globalen Finanzkrise schon weg. Der Todesstoß war dann der sich abzeichnende Brexit. Denn Frankreich und Deutschland wollten ihr Stück vom Kuchen der City of London haben. Und dazu passt eine umfassende Finanztransaktionssteuer nicht. Unwirksam und unnötig ist die von Olaf Scholz geplante Aktiensteuer, die die besonders spekulativ genutzten Derivate unbesteuert lässt.

Äußerst unpopulär ist in Deutschland die Idee der Eurobonds. Hier haben viele die Angst, irgendwann für etwas bezahlen zu müssen, für das man gar
nicht verantwortlich ist. Können Sie das verstehen?

SVEN GIEGOLD: Natürlich kann ich das verstehen, denn wenn man gemeinsam haftet, dann braucht man auch gemeinsame politische Verantwortung. Für Eurobonds bräuchte es eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik. Leider ist diese differenzierte Debatte in Deutschland bisher nicht möglich gewesen, weil sich die Parteien rechts der Mitte entschieden haben, den Begriff Eurobonds zu dämonisieren, und haben mit der Behauptung, Grüne und SPD wollen die Haftung vergemeinschaften, ohne gleichzeitig Kontrolle zu übernehmen, einen Popanz aufgebaut. Fakt aber ist: Der Euro wäre längst zerbrochen, wenn die unabhängige EZB nicht faktisch ähnliche Zinssituationen in der gesamten Eurozone garantieren würde. Das tut sie seitdem, und deshalb ist auch die Debatte um die Eurobonds vorläufig erledigt. Allerdings trägt das dann natürlich gehörig zu der Geldschwemme bei, die wir derzeit haben.

Warum ist das ungünstig?

SVEN GIEGOLD: Diejenigen, die die Eurobonds dämonisiert haben, haben erreicht, dass es überall in Europa Niedrigzinsen mit einer faktischen Garantie niedriger Zinsen gibt, aber ohne die gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik, die uns ein demokratisches In­strument in die Hand gäbe, ganz Europa stärker zu machen. Ich halte das für ein klassisches Eigentor, das geschossen wurde, um eben Ängste bedienen zu können, die man vorher geschürt hat.

Das neueste große Projekt auf EU-Ebene ist der europäische Green Deal, der eine links-liberale Wirtschaftspolitikidee ist. Freut Sie das oder sehen Sie da eher skeptisch drauf, auf das, was Frau von der Leyen da plant?

SVEN GIEGOLD: Natürlich freue ich mich darüber, denn durch die Idee, die Kommissionspräsidentschaft unter dieses Motto zu stellen, hat Frau von der Leyen überhaupt erst eine Mehrheit möglich gemacht hat. Das muss man ihr hoch anrechnen. Allerdings gibt es leider sehr viele Kommissare, die sich jetzt im systematischen Verwässern üben, und es gibt viele  Mitgliedstaaten, die eigentlich konsequenten Klimaschutz gar nicht wollen. Das Ergebnis einer solchen Haltung ist dann eben das krachende Verfehlen der Klimaziele in Deutschland. Schon seit Jahren kann man beobachten, dass die Bundesregierung in Brüssel als Bremser beim ökologischem Fortschritt auftritt. Das ist auch wirtschaftspolitisch ein großer Fehler, denn es nimmt Deutschland die Chance, Innovationsmotor in Europa zu werden.

Die Stimmung in Europa für Europa war schon mal deutlich besser. Was müsste geschehen, um wieder mehr Europabegeisterung zu wecken?

SVEN GIEGOLD: Ich neige zu solchen Depressionen nicht, denn die meisten Deutschen sagen: Europa ist notwendig, wir wollen noch mehr davon … und im Übrigen nerven total viele Sachen an Europa! So etwa ist die Haltung. Gleichzeitig sind aber Viele bereit, ein Mehr an Europa zu wagen, wenn es gut gemacht wird. Insofern bleibt es wichtig, echte Fortschritte zu mehr Demokratie und Handlungsfähigkeit zu erzielen. Etwa die Abschaffung des  Einstimmigkeitsprinzips und mehr Mitwirkungsrechte für Bürger*innen und Parlamente, damit am Ende mehr Demokratie und mehr Handlungsfähigkeit stehen – immer beides, denn ich bin nicht für ein Europa der Staatschefs, sondern für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Sie sind bekennender Protestant, engagieren sich auf Kirchentagen und sind Vorstandsvorsitzender der European Christian Convention. Wie verlief Ihre kirchliche Sozialisation?

SVEN GIEGOLD: In meiner Herkunftsfamilie waren alle Kirchenmitglieder, aber das spielte im Alltag überhaupt keine Rolle. Doch im Konfirmationsunterricht habe ich meinen Glauben entdeckt und bin meiner Pastorin dafür sehr dankbar. Eine Zeit lang ging ich dann immer alleine in die Kirche, bis es zu einer Zäsur kam. In meiner Gemeinde arbeitete auch ein Pfarrer, der schwul war und mit seinem Partner auf dem Kirchengelände zusammenlebte. Das führte zu großen Konflikten in der Gemeinde, in denen die Landeskirche und meine Pastorin sich in meinen Augen sehr fragwürdig verhielten. Deshalb habe ich den Kontakt zur Kirche für viele Jahre abgebrochen, war aber weiter gläubig und habe die Bibel gelesen, das war wichtig für mich. Über die Kirchentage und die Arbeit in der Zivilgesellschaft, wo eben Christinnen und Christen eine wichtige Rolle spielten, kam ich dann wieder in Kontakt zur Kirche. Und dann habe ich in eine sehr christliche Familie eingeheiratet. Mein lieber Schwiegervater ist emeritierter Dekan der evangelischen Theologie in München und hilft mir auf dem Weg. Sagen wir es mal so: Ich werde jedes Jahr frommer.

 

Das Gespräch führten Stephan Kosch und Reinhard Mawick am 4. August per Videokonferenz.
 

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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