Vor über siebzig Jahren erhoben sich aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges erste Vorformen der heutigen Europäischen Union. Die Politikwissenschaftlerin Sophia Marschner hat über die Geschichte der EU promoviert. Sie schildert in ihrem Beitrag die wichtigsten Stationen des europäischen Staatenbundes von den Anfängen bis heute.
Die Covid-19-Pandemie traf die Europäische Union 2020 unvorbereitet. Viele Staaten zogen sich auf sich selbst zurück, um auf nationaler Ebene die Lage unter Kontrolle zu bringen. Von März bis Juni 2020 blieben die Grenzen zwischen den EU-Mitgliedstaaten geschlossen. Der europäische Gemeinschaftsgeist schien erloschen. Inzwischen läuft das EU-Aufbauprogramm, die Wirtschaft erholt sich, Staats- und Regierungschefs treffen sich wieder persönlich, und die Europäer genießen es, die Ferien im Ausland verbringen zu können.
In der Pandemie war das Konstrukt EU verletzlich und schwerfällig, gerade als es um so viel ging. Es zeigte sich aber auch, wie selbstverständlich die Europäer zur gewohnten Zusammenarbeit zurückfanden. Auch das ist Teil der Erfolgsgeschichte der Europäischen Union. Wie hat es begonnen?
Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges entstanden mehrere internationale und europäische Organisationen, darunter die NATO, der Europarat, die OECD. Pläne zu einer staatenübergreifenden europäischen Vereinigung hatte es schon lange gegeben. Sie gingen von Politikern, von Intellektuellen und Kulturschaffenden aus. Der Grundstein der heutigen Europäischen Union wurde 1950 in Frankreich gelegt: Der französische Außenminister Robert Schuman und der Unternehmer und Wirtschaftsplaner Jean Monnet erarbeiteten ein Konzept zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft, das gleichzeitig Deutschland wieder einbinden würde.
Der „Schuman-Plan“ wirkt schlicht, war aber doch psychologisch durchdacht: Durch die Herstellung eines gemeinsamen Interesses sollte eine „Solidarität der Tat“ geschaffen werden. Konkret: Die gesamte Kohle- und Stahlproduktion Frankreichs und Deutschlands sollte einer gemeinsamen, übernationalen und unabhängigen „Hohen Behörde“ unterstellt werden, ohne dass sich etwas an den jeweiligen Besitzverhältnissen änderte. Neben Frankreich und Deutschland traten auch Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Italien der neuen Gemeinschaft bei.
Auch wenn es anfangs nur um den begrenzten Bereich der Schwerindustrie ging, bildete die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), auch Montanunion genannt, dann doch die Grundlage der heutigen Europäischen Union.
Die EU pflegt auch heute noch das Andenken an ihre charismatischen Gründungsväter Schuman und Monnet, die mit Enthusiasmus und auf Grundlage ihres christlichen Glaubens etwas erschufen, das sich nach dem Weltkrieg nur wenige vorstellen konnten. Jean Monnets Wunsch und Motto: „Wir vereinigen keine Staaten, wir vereinigen Menschen.“
Das herausragende Merkmal der neuen Organisationsform war die „Hohe Behörde“ als eine übernationale Ebene, der die Partner in einem beschränkten, aber bedeutenden Bereich Befugnisse übertrugen, indem sie auf einen Teil ihrer Souveränität verzichteten. Das war damals ein Tabubruch und ist auch heute noch etwas Besonderes. Die Kommission der heutigen EU ist die Nachfolgerin der „Hohen Behörde“. Von ihr gingen immer wieder wichtige Impulse und neue Integrationsschritte aus.
Bei der Montanunion blieb es nicht. Es gab Ideen zu einer stärkeren politischen oder militärischen Zusammenarbeit. Die Wirtschaft stand aber weiter im Zentrum. Am 25. März 1957 unterzeichneten die Mitgliedstaaten der Montanunion die Römischen Verträge, die der EGKS noch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) zur Seite stellten.
Acht Jahre später wurden die Organe der drei Gemeinschaften fusioniert. Neben der Kommission und dem Ministerrat waren das die Parlamentarische Versammlung und der Gerichtshof. Erster Kommissionspräsident wurde der Deutsche Walter Hallstein, von dem der Ausspruch stammt: „Wer in europäischen Angelegenheiten nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“
Unterschiedliche nationale Standards
Um die Wirtschaften der Mitgliedstaaten enger miteinander zu verknüpfen, mussten Zölle und Handelshemmnisse abgebaut werden. Ein entscheidender Motor in dieser Integrationsphase war der Europäische Gerichtshof (EuGH), das gemeinsame Rechtsprechungsorgan der Gemeinschaft. Die Wirtschaftsunion wäre ohne Entscheidungen zum freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten oder zur Anerkennung unterschiedlicher nationaler Standards nicht möglich gewesen. Wichtig hierbei: Der EuGH ist selbst kein Gesetzgebungsorgan. Er ist für alle die Gemeinschaftsverträge betreffenden Streitsachen zuständig sowie für die Wahrung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Europäisches Recht steht über nationalem Recht, umgesetzt wird es aber von den nationalen Gerichten. EuGH-Entscheidungen sind für alle Mitgliedstaaten bindend.
Der Erfolg der EWG lockte andere europäische Staaten an. Sie war nie als geschlossene Gesellschaft gedacht. Als erste neue Mitglieder kamen 1973 Großbritannien und Dänemark dazu. Großbritannien war dabei von Anfang an ein Sonderfall in der europäischen Integrationsgeschichte, von der Organisation gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Selbst nach dem EWG-Beitritt überwog das Unbehagen, sich gemeinsamen Institutionen und Regeln zu unterwerfen, was sich unter anderem im sogenannten Britenrabatt niederschlug, einer Reduzierung der britischen Beitragszahlungen in den gemeinsamen Haushalt. Mit der Vertiefung der Gemeinschaft, also der zunehmenden Verflechtung und Verstärkung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, hatten die Briten ein echtes Problem. Sie nahmen deswegen nicht in vollem Ausmaß an der Wirtschafts- und Währungsunion teil. Sie wurden nicht Teil des Schengener Abkommens über den Abbau von Binnengrenzen und lehnten auch die 2000 in Nizza beschlossene Grundrechtecharta der EU ab. Nach einem Referendum verließ Großbritannien 2021 nach 47 Jahren die EU und ist nun wieder durch bilaterale Verträge mit ihr verbunden.
Bewirbt sich heute ein Staat um Aufnahme in die EU, sind „Sonderwünsche“, gar ein „Europa à la carte“ kaum mehr möglich. Seit 1993 müssen Beitrittsbewerber vor Verhandlungsbeginn die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllen. Diese enthalten politische und wirtschaftliche Voraussetzungen, sowie die Frage nach der Fähigkeit des Bewerbers, die Verpflichtungen und Ziele der EU mitzutragen.
Jede Erweiterung veränderte die Gemeinschaft und auch ihre Stellung und ihren Einfluss in der Welt. Erweiterung und Vertiefung liefen deshalb immer parallel und bedingten sich gegenseitig. Aus der EWG wurde so die EG, schließlich die EU. Mit Griechenland, Spanien und Portugal traten 1983 und 1986 Staaten bei, die sich gerade erst von Diktaturen befreit hatten. 1995 folgten Schweden, Finnland und Österreich. Diese Staaten waren als Mitglieder der 1960 gegründeten Europäischen Freihandelsassoziation bereits durch bilaterale Verträge mit der EWG verbunden, was die Beitrittsverhandlungen erleichterte. Ihre größte Erweiterungsrunde vollzog die europäische Staatengemeinschaft 2004: Zehn osteuropäische Staaten traten der Europäischen Union, wie sie inzwischen offiziell hieß, bei. 2007 folgten Bulgarien und Rumänien, 2013 Kroatien.
Parallel dazu hatte die Gemeinschaft einen weiteren Quantensprung geleistet: den Vertrag von Maastricht von 1993 über die Realisierung des europäischen Binnenmarktes, der in die Wirtschafts- und Währungsunion führte. Mit dem Schengener Abkommen fielen 1995 die Grenzkontrollen zwischen den meisten Mitgliedstaaten – für die Bürger der EU neben der Einführung der gemeinsamen Währung (ab 2002) eines der spürbarsten Zeichen der großen Veränderungen seit dem Zweiten Weltkrieg.
Neue Voraussetzungen, aber auch Krisen veränderten die Rolle der einzelnen Institutionen: Als 1991 in Jugoslawien ein Bürgerkrieg ausbrach, verfügte die Gemeinschaft nicht über die Instrumente und Modalitäten, ernsthaft auf den Konflikt in ihrer Nachbarschaft einzuwirken. Ohne eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ging das nicht.
Doch gerade bei diesem Thema stellen sich heikle Fragen, die tief in die Souveränität der einzelnen Staaten reichen. Dazu kommen widerstreitende Interessen, unterschiedliche geographische Voraussetzungen, Traditionen und Emotionen. Deshalb gibt es heute zwar einen EU-Außenbeauftragten. Die Rolle der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat bleibt aber übergeordnet – und damit die zwischenstaatliche Zusammenarbeit.
Die Gipfeltreffen, das oftmalige Ringen der Staats- und Regierungschefs um Kompromisse oder Konzessionen, hochdramatische Nachtsitzungen und Rivalitäten zwischen einzelnen Personen erhalten hierbei oft viel größere mediale Aufmerksamkeit als Sitzungen der Kommission, des Parlaments oder des Ministerrats. Je mehr Staaten und Egos mitstimmen, desto schwieriger fallen Entscheidungen. Genauso im Europäischen Parlament: 705 Abgeordnete vertreten die Interessen von gut 447 Millionen Unionsbürgern. Seine Rechtsetzungs- und Haushaltsbefugnisse konnte das Parlament seit der Montanunion stark ausbauen, ebenso seine Einflussmöglichkeiten auf die anderen Organe der EU.
Vertragsreformen und neue Verträge wurden notwendig, um die Institutionen und Abstimmungsmodalitäten zu reformieren und die wachsende Gemeinschaft beweglich zu erhalten. Maastricht, Amsterdam, Nizza, Lissabon – jeder Vertrag ist wie eine Chiffre für die Weiterentwicklung der Gemeinschaft hin zur politischen Union und für ihr steigendes Selbstbewusstsein, mehr und mehr Themen gemeinschaftlich anzugehen.
Der Traum einer europäischen Verfassung aber scheiterte: Franzosen und Niederländer lehnten sie 2005 in Referenden ab. Ein neuer Anlauf zu einer Verfassung wurde nicht unternommen. Nach wie vor bilden also die Verträge die Grundlage der Zusammenarbeit. Immerhin wurde 2009 im Reformvertrag von Lissabon die für die Verfassung ausgearbeitete Grundrechtecharta in den EU-Rechtsbestand übernommen.
Eine Vereinigung aus heute 27 Staaten ist anderen Fliehkräften ausgesetzt als eine mit sechs. Wird die interne Einigung komplizierter, entstehen innerhalb der Union lose Koalitionen. Dem französisch-deutschen Führungsduo kam immer eine besondere Bedeutung zu, nicht zuletzt, weil die langen Amtszeiten der deutschen Kanzler eine gewisse Kontinuität schafften. Weitere Beispiele sind das Weimarer Dreieck aus Deutschland, Frankreich und Polen oder die Visegrad-Gruppe aus Slowakei, Polen, Tschechien und Ungarn. Von solchen Gruppen können wichtige Impulse ausgehen.
Dem amerikanischen Außenminister Donald Rumsfeld gelang es hingegen 2003, mit seinen Bemerkungen zu einem „alten“ und einem „neuen Europa“, die Staaten in der Frage der Teilnahme am Irakkrieg in zwei Blöcke auseinanderzudividieren.
Es gibt auch Ad-hoc-Koalitionen, die sich auf Gipfeln zu bestimmten Themen vereinen, wie etwa die „Sparsamen Vier“ (Österreich, Dänemark, die Niederlande und Schweden), die sich für eine strengere Fiskalpolitik in der Eurozone und gegen gemeinsame Schulden einsetzen.
Wohin will die EU? Wohin kann sie? Manche wünschen sich den europäischen Bundesstaat, andere lehnen ihn vehement ab. Der Begriff des „Europas der Vaterländer“ ist vor allem mit dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle verbunden. Für ihn sollten die Staaten die „Eckpfeiler“ und die Realitäten bleiben, auf denen sich Europa aufbaut. Supranationales würden die Völker nicht annehmen. Die Wahrung der nationalen Souveränität stehe über allem. Ein heutiger Verfechter des Europas der Vaterländer ist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der mit dem Begriff seine Skepsis gegenüber europäischer Integration oder einem europäischen Föderalismus ausdrückt. Eine Einheit der Werte gibt es für ihn nicht und deshalb auch keine politische Einheit.
Verwandt mit dem Konzept des Europas der Vaterländer ist die Idee eines Kerneuropas beziehungsweise einer flexiblen Integration, die insbesondere auf einen Entwurf Wolfgang Schäubles zurückgeht. Kerneuropa heißt: Ein kleiner Kreis von Staaten – in diesem Fall Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten, also fünf Gründungsstaaten – geht in einer engeren Kooperation voran, der sich andere Staaten freiwillig anschließen oder eben nicht. Der Gedanke dahinter: Die große Staatenverbindung bleibt beweglich und muss nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner von 27 Mitgliedern verharren.
Letztlich aber ist die Europäische Union ein Konstrukt, das immer auf die Bereitschaft aller seiner Mitglieder angewiesen war, es am Leben zu erhalten und in einer sich rasant ändernden Welt weiter zu bringen. Wie reagiert man gemeinschaftlich auf den Klimawandel, auf Kriege, auf wirtschaftliche Rivalen, auf schwierige politische Partner?
Integrationsfähigkeit von innen ausloten
Ideen gibt es genug: Der Green New Deal der Kommission zum Beispiel, verkündet in diesem Frühsommer, soll die EU fit für die Klimazukunft machen. Die Bürgerinitiative „Jeder Mensch“ kämpft für eine modernisierte Grundrechtecharta, die Digitalisierung und Klimawandel mitdenkt.
Und dann gibt es immer auch einzelne Mitgliedstaaten, die von innen die Integrationsfähigkeit ausloten. Wie geht man mit jenen um, die die Grundlagen der europäischen Vereinigung ablehnen? Wie weit kann man sie integrieren? Oder will man sie etwa ausschließen? Sicher nicht, denn die Europäische Union ist eine Methode der Zusammenarbeit. Die „Solidarität der Tat“ muss jeden Tag aufs Neue geleistet werden, auch wenn es in einer 27-Staaten-Gemeinschaft mit über 450 Millionen Einwohnern schwerfällt.
Seit 2000 besitzt die Europäische Union ein Motto: „In Vielfalt geeint.“ Bei offiziellen Anlässen wird die Europahymne gespielt und die blaue Flagge mit den zwölf goldenen Sternen gehisst. All dies ist zu einem guten Teil selbstverständlich geworden, weil es für etwas steht, das dem eigenen Vorteil genauso dient wie dem gemeinsamen. Der Glaube der Gründerväter an das europäische Wunder hat sich ausgezahlt. Jean Monnets Wunsch ist aber auch ein Aufruf an jeden Europäer: „Wir vereinigen keine Staaten, wir vereinigen Menschen.“
Sophia Marschner
Dr. Sophia Marschner promovierte 2010 in Düsseldorf über „Die Geschichte der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des Weges Österreichs in die Europ. Union“. Sie arbeitete in Werbung und PR.