Eine destruktive Lesart

Der Islam soll ihnen nur dienen – über die Ideologie der Taliban, die keine pluralen islamischen Glaubensrealitäten kennt
„Ein religiöser Übergriff, eine pervertierte Missdeutung des Islams.“ Ein Kämpfer der Taliban kontrolliert eine Menschenmenge in Kabul Mitte September 2021.
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„Ein religiöser Übergriff, eine pervertierte Missdeutung des Islams.“ Ein Kämpfer der Taliban kontrolliert eine Menschenmenge in Kabul Mitte September 2021.

Das islamische Verständnis der Taliban besitzt keine konstitutive Offenheit, sondern versteht sich als Wahrheits­verkündung. Religiöse Demut ist nicht  vorhanden. Ahmad Milad Karimi, deutsch-afghanischer Religionsphilosoph und Islamwissenschaftler von der Universität Münster, beschreibt die  Weltanschauung und Herkunft der Taliban.

Das Phänomen Taliban ist eine sozio-politische, aber auch eine religiöse Bewegung, eine religiöse Reformbewegung, die islamistisch-extremistisch, militant-terroristisch, sexistisch-frauenfeindlich und fundamentalistisch-radikal geprägt ist. Die Taliban sind dogmatisch-sunnitisch, puritanisch bestimmt mit einem höchst patriarchalen Habitus. Ihre Kämpfer verstehen sich meistens als Afghanen mit dem Verweis, dass in ihnen das afghanische Blut fließt, aber in ihrer ideologischen, sozio-kulturellen, religiös-politischen Prägung wurzeln sie in Pakistan. Obgleich ihre Ursprünge im indischen Subkontinent der Kolonialzeit des 19. Jahrhundert liegen, so ist doch das genuin pakistanische Motiv ihrer Identität von tragender Bedeutung: Der Islam dient ihnen nicht als Religion, als eine Glaubensrichtung, sondern als eine konstitutive identitäre Instanz. Dabei sind die pluralen islamischen Lebens- und Glaubensrealitäten auf eine einzige, engstirnige, im Kern destruktive Lesart reduziert, sodass der Islam ihnen dient, ihrer ideologischen Formierung.

Der Islam ist aber keine homogene Religion, die auf eine einzige Lehrmeinung, eine autoritäre Instanz, eine Institution und eine Praxis zurückzuführen wäre. Diese religiöse Pluralität bietet keine Plattform für Beliebigkeit. Vielmehr zeigt sich der Wahrheitsgehalt einer religiösen Auffassung darin, inwieweit sie sich in einem rationalen Wettbewerb der Plausibilitäten durchsetzt. Damit ist alles Islamische diskursiv, streitbar, eben plural. Selbst der sunnitische Islam ist nicht monolithisch, denn es existieren mehrere Rechtsschulen, mehrere Glaubensschulen, die in ihrer jeweiligen Form heterogen bestimmt sind. Sie unterscheiden sich in ihrem methodischen Zugang, in ihrer logischen Fundierung, in ihrer erkenntnistheoretischen Prägung et cetera. Das religiöse Bestreben dabei besteht nicht darin, diese Unterschiede zu tilgen, den „einen“ Islam zu kreieren, sondern den jeweiligen Zugang, die Methode und Erkenntnistheorie zu verfeinern, eben in einem rationalen Plausibilitätswettbewerb. Die Grundeinsicht dahinter: Kein Mensch verfügt über die Wahrheit. Die Wahrheit ist vielmehr Sehnsucht. Und der Mensch: ein Suchender.

Eindeutigkeitsfetischismus

Deshalb gehört das Bemühen um das bestmögliche Islamverständnis zur Lebensrealität der Muslime. Zu dieser Realität gehört aber auch, dass neben den Tendenzen, die den Glauben als ein Ringen um die Wahrheit begreifen, auch Strömungen existieren, die für eine strikte Eindeutigkeit kämpfen. Es liegt nun an der Natur des Eindeutigkeitsfetischismus, dass er zur Radikalität neigt, weil er prinzipiell pluralitätsfeindlich aufgestellt ist. Die Tendenz zu dieser Haltung ist in der islamischen Geschichte aber meistens sozio-politisch motiviert.

Die Entstehung einer dieser Strömungen, aus deren Lehrzentren die Taliban entstanden sind, lässt sich am besten im indischen Subkontinent erkennen. Im 19. Jahrhundert existierten unterschiedliche muslimische Glaubensrichtungen in Indien, vor allem mystische Traditionen, die dialogisch eingestellt und offen für eine Vielzahl spiritueller Ausdrucksformen waren. Aber es existierten auch Tendenzen, die für eine Abschottung der Muslime von den Hindus und den Briten eintraten und die mystischen Traditionen strikt ablehnten.

Den entscheidenden Schritt für einen radikalen Puritanismus dieser Bewegungen bildete ein politisches Ereignis: der Aufstand von 1857. Dieser Aufstand gegen die Kolonialherrschaft der Briten über den indischen Subkontinent scheiterte. Bei dieser nationalen Volksbewegung spielten die Muslime eine tragende Rolle und wurden dafür Opfer einer repressiven Politik der Kolonialherren. Im Unterschied zu den mystischen Traditionen, die weiterhin ihren ästhetischen, dialogischen Weg verfolgten, kam es zu einer grundsätzlichen politischen Entscheidung der Muslime, die ohnehin für eine puritanische Religionsauffassung plädierten: die endgültige Abschottung von hinduistischen und insbesondere britischen Einflüssen.

Als Reaktion auf die repressive britische Machtausübung, wozu auch die Schließung und Zerstörung deren Madrasas (rudimentäre religiöse Bildungsstätten) in Delhi gehörte, sahen diese Gruppen im „reinen“ Islam die einzige Lösung ihrer unterdrück­ten Situation. 1866 kommt es zur Gründung einer Lehrstätte in der Kleinstadt Deoband, die nordöstlich Delhis im Bundesstaat Uttar Pradesh liegt: Darul Ulum Deoband. Dabei handelte es sich um eine Religionsschule nach dem Vorbild der Madrasas. Die Deobandi-Einrichtung als Produkt der Kolonialzeit organisierte ihre Lehre immer professioneller mit Lehrkräften, Klassen, einer aufeinander abgestimmten Lehrkonzeption, die sich aber allein auf eine rudimentäre religiöse Schulung konzentrierte: Koran, Hadith, Rechtslehre und systematische Theologie.

In den darauffolgenden Jahrhunderten avancierte Darul Ulum Deoband zu einer viel beachteten religiösen Hochschule, die zahlreiche weitere Madrasas auf dem gesamten Subkontinent einrichten ließ. Genauer betrachtet ist die Deobandi-Theologie eine Reformbewegung, die als Reaktion auf die erbarmungslose Politik und Diskriminierung der Muslime im indischen Subkontinent entstand, das heißt politisch motiviert war, aber sich apolitisch organisierte.

In ihrer reformistischen Geste ist die Deobandi-Ideologie bis heute mit dem Wahhabismus in Saudi-Arabien vergleichbar. Die religiöse Reformüberzeugung formierte sich nicht in einer religiös-motivierten, politischen Auseinandersetzung mit den christlich-westlich geprägten Kolonialherrschern oder mit den hinduistischen, buddhistischen Bevölkerungsgruppen, auch nicht mit den abgelehnten und verhassten Schiiten, sondern in einer subtilen Form der puritanischen Zurückgezogenheit. Ihre Ideologie besteht darin, sich auf das genuin Islamische, rein Islamische zu besinnen – als „der Weisheit letzter Schluss“, um eine Wendung Goethes zu bemühen.

Die Phantasie eines reinen Islams wird dabei zu einem Fetisch, weil er zum einen im reinen Islam die Zaubermittel erblickt und zum anderen etwas begehrt, was nicht ist, aber sein soll. Deshalb betrachten ihre Anhänger ihre Deobandi-Theologie nicht als eine islamische Lesart, sondern als den Islam, den wahren Islam. Der wahre, reine Islam bedeutet ihnen Arbeit. Zu dieser Selbsteinkerkerung gehört aber auch konstitutiv eine antiwestliche, antischiitische, immer mehr auch antimystische Haltung, die bemüht ist, programmatisch rückwärtsgewandt zu sein. Denn kulturpessimistisch werden die zivilisatorischen Fortschritte als Dekadenz, als Entfernung zur reinen Lehre des Islams, zum Willen Gottes begriffen. Daher wird in der Zurückgezogenheit, im konzentrierten Memorieren einer reinen Lehre, im rein moralisierenden Habitus der Vergegenwärtigung prophetischer Überlieferungen und in der Selbstdisziplinierung, sich von jeglichen Einflüssen rein zu halten, ihre Ideologie verfestigt.

Stagnierende Auslegung

Herausforderungen der Moderne, offene Fragen, aber auch Diskreditierungen anderer Auffassungen wurden auf die Erteilung von Fatawa beschränkt. Dazu dient den Taliban die Theologie und die Rechtslehre als Mittel zu diesem Zweck, wobei ihre Bezugnahme auf den Theologen al-Māturīdī (gestorben 941) und die hanafitische Rechtsschule sie von den Wahhabiten zwar formal unterscheidet, aber der Umgang mit diesen nicht unähnlich ist.

Das islamische Verständnis der Taliban, ihre Lehrmeinung, besitzt keine konstitutive Offenheit, sondern sie versteht sich als Wahrheitsverkündung. Religiöse und epis­temische Demut sind nicht vorhanden. Die Religion ist für ihr Verständnis ein Feld der Essentialismen. Die Einsicht, dass ihr Verständnis der Wahrheit allein ein Verständnis der Wahrheit ist, kennt keinen Raum. Dies ist allen voran für die sogenannte Scharia am eindringlichsten belegt, deren stagnierende Auslegung die Grundsäule ihrer Deobandi-Ideologie bildet.

Absolut unverfügbar

Die in der klassischen islamischen Lehrtradition etablierte Erkenntnis, dass die Scharia als kodifiziertes Gesetzbuch nicht existiert, sodass sie weder eingeführt werden kann, noch weltlich auffindbar ist, wird mit der deobandi-talibanösen Vorstellung negiert, dass das Verständnis der Scharia mit der Scharia gleichgesetzt wird. Die Scharia ist zu verstehen als Gottes Urteil über das menschliche Verhalten und Handeln. Sie begründet als Norm vor allem die ethische und moralische Haltung des Menschen, aber als solche ist sie absolut unverfügbar. Die Annäherung zur Scharia ist traditionell an Kriterien, Methoden und Lebensumstände gebunden, die sich stetig ändern, sodass es mehrere Scharia-Verständnisse gibt. Das menschliche Verständnis (fiqh) der Scharia bleibt daher immer relativ, fehlbar, optimierbar und mehrdeutig. Insofern kann es sich keine theologische Position sachlich-vertretbar leisten, sich auf eine bestimmte Lesart, alternativlos, lebensfremd und lebensfeindlich, geschlossen und endgültig zu fixieren. Doch diese strikten Deobandi-Lehren verbreiten sich seit Jahrhunderten im gesamten indischen Subkontinent, wozu heute auch das Land Pakistan gehört. Nicht nur eine eigene Partei, Jamiat Ulema-e-Islam (Vereinigung islamischer Gelehrter), sondern auch eine Vielzahl an Deobandi-Schulen entstanden in Pakistan. Ihre Absolventen, die als Mullahs und Religionsgelehrte (ulamā) in den Madrasa entsandt werden, indoktrinierten rigoros mit ihren Lehren die muslimischen Schüler (wörtlich Taliban).

Ab 1979 gehörten zu den Schülern auch afghanische Flüchtlinge, die im Zuge der sowjetischen Invasion in Afghanistan unter anderem in Pakistan Zuflucht fanden. Die Lage der drei Millionen afghanischen Flüchtlinge blieb ungewiss; sie waren fast mittellos, ihre Kinder blieben ohne Schulbildung. Die meisten Männer wurden für den Widerstandskampf gegen die Invasoren rekrutiert, die ihren Kampf als einen religiösen Widerstandskampf begriffen, eben als Dschihad, der vom damaligen pakistanischen Militärdiktator Ziaul Haq (1977 – 1988) gezielt gefördert wurde.

In dieser Atmosphäre wurden die Deobandi-Madrasas sehr beliebt. Diese Schulen dienten als Rekrutierungsfeld für die Muǧāhidīn (Mudschahhidin) und die Taliban. Sie nahmen Jungen und Jugendliche der Flüchtlinge kostenlos auf und erteilten ihnen ihre Lehren. Entlang der Grenze zwischen Afghanistan und Pakis­tan entstanden zahlreiche Madrasas, in denen – vor allem in Akora Kathak (in der Nähe von Peshawar) – die meisten heutigen Talibananführer ausgebildet wurden. Im Interesse des pakistanischen Geheimdienstes (gemeinsam mit den USA, einigen westlichen Staaten und Saudi-Arabien) lag nicht nur die Förderung der Muǧāhidīn gegen die kommunistische Bewegung in Afghanistan, sondern etwa ab 1985 auch die Förderung und militärische Ausbildung der Talibanbewegung. Im Unterschied zu den Muǧāhidīn, die sich immer mehr von ihren pakistanischen Förderern emanzipierten, waren die Taliban relativ ungebildet, deutlich radikaler und ungebildet-fremd gegenüber der innerafghanischen Geschichte und Kultur, aber durchaus mit meist paschtunischen Stammesvorstellungen behaftet. Insofern waren die Schüler (Taliban) für eine Indoktrination der Deobandi-Lehren und mithin für das Deobandi-Reformanliegen besser geeignet als die Mudschahhidin, die zuweilen ebenso radikal und religiös-antiquiert geprägt, aber selbst mit den afghanischen Lebenswelten vertraut und in ihren religiösen Einstellungen plural aufgestellt waren und mehrere rivalisierende Gruppierungen bildeten. Nach dem Abzug der sowjetischen Armee aus Afghanistan und der Machtübernahme der Muǧāhidīn versank Afghanistan in einem Bürgerkrieg dieser rivalisierenden Gruppierungen.

Die Taliban formierten sich Anfang der 1990er-Jahre endgültig zu einer politisch-ideologischen Bewegung mit dem Ziel, Afghanistan zu befreien. Dieser Befreiungskampf sollte aber nicht Afghanistan dienen, sondern dem Islam. Die afghanische Flagge wird mit einem weißen Tuch ersetzt, worauf das islamische Bekenntnis zu lesen ist, so auch das afghanische Radio ersetzt wird durch eine Radio-Scharia et cetera. Daher bildet die Legitimation ihrer Ideologie, als Mittel ihres Kampfes, allein der Islam, der Islam als Befreiungskampf, ein Kampf im Namen Gottes unter der Berufung auf die Scharia. Die Taliban in Afghanistan setzen diese Ideen in die Praxis um, die drakonische Strafen, Körperstrafen, Steinigungen, Hinrichtungen für legitim erachtet.

Aus ihrer stagnierenden, methodisch betrachtet blind-nachahmenden, engstirnigen Lesart des Islams entsteht eine Ideologie, die nicht nur auf einer rigorosen, strikten Einhaltung von Ritualen basiert, Zeremonien (wie den Geburtstag des Propheten) ablehnt, Pilgerfahrten zu Heiligtümern verbietet, die schiitische Interpretation des Islams ablehnt, die Mystik abweist und allen voran eine höchst sexistische, frauenfeindliche Haltung predigt. Die Nichtsichtbarkeit der Frauen wird gedeutet als ein tragendes Zeichen einer moralisch geordneten Gesellschaft, die theokratisch bestimmt ist. Die Staatsgewalt wird ausschließlich religiös legitimiert und von einem amīr al-muminīn, das heißt einem „Befehlshaber der Gläubigen“, geführt. Im Gegensatz zu einem liberal-demokratischen Rechtsstaat setzen sich die die Gesellschaft regelnden Normen ausschließlich aus Verfügungen der Taliban zusammen, die allein religiöser Natur sind. Damit wird weder die Trennung von Staat und Religion angenommen noch von weltlichem Recht und religiösen Normen. Dem säkularen Recht wird dabei jeder Geltungsgrund abgesprochen. Die Idee dahinter: Nur der Islam führt zum religiösen und politischen Heil.

Angesichts dieses religiösen Übergriffs, einer pervertierten Missdeutung des Islams, können und dürfen die islamisch-theologischen Institutionen nicht schweigen. Sie dürfen die Ideologie der Taliban nicht hinnehmen, als wäre auch diese Lesart eine mögliche Lesart des Islams. Sonst wird ihre Religion von innen her zerstört. 

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Foto: Elif Kücük

Ahmad Milad Karimi

Ahmad Milad Karimi, geb. 1979 in Kabul, studierte Philosophie und Islamwissenschaft an der Universität Freiburg i.Br. und wurde 2012 mit einer Arbeit über Hegel und Heidegger promoviert. Er ist ordentlicher Professor für Kalām, islamische Philosophie und Mystik an der Universität Münster. Karimi ist stellvertretender Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster, Leiter der internationalen Muhammad Iqbal-Forschungsstelle. 2019 erhielt er den Voltaire-Preis für „Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz“ der Universität Potsdam.


 

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