Immer wieder 'raus aus der Blase

Ein Blick zurück zum Jubiläum der Evangelischen Verlagsanstalt

Als die Evangelische Verlagsanstalt (EVA) 1956 ihr zehnjähriges Jubiläum feierte, begann man in der St. Marienkirche in Berlin-Mitte mit einem feierlichen Dankgottesdienst. Im Gottesdienst predigte Friedrich-Wilhelm Krummacher, der im Jahr zuvor Bischof in Greifswald geworden war. Um den Dienst hatte ihn der Verlag vermutlich gebeten, weil er bei der Gründung des Verlages 1946 zusammen mit dem Berliner Propst Heinrich Grüber die beiden Gesellschafter der V erlags-GmbH repräsentierte, die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg und das Kirchliche Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, aus dem bald das Diakonische Werk werden sollte. Grüber und Krummacher waren als Repräsentanten der Gesellschafter in der sowjetischen Besatzungszone bestens geeignet, weil sie über ausgezeichnete Kontakte zu den Besatzungsbehörden verfügten. Grüber hatte vor 1945 Hilfe für jüdische Menschen organisiert und war dafür ins Konzentrationslager Dachau gebracht worden; Krummacher hatte sich in sowjetischer Gefangenschaft dem „Nationalkomitee Freies Deutschland“ angeschlossen und war 1945 mit der Gruppe Ulbricht nach Berlin zurückgekehrt. Gemeinsam mit dem damaligen Bischof von Berlin, Otto Dibelius, gelang es Grüber und Krummacher, einer der begehrten Lizenzen für einen Verlag zu erhalten, der (wie es in einer erneuerten Lizenz heißt) „Theologie und Belletristik“ verlegen durfte.

Die Militäradministration in Karlshorst erteilte nicht den vielen evangelischen Verlagen jeweils eine eigene Lizenz, die vor 1945 religiöse und theologische Bücher produziert hatten und sich nach wie vor in Privateigentum befanden, sondern privilegierte einen einzigen „Zentralverlag“ in kirchlicher Trägerschaft, bei dem die kleineren Verlage „in Lizenz“ produzieren sollten. Das entsprach einem sowjetischen Modell der Verlagspolitik. Heinrich Grüber hat hervorgehoben, dass die Gründung und auch die großzügige Praxis in den Anfangsjahren, eher bürgerlich-konservative Literatur zum Druck zuzulassen, ein Zeichen der kirchenfreundlichen Haltung der sowjetischen Behörden in der Anfangszeit nach 1945 war. Mindestens sahen einzelne gebildete russische Offiziere in den Kirchen einen Bündnispartner bei der Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung. Krummacher erzählte gern die Geschichte, dass ein hoher russischer Offizier ihn beim Abendessen gefragt hätte, warum am Tisch nicht gebetet worden wäre (worauf Krummacher geantwortet haben will: „Wir beten nur bei warm“).

Rigide Zensur

Natürlich musste die Verlagsleitung den Besatzungsbehörden das Verlagsprogramm zur Genehmigung vorlegen und auch jedes einzelne Buch; in der 1949 gegründeten DDR wurde die Zensur von Buchmanuskripten und Zeitschriften noch einmal sehr viel rigider gehandhabt, obwohl es laut Verfassung gar keine Zensur hätte geben dürfen.

Nach dem erwähnten Festgottesdienst zum zehnjährigen Jubiläum der Evangelischen Verlagsanstalt 1956 versammelte man sich in einem Gemeindehaus, der stellvertretende Ministerpräsident und CDU-Vorsitzende Otto Nuschke forderte in seinem Grußwort den Verlag auf, sich aktiver für den Aufbau der DDR einzusetzen und keine reaktionären Publikationen vorzulegen. Darauf erklärte der Verlagsleiter, ein Berlin-Neuköllner Pfarrer namens Friedrich Bartsch, er verstehe die Evangelische Verlagsanstalt als Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland mit dem klaren Auftrag, das in Jesus Christus offenbare Wort zu verkündigen. Und zwar – wie wir heute sagen würden – auch außerhalb der Kirchenbubble, mit guter Belletristik, schönen Kunstbänden und natürlich auch mit kirchlicher Gebrauchsliteratur wie den Losungen, Kalendern und kirchlichen Texten wie Gesangbüchern, Agenden und Noten.

Theologie spielte in den Anfangsjahren der gewöhnlich EVA abgekürzten Evangelischen Verlagsanstalt noch eine etwas geringere Rolle, weil die meisten wichtigen Publikationen auch von ostdeutschen Theologen in westdeutschen Verlagen erschienen. Das änderte sich erst im Laufe der nächsten Jahrzehnte – eine beeindruckende historisch-kritische Lutherausgabe, ein neutestamentliches Kommentarwerk und eine Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte in Einzelbänden künden noch heute vom herausragenden Niveau, das die DDR-Theologie partiell aufwies.

Sensibles Agieren

Bartsch fasste seine Vorstellung von christlicher Publizistik in dem prägnanten Satz zusammen, die EVA sei ein Werk der Kirche, ein Werk der EKD (was sie, rein rechtlich betrachtet, gar nicht war; von der EKD kam letztlich nur das Westgeld, das man brauchte, um Papier für den Druck der Bücher und Zeitschriften zu kaufen).

Am 2. September 2021 hat die EVA, pandemiebedingt um vier Monate verzögert, ihr fünfundsiebzigjähriges Jubiläum gefeiert, in Leipzig, wo sie seit der Wiedervereinigung ansässig ist. Wieder traf man sich in einer Kirche (nämlich der St. Thomaskirche, deren hoher gotischer Hallenraum in Zeiten von Corona erlaubt, in Übereinstimmung mit den Hygieneregeln recht viele Menschen einzuladen und für eine hervorragende musikalische Rahmung des Festaktes steht). Wieder war ein Bischof als Repräsentant der Gesellschafter anwesend, der mitteldeutsche Bischof Friedrich Kramer. In einer kleinen, aber feinen Andacht zum Abschluss des Festaktes machte er dem Verlag, seinen Mitarbeitenden, den Autorinnen wie Autoren und allen Gästen Mut: Wenn man die Welt aus christlicher Perspektive ehrlich wahrnimmt, dort klagt, wo geklagt werden muss, aber auch dort lobt und dankt, wo gelobt und gedankt werden kann, dann wird diese Wahrheit Menschen weiter frei machen – in digitaler und gedruckter Form, in der Bubble und außerhalb der Bubble.

Natürlich kann ein christlicher Verlag nicht mehr agieren wie 1946 oder 1956 – und muss es, Gottlob auch nicht mehr, denn Publikationen müssen nicht mehr dem Zensor vorgelegt werden und mühsam mit ihm ausgehandelt werden, was noch geht und was nicht mehr. Aber schon 1946 war klar, dass Verkündigung der christlichen Lebensorientierung in der Publizistik nicht einfach Predigt von der Kanzel ist, sondern ein sensibles Agieren in einem seither noch einmal pluralisierten Kommunikationsgeschehen. Kramer rief in der Leipziger Thomaskirche dazu auf, das als Chance zu begreifen und nicht vergangenen Welten nachzutrauern. Vorher hatte der emeritierte Züricher Systematiker Ingolf Dalferth schon daran erinnert, bei solcher Kommunikation christlicher Lebensorientierung Gott nicht zu vergessen, der der eigentliche Grund des großen Möglichkeitsraums unseres Lebens ist, aber auch der eigentliche Adressat unserer Klagen in Corona-Zeiten.

Die andere Eva

Rückblick auf Vergangenes, Innehalten in der Gegenwart – beides diente beim Festakt für die Evangelische Verlagsanstalt dazu, um auch neugierig, fröhlich und munter in die Zukunft zu schauen. Am Ende wünschten alle der EVA viele weitere gute und erfolgreiche Jahre, Friedrich Kramer wünschte sogar ziemlich präzise über 900 Jahre, denn mit dieser Zahl berechnet das antike Judentum die Lebensjahre der anderen Eva.

Wer nicht dabei war in Leipzig, kann bald nachlesen und nachschauen (auf der homepage www.eva-leipzig.de) oder sich einfach ein Programm ansehen, dass das Beste aus den vergangenen und gegenwärtigen Jahren und viel Zukunft bietet (auch auf der genannten Homepage).

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