Gegen die Gier nach dem Gewinn

Kirchliches Engagement zum Schutz vor Glücksspielsucht
Rund 230 000 Geldspielautomaten stehen in deutschen Gaststätten und Spielhallen.
Foto: picture alliance/dpa/Bernd Weißbrod
Rund 230 000 Geldspielautomaten stehen in deutschen Gaststätten und Spielhallen.

Seit Juli ist in Deutschland ein neuer Glücksspielstaatsvertrag in Kraft. Nun machen sich Unternehmer aus der Branche Sorgen, eine Überregulation könne Spielende zu illegalen Anbietern drängen. Andererseits klagen Therapeuten, Seelsorger und Betroffenenvertreterinnen, der Staat werde seiner Verantwortung nicht ausreichend gerecht, Menschen vor den Gefahren der Glücksspielsucht zu schützen. Der Journalist Andreas Boueke beschreibt die neue Lage und den Blick kirchlicher Vertreter darauf.

Es ist dem jungen Mann sichtbar peinlich. „Ich habe alles für diesen Mist getan.“ Er spricht von der Hoffnung auf Glücksspielgewinne. „Mein ganzes Geld ist draufgegangen. Ich habe Taschen voll Münzen in die Automaten geschmissen, mein Leben verzockt, bis ich nichts mehr hatte. Dann musste ich neues Geld besorgen. So bin ich im Knast gelandet.“ Nicht wenige Häftlinge in deutschen Gefängnissen sind glücksspielsüchtig. Sie haben ihre Spielsucht durch Betrug, Diebstahl oder gar bewaffneten Raub finanziert, immer in der Hoffnung auf den großen Gewinn, oder um ihre Schulden bezahlen zu können.

Ulrich Kemper leitet als Chefarzt an der Bernhard-Salzmann-Klinik eine der deutschlandweit größten Abteilungen zur therapeutischen Behandlung von Glücksspielsucht. Rund die Hälfte seiner fast ausschließlich männlichen Patienten sind schon mal in erheblichen Konflikt mit dem Gesetz geraten. „Viele dieser Leute haben ein Nettoeinkommen von unter zweitausend Euro. Davon müssen sie Miete und Lebensmittel bezahlen. Da bleibt ihnen manchmal gar nichts anderes übrig, als kriminell zu werden. Andere Geldquellen für ihre Sucht sind längst dicht. Anfangs pumpen sie natürlich ihre Angehörigen an. Aber irgendwann sind ganze Familien zerstört.“

Mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von 14 Milliarden Euro ist der Glücksspielmarkt in Deutschland der größte der Europäischen Union. Trotzdem gelten die Deutschen als nicht besonders spielaffin. Nur knapp drei Prozent der Bevölkerung spielen ab und zu an Glücksspielautomaten. In den meisten anderen Ländern Europas sind es mehr, klagt Mario Hoffmeister, Pressesprecher der Gauselmann Gruppe, einem der großen deutschen Hersteller von Glücksspielautomaten. „Warum eigentlich wird Spielen in Deutschland mehr als Problem angesehen und nicht als das, was es für die meisten ist, nämlich Spielvergnügen? Aber wenn man in Deutschland vom Spielen spricht, dann geht es immer um Probleme.“ Der Politologe hat eine Theorie, weshalb das Spiel um Geld hierzulande so einen schlechten Ruf hat: „Weil der Protestantismus hier so stark ist. Die Kultur verlangt von den Menschen, durch harte Arbeit zur göttlichen Erfüllung zu kommen. Glück im Spiel kommt da nicht vor. Schon in Süddeutschland und vor allem in Südeuropa kann man beobachten, dass die Katholiken eine viel lockerere Einstellung zum Glücksspiel haben.“

Doch auch der katholische Mediziner Ulrich Kemper bewertet das Glücksspiel sehr kritisch. Diese Haltung sieht er durch die Evangelien bestätigt: „Jesus hat im Tempel die Tische umgeschmissen, so dass die Münzen zu Boden flogen. Das war deutlich. Das Glücksspiel bringt viel Elend in die Welt. Menschen wollen immer mehr Geld haben, immer häufiger gewinnen, um ihre seelische Armut durch materiellen Reichtum auszugleichen.“

In deutschen Kneipen und Spielhallen stehen rund 230 000 Geldspielautomaten, die mit aufregenden 3D-Grafiken, eingängigen Melodien, überraschenden Sound-Effekten und verführerischen Gewinnmöglichkeiten zum Spielen animieren. „Grundsätzlich fährt man ja immer mit der Erwartung in die Spielhalle: ‚Heute gewinne ich.‘“ Ein anderer Patient von Kemper erzählt von seiner Sucht. „Sobald man durch die Tür gegangen ist, fühlt man sich wohl. Es gibt auch Tage, da ist man 16 Stunden in der Halle. Wenn das Geld mal schnell weg ist, ist man den Rest des Tages frustriert, deprimiert. Zum Schluss hatte ich echt auch Suizidgedanken. Man fühlt sich wie ein Versager, weil man wieder gespielt hat.“ Das Diakonische Werk arbeitet seit Jahren an Konzepten für die Beratung und Therapie von Glücksspielsüchtigen.

Viele Theologen, die sich mit dem Thema befassen, wünschen sich zudem von ihrer Kirche, dass sie eine politische Haltung gegenüber den Glücksspiel-Anbietern entwickelt. Der evangelische Sozialpfarrer Holger Kasfeld wirft die Fragen auf, wie das Thema ethisch zu bewerten ist und wie seine Kirche auf Gesetze Einfluss nehmen könnte: „Da sind wir meist relativ vorsichtig. Aber eigentlich müssten wir auch mal in die Auseinandersetzung gehen. Wenn man mit erschütternden Einzelschicksalen konfrontiert wird, macht das sehr deutlich, dass wir in unserem prophetischen Amt auch eine politische Verantwortung haben.“

Die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung spricht von weit über 200 000 Menschen in Deutschland mit einem „problematischen Verhalten“ gegenüber dem Glücksspiel. Fast drei Prozent der jungen Männer gelten als gefährdet oder als hochgradig glücksspielsüchtig. In Anbetracht dieser Zahlen findet Holger Kasfeld nicht, dass sich seine Kirche deutlich genug positioniert hat: „Wie so oft ist sie abwägend, im Gespräch bleibend. Sie versucht, zwischen den verschiedenen Interessengruppen zu moderieren. Sie handelt nicht so wie der wütende Jesus im Tempel.“

In Deutschland profitieren auch die Kommunen vom Glücksspiel. Sie erhalten Kommissionen und Steuereinnahmen. Die langjährige Vorsitzende des Fachverbands Glücksspielsucht, Ilona Füchtenschnieder, sieht darin einen problematischen Interessenkonflikt: „Durch die Spielautomaten haben die Städte
enorme Steuereinnahmen. Je strenger sie in der Genehmigung sind, desto weniger Geld bekommen sie. Das bedeutet, dass sich reiche Kommunen eher Spielerschutz leisten können als arme.“

Viele Selbsttötungen

Zudem werden dreistellige Millionensummen direkt an öffentliche, gemeinnützige, kirchliche oder mildtätige Zwecke weitergereicht. Das trägt natürlich nicht dazu bei, die Hilfsorganisationen zu motivieren, vom Staat strengere Kontrollen und effektivere Suchtprävention zu fordern. Kemper plädiert dafür, dass den Profitinteressen der Glücksspielindustrie enge Grenzen gesetzt werden: „Da muss man auch klipp und klar sagen: Was Ihr da macht, ist unethisch, und das ist nicht zu verantworten.“

Der erfahrene Arzt äußert sich auch deshalb so deutlich, weil er in seiner Klinik täglich sieht, wie grausam die Krankheit sein kann. Ganze Familien leiden jahrelang an der emotionalen Verarmung und den hohen Schulden. Ilona Füchtenschnieder weiß, dass keine andere Sucht so häufig zu Selbsttötungen führt wie die nach dem Adrenalinstoß, der durch das Klimpergeräusch beim Big Win freigesetzt wird: „Eine Familie fällt aus allen Wolken, weil sich der Mann plötzlich suizidiert hat. Niemand wusste was. Oder morgens steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür und die Ehefrau weiß nicht, dass sie ihr Haus verloren hat.“

Das alles sieht der Lobbyist Mario Hoffmeister natürlich anders. Ein ums andere Mal wiederholt er das Argument, die wirkliche Gefahr für die Gesellschaft gehe nicht von den gemeldeten, legalen Spielstätten aus. Viel gefährlicher seien die illegalen Angebote, die seit Jahren insbesondere in den Großstädten zunehmen. „Hinterzimmer oder Shisha-Bars, in denen gespielt wird. Das sind die tatsächlichen Probleme. Es gibt halt Leute, die gerne spielen, die suchen den Kick. Und die sollte man nicht in völlig unregulierte Spielangebote drängen.“

Tatsächlich aber haben die meisten Patienten von Ulrich Kemper ihr Geld in legalen Spielstätten verloren. „Das dollste, was ich mal hatte, war ein Klient, der eine Firma im Wert von fünf Millionen Euro geerbt hatte“, berichtet der Mediziner. „Er hat es geschafft, das gesamte Vermögen innerhalb von zwei Jahren komplett zu verzocken.“

Die durch die Pandemie beschleunigte Verschiebung des Glücksspiels von Standort-Casinos ins Internet hat die Situation weiter verschärft. In seinem Klinikalltag merkt Ulrich Kemper deutlich, dass viele Menschen mehr Zeit hatten, zu Hause die Plattformen der Onlineanbieter auszuprobieren. „Die Leute können ihren PC in ihrem Zimmer anmachen und da spielen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. So fallen noch mehr Hemmungen.“

Der neue Glücksspielstaatsvertrag legalisiert bundesweit Online-Glücksspiele wie Poker, Roulette oder Online-Automatenspiele. Gleichzeitig gibt es neue Regeln zum Spielerschutz. Zum Beispiel verbietet der neue Staatsvertrag zeitgleiches Spielen auf mehreren Webseiten. Um das zu garantieren, sollen die Daten aller Spielerinnen und Spieler bundesweit in einer noch zu schaffenden Behörde in Sachsen-Anhalt zusammenlaufen. Doch bisher funktioniert diese Kontrolle noch nicht.

Künftig soll es eine zentrale Spielersperrdatei für alle Online-Glücksspiele geben, so dass spielsüchtige Personen von allen Glücksspielangeboten ausgeschlossen werden. Viele Spieler aber rechnen nicht damit, dass sich viel ändert. Solange sie irgendwo Möglichkeiten sehen, einen großen Gewinn zu machen, werden sie einen Weg finden, mitzuspielen. 

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