Notaufnahme – oder: Mal loben und nicht schelten!

Warum Pauschalurteile eigentlich nur darauf warten, widerlegt zu werden

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Diese Lehre der Volksweisheit erfuhr unser Online-Kolumnist Christoph Markschies am eigenen Leibe, und heraus kam letztlich eine doppelte Kolumne. Aber lesen Sie selbst:

Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, in dieser Kolumne das zu tun, was deutsche Akademiker und Akademikerinnen besonders gern tun: Ich wollte Medienschelte betreiben. Als ich vor rund zwei Wochen die in Berlin produzierte Tageszeitung mit Lokalteil aufschlug, die ich neben einer überregionalen Zeitung regelmäßig zum Frühstück lese (und immer wieder mal in digitaler Form sogar neugierig schon kurz vor dem Ins-Bett-Gehen am Vorabend), wunderte ich mich wieder einmal über die Skandalisierung eines vergleichsweise alltäglichen Phänomens. Da hatte eine prominente Politikerin der Grünen ihre durch ein Stipendium geförderte Promotionsarbeit während der Laufzeit der Unterstützung nicht fertiggestellt und also auch nicht bei der Universität eingereicht. Ein gewisser Teil der medialen Erregung nicht nur in der genannten Zeitung bezog auf die Tatsache, dass man hierzulande für ein Projekt 39 Monate finanzielle Unterstützung bekommen kann, ohne das Projekt abzuschließen und ohne das Geld zurückzahlen zu müssen.

Ich kenne das Problem gut, weil ich Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats einer Stiftung bin, die jedes Jahr ungefähr sechs Millionen Euro an Fördermitteln vergibt. Vor einiger Zeit haben wir einmal darüber diskutiert, wie wir damit umgehen, dass ein gewisser, schwer mathematisch exakt angebbarer Prozentsatz der Geförderten das Projekt nicht erfolgreich abschließt oder auch in gänzlich veränderter Gestalt. Dafür gibt es viele Gründe: Krankheit von Mitarbeitenden, Probleme mit dem Design des Projektes oder der wissenschaftlichen Hypothese – und, ja, wahrscheinlich auch Faulheit oder persönliche Krisen bei der Projektleitung. Das kann man natürlich in dem von allen geforderten Abschlussbericht gut verschleiern und es würde einen unvertretbaren Aufwand bedeuten, alles ganz genau zu überprüfen, einen juristisch haltbaren Rückzahlmodus mit individuellen Rückzahlungsquoten festzulegen und dann auch durchzusetzen.

Wissenschaftsförderung muss ein gewisses Maß an Risikofreudigkeit zeigen und solche Risikofreudigkeit drückt sich auch darin aus, dass ungefähr fünf Prozent der Projektmittel in der Wissenschaftsförderung unseres Landes insofern in den Teich gesetzt werden, als eine Promotion nicht fertiggestellt wird oder das beantragte Projekt ansonsten nicht fertig wird. Vertanes Geld ist es in kaum einem Fall, weil auch diese fünf Prozent in aller Regel nicht faul in der Ecke liegen, sondern mit dem Geld etwas anderes Gutes tun, beispielsweise sich auf die Kanzlerschaft unseres Landes vorzubereiten versuchen. Entsprechend verfahren nicht nur politische Stiftungen wie die Adenauer-, Böll- oder Friedrich-Ebert-Stiftung, sondern auch die Studienstiftung, die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die Fritz Thyssen Stiftung.

Horn der Skandalisierung

Über diesen Zusammenhang wollte ich eigentlich in meiner Kolumne schreiben. Ich wollte verschiedene Medien dafür schelten, dass sie anstatt über den notwendigen Einsatz von Risikokapital in der Wissenschaftsförderung nüchtern und sachlich zu informieren, im Interesse teilweise prekärer Auflagen in das Horn der Skandalisierung tuten – in der Hoffnung, damit noch ein paar mehr Leserinnen und Leser der Printausgaben und Artikel hinter der Bezahlschranke zu gewinnen.

Glücklich war ich mit dieser Kolumnenidee schon deswegen nicht, weil solche Medienschelte immer etwas Abgeschmacktes und Langweiliges hat – wer die Skandalisierung als Mittel gegen gesunkene Abonnementzahlen und Auflagenhöhen beklagt, sollte besser weitere Print- und Digitalabos zeichnen, als in Kolumnen zu lamentieren und damit ja auch zum Zwecke der Aufmerksamkeitssteigerung zu skandalisieren.

Am Ende habe ich mich entschlossen, nicht eine ganze Kolumne lang zu skandalisieren, sondern ganz im Gegenteil einen oft skandalisierten Zusammenhang zu loben. Vielleicht gelingt es auch mit dem Gegenteil von Skandalisierung Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Auf diese Idee kam ich, weil mich am Donnerstag ein Arzt aus der Notaufnahme eines der Krankenhäuser unserer Berliner Universitätsmedizin anrief, der immer noch mit dem Hugenotten-Namen „Charité“ genannten Einrichtung. „Charité“ heißt „Barmherzigkeit“ – und was im gegenwärtigen, unter Hochdruck technisiert arbeitenden und unter Belastung ächzenden Gesundheitssystem wie ein Märlein aus vergangenen Zeiten klingt, habe ich erfahren: Barmherzigkeit im Umgang mit Patienten und Angehörigen. In der Notaufnahme. Ausgerechnet in der Notaufnahme.

Alltäglicher Horror

Natürlich ist auch die Notaufnahme dieses Krankenhauses der Charité der alltägliche Horror, der er auch in anderen vergleichbaren Einrichtungen unseres Landes ist. Ein dementer Mensch wird im Rollstuhl hereingerollt und brüllt laut durch den Raum, genervte Menschen, die ihre Blutung an der Hand mit einem Bettlaken zu stillen versuchen, schreien die Pförtner hinter der Aufnahme-Teke wütend an und ständig läuft jemand im Kittel durch den Raum und ruft: „Frau Müller in Raum 7. Frau Müller in Raum 7“. Ich würde in dieser Atmosphäre vermutlich schnell die Nerven verlieren und alsbald krank werden.

Die Menschen, die in der Notaufnahme des genannten Charité-Krankenhauses arbeiten, sind aber erkennbar ganz anders. Sie haben unendlich Geduld. Der Arzt, der mich vergangenen Donnerstag anrief, teilte mir nicht nur mit, dass meine dreiundneunzigjährige Mutter unter schwierigen Umständen eingeliefert worden war, sondern begann mit mir ganz zugewandt das notwendige Gespräch über die Frage, welche intensivmedizinischen Maßnahmen eingeleitet werden dürften und welche mit Rücksicht auf Alter wie Zustand besser unterbleiben sollten.

Als ich ihm vorschlug, selbst nach Steglitz zu kommen und das am Bett meiner Mutter zu entscheiden, willigte er sofort ein und empfing mich bald darauf mit ruhigem, gewinnenden und beruhigendem Lächeln in der genannten Horrorszenerie am Eingang des Krankenhauses. Sodann erklärte er dem medizinischen Laien in aller Ruhe, was passiert war, warum es möglicherweise passiert war und was man nun tun könne beziehungsweise besser lassen sollte. Auf meine Mutter sprach er beruhigend ein, legte die Hand auf ihre Stirn, während eine Schwester ihre Hände nahm und auch ganz freundlich lächelte.

Freundlich, zugewandt, geduldig

In dem Krankenzimmer herrschte dadurch ganz im Gegensatz zum Eingang der Notaufnahme eine freundliche, zugewandte und von geduldiger Professionalität geprägte Atmosphäre. Wenn plötzlich am Schirm mit den Kurven über dem Bett ein Licht gelb leuchtete und dann ein anderes rot, wurde freundlich erläutert, was da gemessen wurde und warum beispielsweise starker Blutverlust bei alten Menschen schnell zu Vorhofflimmern führen kann. Wir verabredeten gemeinsam, was in den nächsten Stunden passieren könnte und sollte – und nach einer Weile verließ ich die Notaufnahme, meine Mutter war eingeschlafen und ich ging deutlich beruhigter als ich gekommen war.

Nun wird man nicht bestreiten können, dass es auf einer Notaufnahme gegenwärtig noch schwieriger ist als vor März 2020. Alle tragen Masken, nicht wenige schwitzen (das in den 1960er-Jahren gebaute Krankenhaus hat noch nicht überall Klimaanlagen), man muss immer auch an die Pandemie denken und der Personalbestand ist wie überall in Berlin grenzwertig knapp. Krank werden darf eigentlich keiner und Überstunden müssen eigentlich alle machen. Umso beeindruckender finde ich, mit welcher Geduld, mit welcher Zugewandtheit, mit welcher Professionalität in dieser Notaufnahme gearbeitet wird. Und ich weiß, wovon ich rede – ich bin ein schrecklich ungeduldiger Mensch und leicht aus der Ruhe zu bringen. Ich habe in den vergangenen Tagen wirklich in der Charité Barmherzigkeit erfahren und meine Mutter auch. Von der Professionalität einer der besten Universitätsmedizinklinika nicht nur dieses Landes einmal ganz abgesehen.

Im Grunde stand schon am Freitag fest, dass ich davon in meiner Kolumne berichten wollte. Nicht so viel Schelte, sondern mehr Lob. Aber es war noch so viel zu tun, dass ich erst am Sonntag zum Schreiben gekommen bin. Sonntäglicher Dank, ein vertrautes Tun. Es gibt noch eine zweite Version dieser Kolumne, die bekommt allerdings nur die Leitung der Charité. Da stehen auch die Namen der Ärzte, Schwestern und Pfleger, die in der Fassung für das Internet fehlen. Denn mir scheint, dass in unserer Gesellschaft zu viel gescholten und skandalisiert wird und zu wenig gelobt. Natürlich. Diese Beobachtung ist eine Trivialität. Aber die Namen derer, die zu loben wären, pfeifen nicht alle Spatzen von den Dächern. Da ist man manchmal einsamer Rufer. Wird Zeit, dass es mehr werden und ein vielstimmiges Konzert.

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