Aus der letzten Reihe

Gedanken zur Zugehörigkeit und Gemeinschaft in Gottesdiensten
Gottesdienst im Kreis Kaiserslautern, Frühjahr 2021
Foto: epd
Gottesdienst im Kreis Kaiserslautern, Frühjahr 2021.

Den Menschen, die auf der hintersten Kirchenbank Platz nehmen, wird vieles nachgesagt. Sie kämen gern und oft zu spät, wollten schnell wieder gehen oder sich vor der Kollekte drücken. Doch die letzte Bank sei alles andere als der Ort der passiven oder halbherzigen Mitglieder, meint der Pfarrer Jens Haupt aus Kassel. Auf dieser Bank sitzen oft Menschen, die keine Gemeinschaft suchten, sondern Kontakt.

Ja, die Kirchen waren in der Pandemie immer offen. Die meisten jedenfalls. Ich kann tagsüber eintreten in diese Hallen, Kirchenschiffe oder Kapellen und kann ganz für mich, bei mir und bei Gott sein - besonders in der letzten Bank, auf der ich mich gerne niederlasse. Ich überlege dann, so in der Stille, ob das nicht reicht. Ob mir die Präsenzgottesdienste wirklich gefehlt haben?

Wie viele andere auch bin ich vollständig geimpft. Ich sollte mich also gefälligst auf meine neuen „Freiheiten“ freuen und vor allem darauf, wieder in die Kirche, also den sonntäglichen Gottesdienst zu gehen. Ich kann verstehen, dass Pastorinnen und Pastoren sich die Resonanz eines freundlichen Blicks, Gemeindegesang in Liturgie und Liedern und den Abschiedsgruß an der Kirchentür sehnlich wünschen. Ich kann auch nachvollziehen, dass etliche Menschen, vor allem die sogenannten Hochverbundenen, wieder Präsenzgottesdienste wahrnehmen möchten. Und vielleicht ist es ja für manche tatsächlich ein Erleben von Gemeinschaft. Ich frage mich, was genau mit diesem diffusen Begriff Gemeinschaft in Präsenzgottesdiensten gemeint sei.

In einem Präsenzgottesdienst ist allen Anwesenden gemein das Füllen eines physischen Raums zur gleichen Zeit, gemeinsames Tun und Lassen, das Hören, Singen, Schweigen und Beten. Ja, irgendwie auch der gemeinsame Glaube und der Vollzug einer eingeübten Liturgie. Aber genau genommen ist die gottesdienstliche Gemeinde am Sonntagmorgen eine Zweckgemeinschaft.

Muss Gemeinschaft sein?

Den Glauben feiern, Lob und Dank sagen, hören und schweigen braucht doch gar nicht mehr und reicht doch. Danach sind wir wieder in unser Leben gesandt, in die Welt, um zu wirken und im Alltag Christinnen und Christen zu sein. Oder? Muss man dazu Gemeinschaft sein? Ernst Lange hat das sehr prägnant in Chancen des Alltags 1965 so formuliert: „Im Ernstfall des Glaubens, in seinem Alltag, ist der Christ allein.“ (Ernst Lange, Chancen des Alltags, 1965)

Auch in der Kirche, im Gottesdienst, kann ich allein sein. Am besten in der letzten Kirchenbank. Man sagt ihr ja vieles nach. Dort säßen bevorzugt die Schwerhörigen, diejenigen, die gern und oft zu spät kommen und diejenigen, die schnell wieder gehen und sich vor der Kollekte drücken möchten. Oder auch die Probesitzer, die sich noch offenhalten wollen, ob sie bleiben. Vorurteile allesamt. Denn die letzte Bank ist alles andere als der Ort der passiven oder halbherzigen Mitglieder.

Auf dieser Bank sitzen oft Menschen, die Kontakt suchen. Zuerst zu Gott. Manche auch zu sich selbst und zu ihren Sehnsüchten und Verlusten. Sie suchen keine Gemeinschaft, sie suchen Kontakt. Und das ist ein gewaltiger Unterschied, der bei Verwechslung manche aus der Kirche wieder raus treibt. Es geht ihnen um das schlichte da Sein, nicht um Zugehörigkeit. Natürlich weiß die Frau in der letzten Kirchenbank auch um den Glaubenssatz von der Gemeinschaft der Heiligen. Sie weiß auch, dass diese Gemeinschaft zwar vor ihr sitzt und sie dabei. Aber sie weiß auch, dass das mit dem Heiligen Geist zu tun hat, der schon immer analog und digital zugleich geweht hat. Für sie wäre Zugehörigkeit verbunden mit Verpflichtung. Man könnte womöglich erwarten, dass sie mitarbeitet, ihre Gaben einsetzt, für ein Amt kandidiert. Immerhin, diese Frau kommt noch in die Kirche und nimmt sich das Recht heraus, sich nicht in eine „Gemeinschaft“ einbinden zu lassen, die sie nicht braucht. Sie ist sozusagen autonom im Kontakt.

Milieu des Inner Circle

Die aus der letzten Kirchenbank kennen die Erfahrung von Exklusion beim Dabeisein, wenn man mit dem vorausgesetzten Milieu des Inner Circle nicht vertraut ist. Sie wissen, dass sie mit ihren Erfahrungen und Haltungen Verwirrung stiften. Was wollen die? Kommen und wollen nicht dazugehören. So wie im kirchlichen Milieu gewohnt jedenfalls nicht. Sie suchen Kontakt und nicht Gemeinschaft. Als ob es das eine ohne das andere gäbe. Sie sind fast so irritierend wie die Gottesdienstbesucherinnen in römisch-katholischen oder orthodoxen Gottesdiensten, die nach protestantischem Urteil kommen und gehen wie sie wollen.

Wir nähern uns dem Kern der Theologie aus der letzten Kirchenbank. Sie beobachtet nämlich, dass Gemeinschaft vorausgesetzt wird, weil es Gemeinschaft geben muss, damit Gemeinschaft erlebt werden kann. Ein Zirkelschluss. Zumal ein unnötiger, wo es doch zuerst um die Gemeinschaft mit Christus geht und gerade nicht um die Gemeinschaft miteinander oder untereinander. Es mag sein, dass manche diesen Zweck der Vergemeinschaftung im Vordergrund sehen. Es mag auch sein, dass es einfach guttut, anderen im Gottesdienst freundlich zu begegnen.

In der letzten Kirchenbank weiß man jedoch auch, dass Kommunikation des Evangeliums im Gottesdienst nicht notwendig die gleichzeitige Erfahrung von christlicher Gemeinschaft mit sich führen muss. Gleichzeitigkeit als Kategorie von Gemeinschaft ist ohnehin ein vages Konstrukt. Auch wenn ich in einem Gottesdienst körperlich anwesend bin, bin ich spätestens bei den Fürbitten oft ganz woanders und trotzdem dabei. Die Verbindung stiftet der Heilige Geist.

Überzeitlich und überräumlich

Sehr aufmerksam hört die letzte Kirchenbank die Geschichte von der Verklärung Jesu. Hütten zu bauen, gäbe dem Glauben einen Ort, schlagen die Jünger vor. Jesus sagt dazu gar nichts, er diskutiert den Vorschlag nicht. Er hat nichts gegen einen Raum. Die Kirche spricht später vom Leib Christi und seinen Gliedern. Und noch später wird unterschieden zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche. Kirche als Leib Christi kann durchaus zur Erfahrung werden. Der Anstifter wird wieder der Heilige Geist sein. Und es könnte bei dieser Erfahrung auch passieren, dass Raum und Zeit nicht mehr begrenzen. Denn der Leib Christi kennt Nahe wie Ferne, Gefangene wie Befreite, Arme wie Reiche, Gesunde wie Kranke und sogar unsere Verstorbenen. Überzeitlich und überräumlich: Klingt fast wie- digital? Es könnte sein, dass es daran liegt, dass das Wirken des Heiligen Geistes schon immer analog und digital, also hybrid ist.

Digitale Gottesdienste und Andachten sind so etwas wie die moderne Variante der letzten Kirchenbank. Wer hier oft dabeisitzt, fremdelt mit medialen Angeboten wahrscheinlich weniger. Hier gehen Kontakt und Distanz harmonisch zusammen. Verbundenheit findet Ausdruck im Einwählen (!). Digital ist nicht dasselbe wie virtuell und wird nicht als uneigentlich oder unecht erlebt. Gemeinschaft muss nicht hergestellt oder behauptet werden. Digitale Gottesdienste dienen den Menschen zu einem Zweck, sie überbrücken die Unmöglichkeit zusammen und in Kontakt zu kommen ohne Nähe. Wir könnten das längst verinnerlichen, wenn wir uns vor Augen führen lassen, dass über alle Zeitzonen hinweg eigentlich immer irgendwo Menschen im Gebet sind.

 Ich habe zum Glück digitale Gottesdienste erlebt und mitgefeiert, die nicht sofort mit der Entschuldigung oder dem Bedauern anfingen, dass man sich ja nicht begegnen könne. Wenn die räumliche Nähe ein Kriterium für wahre Gottesdienste wäre, müssten wir die gesamte Theologie der Ökumene neu schreiben. Es fehlen immer die anderen, die Schwestern und Brüder im restlichen Weltenraum. Nähe und Unmittelbarkeit untereinander – wie arm wären die Gottesdienste, wenn das die Erfahrungsebene des Glaubens sein müsste.

Eher ein Schattendasein

Und was sollte auch in Zukunft aus den Fernseh-, Radiogottesdiensten, den Zusprüchen und Morgenfeiern werden, die es ja lange schon gibt und die ihre eigene „Gemeinde“ gefunden haben? Alle diese Angebote sind qualitativ anspruchsvoll und professionell begleitet. In der Welt der Medien keineswegs unumstritten führen sie im Bewusstsein und Selbstverständnis vieler Kirchengemeinden eher ein Schattendasein. Und auch mit dem Beginn der Pandemie wurden die vielen bereits existierenden Angebote nur sehr zurückhaltend, wenn überhaupt, beworben. Man spürt: Schön, dass es manche machen, auch schön, dass es manche erreicht, die lange keine Kirche von innen gesehen haben. Aber das „Eigentliche“ sind sie nicht.

Fehlen mir also die Präsenzgottesdienste? Ja, von Zeit zu Zeit ist es bereichernd, gleichzeitig zu singen, zu beten, zu hören und zu schweigen. Im gleichen Raum. Dass aus dem Gleichzeitigen ein „gemeinsam“ werden kann, ist kein echter Unterschied zwischen Präsenzgottesdienst und Medial-Digitalem. Und ehrlicherweise sehne ich mich mehr nach der hinteren Bank in einem gut besetzten, sprechenden Kirchenraum als nach der eigentlichen „Gemeinde“.

Mir wird bewusst, dass die Digitalität und die Medialität kirchlicher Kommunikation Fragen und Ängste hervorrufen: Wer nutzt sie? Wo bleibt die Resonanz? Welche Wirkung haben sie? Wie weit darf ich meine Angebote streuen?  Was passiert bei „Erfolg“? Was ist da noch „meine Gemeinde“? Wer gehört dazu?  Und bleibt die Kirche, womöglich auch die letzte Bank, dann irgendwann leer, wenn Gottesdienst jederzeit und frei verfügbar wird? Schmerzhaft an den digitalen Angeboten ist der damit einhergehende Kontrollverlust. Damit dieser Schmerz aufhört, hilft nur die Suche nach Qualität. Ach ja, die letzte Kirchenbank gibt mir die Freiheit zu gehen, wann ich will. So wie ich den gestreamten Pfarrer auf „stumm“ stellen kann.  

Für viele dieser Fragen hat die letzte Kirchenbank aber auch eine tröstende Antwort: Wir kommen immer wieder, solange wir zwanglos hinten sitzen bleiben dürfen.  Wir verlassen uns ganz darauf, dass wir dabei sein dürfen beim Beten, Singen und Hören von Predigt und Musik.

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Jens Haupt

Jens Haupt ist landeskirchlicher Pfarrer und Projektmitarbeiter im Referat Gottesdienst, Kirchenmusik, Theologische Generalia der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.


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