Meine zweite große Liebe

Warum ich die Orgel für Frauen attraktiv machen möchte
Foto: Lydia Eberhard

Mein Leben als Konzertorganistin in der Männer-Domäne Orgel ist nicht immer leicht, da es wenig weibliche Vorbilder gibt, dafür einen Pulk neidischer Organisten. Nun möchte ich so ein Vorbild werden und die Orgel für Frauen attraktiv machen.

Ich bin in einer schwedisch-deutschen Pianistenfamilie aufgewachsen und habe Konzertfach Klavier (Konzertexamen) und Orgel (gerade Master abgeschlossen) studiert, bald Konzertexamen Orgel – zwei sehr unterschiedliche Instrumente, die jedoch eine Einheit bilden, sich ergänzen und bereichern. Die Orgel mit ihrer Kraft und Größe fängt meine Energie anders auf als der Flügel, den ich zuerst liebe, da er meine Kindheitsliebe ist, der brillant, kompakt, spitz zulaufend ist, ein Muskelpaket von Klang.

Die Orgel dagegen wartet, ist beinahe feminin. So groß sie (von unten gesehen) oben auf der Empore wirkt, so zerbrechlich ist sie, wenn man oben bei ihr angekommen ist. Sie singt und bläst einem warm entgegen. Ihren Klang suche und finde ich ganz anders, denn ihre Farben muss ich durch Wissen erfahren und erlernt haben, um die Register „zu beherrschen“ und zu kennen: Orgelspiel ist Wissen.

Die Orgel ist meine zweite große Liebe, die größere vielleicht. Für mich als Pianistin war es spannendes Neuland, zu erfahren, wie eine Orgel aufgebaut ist, das Mischen und das Zusammenspiel – hier geht es um musikalische Erfahrung. Am Flügel, da ich diesen schon seit meinem dritten Lebensjahr kenne und spiele, hatte ich stets das Gefühl, ich kann den Klang instinktiv und aktiv führen und bestimmen, das Klavier biegt sich mir hier entgegen. Jedoch an der Orgel ist es klares (beinahe sachliches) Wissen, Kalkül im besten Sinne.

Als eine Pianistin, die 2018 begann, auch virtuose Orgel zu studieren, weil sie Bachs Musik liebt: Das war für viele konservative Männer ein Schock, denn ich bin vom Typ ganz anders als viele Kirchenmusiker: extrovertiert, ehrgeizig, auffällig, emotional, gläubig, mit vielen Fans, Ideen und Leidenschaft für Orgel.

Auch die Technik in meinen pianistisch trainierten Händen braucht an der Orgel einen anderen Twist, eine gegensätzliche Herangehensweise: Am Klavier zählt vor allem, wie ich in die Taste hineingehe. An der Orgel ist wichtig, wie ich aus der Taste herausgehe. Das weiche Absprechen ist wichtig an der Orgel für Dynamik und Artikulation. Je größer die Orgel, desto zärtlicher muss frau sein.

Es gibt in der deutschen Kirchenmusik fast nur Männer, es gibt keine Domorganistin, keine Orgelprofessorin, kaum Dozentinnen, dafür viele Laienorganisten oder Semiprofessionelle, die ab und zu in einer Kirche Orgel spielen und gern über andere lästern, die viel begabter und irgendwie anders sind. Dazu gibt es eigens eingerichtete Foren und Gruppen.

Mir macht es Freude, Chopin und andere virtuose Stücke auf die Orgel zu übertragen. Ich orientiere mich nicht an einer bestimmten festgelegten Strömung wie die, die nur eine Art Spiel oder eine Art Orgel akzeptieren. Dass ich meine Technik am Klavier an der Orgel einsetzen kann, freut mich; das Pedal musste ich neu lernen; hier einen guten, klugen Lehrer zu finden, war nicht leicht. Und das Zusammenspiel, die Koordination – den Raum der Kirche als Resonanzkörper der Orgel empfinden, die Wichtigkeit der Artikulation begreifen.

Jede Orgel ist eine Lehrmeisterin. Sie hat mir geholfen, Raum, Register, Aufbau, Klang und Artikulation schnell umsetzen zu können, direkt vor Ort, auch an fremden Instrumenten.

An der Orgel geht es nicht in erster Linie um Beeindrucken, sondern um Berühren: um Fühlen des Raumes, der Resonanz, der Pfeifen, bis unter die Decke, bis hinter zum Altar. Die Kraft der Orgel, gleichzeitig ihre Zartheit – diese Kombination inspiriert mich, auch für meine eigenen Kompositionen.

In vielen berühmten Kirchen war noch nie eine Organistin angestellt, noch nie eine Frau Kantorin, so in Leipzig, Hamburg, München. Auch in Stuttgart, Würzburg und Frankfurt am Main gibt es in der Abteilung Kirchenmusik nur männliche Professoren, und das schon seit Jahrzehnten. Viele Kantoren und Domorganisten tauschen mit ihren Kollegen Konzerte aus, sind per Du, während Organistinnen nicht in die Lobby hineindürfen, sogar nur in Extrareihen spielen dürfen.

Die meisten Orgel-CDs sind von Männern eingespielt. Die Szene trifft sich teilweise in Männerforen, in denen Spott und Beleidigungen vorherrschen. Man könnte denken, es wird sich gefreut, dass endlich Frauen die Szene betreten, Videos, CDs machen, Konzerte, tolle Abschlussnoten. Doch der Neid und der Atheismus in der Szene sind groß. Die Kirche sollte sich mit dem Sexismus in der Orgelszene auseinandersetzen. Sie hat nichts zu verlieren, nur zu gewinnen. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Lydia Eberhard

Ann-Helena Schlüter

Ann-Helena Schlüter, geboren in Nürnberg, ist eine deutsch-schwedische Pianistin, Organistin, Komponistin und Musikwissen­schaftlerin. Außerdem ist sie als Lyrikerin und Autorin aktiv. Sie lebt in Würzburg.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"