Die Jagd nach der Wollmaus

Unterwegs im Internationalen Staubarchiv. Über Vergänglichkeit, Inszenierung und Verfall
Staubbeutel
Foto: Martin Egbert

„Alles ist Staub! Ordnung ist eine Illusion!“, steht auf seiner Webseite. Wolfgang Stöcker betreibt das weltweit einzige internationale Staubarchiv. Dafür sammelt er Staub aus Sakralbauten, bekannten Landschaften, Museen oder Rathäusern. Klaus Sieg und Martin Egbert haben ihn in Köln begleitet, unter anderem in eine achthundert Jahre alte Kirche.

Treffpunkt St. Kunibert, am Rhein in Köln. Wolfgang Stöcker kommt auf dem Fahrrad, in Wetterjacke und Wanderschuhen, mit einem grünen Rucksack auf dem Rücken. „Ich rede mal einfach los, Sie wollen ja Input“, sagt er freundlich lächelnd in kölnischem Singsang. Ja, wollen wir. Schließlich beschäftigt man sich nicht alle Tage mit dem Thema Staub. Schon gar nicht zusammen mit dem Betreiber des wohl weltweit einzigen internationalen Staubarchivs.

Für einen Wissenschaftler besteht Staub aus feinsten festen Teilchen, die in der Luft oder anderen Gasen aufgewirbelt länger schweben können.
Foto: Martin Egbert
 

Wolfgang Stöcker sammelt und archiviert Staub. „Alles ist Staub! Ordnung ist eine Illusion!“, steht auf seiner Website. Das klingt nach Dada. Ist es auch. Aber gleichzeitig noch viel mehr. Wolfgang Stöcker blickt die beige-graue Fassade des Ostturms hinauf. Tuffstein aus der Vulkaneifel. „Das Gestein ist Staub aus der Vulkanasche, durch die Jahrtausende verfestigt durch Regen und eigenes Gewicht“, sagt er und reibt mit der Hand über die poröse Oberfläche. Staub rieselt herunter auf das Pflaster, wie um seine Worte zu belegen. Doch für diesen Staub ist er nicht gekommen. Proben für sein Archiv entnehmen will er im Inneren des Turms der letzten romanischen Kirche, die in Köln gebaut wurde – und ihn sehr anzieht. „Die Kirche ist achthundert Jahre alt, ich bin 52, also nur ein sehr kleiner Teil dieser Geschichte, fühle mich aber in einer über die Jahrhunderte aufgestapelten Bezugslinie“, sagt er beim Eintreten.

Verlorene Kontrolle

Die Küsterin zeigt den Weg über den blitzblank geputzten Boden des Langhauses. Rechts hinter der Apsis führt eine Holztür in den Turm, die sie aufschließt. Als wir die steilen Stufen erklimmen, kündigen buschige Wollmäuse eine reiche Ausbeute an. Doch Wolfgang Büscher reicht der Inhalt eines Tütchens. Auf dem ersten Zwischenboden bückt er sich und nimmt eine Wollmaus zwischen die Finger. „Das sind hereingeflogene Samen von Pappeln, die bleiben am Rand liegen und verhaken sich mit Körnchen und Staub sowie anderen Stücken“, erklärt er. Eigentlich baut der Mensch Gebäude, um einen kontrollierten Raum zu erschaffen. Ausgerechnet in diesem Raum aber kann sich der Staub am besten sammeln. Hier findet er Schutz vor Wind und Wetter, bis der Mensch ihn wegputzt. Oder auch nicht.

Es gibt Grobstaub und Feinstaub. Letzterer ist definiert durch eine Partikelgröße kleiner als zehn Mikrometer.
Foto: Martin Egbert
 

Unten, in dem inszenierten Raum der Kirche, ist alles sauber. Hier oben geht diese Kontrolle wieder verloren, wie zuhause hinter der Einbauküche. „Alle unsere Bemühungen, etwas in eine Form und Ordnung zu bringen und darin zu halten, sind auf lange Sicht vergebens.“ Wolfgang Stöcker stopft die Wollmaus in die Tüte mit dem Zippverschluss und grinst: „Die Milben dadrin kümmern sich nicht um Kategorien wie Spätromantik.“ Staub verändert sich ständig und widersetzt sich der Verfestigung. „Diese Erkenntnis macht einen entweder demütig oder verrückt.“ Am Ende siegt die Natur, eine zugleich erbauende und niederschmetternde Erkenntnis.Aber was genau ist eigentlich Staub? Das kommt darauf an, wen man fragt. Für einen Naturwissenschaftler besteht Staub aus feinsten festen Teilchen, die in der Luft oder anderen Gasen aufgewirbelt länger schweben können. Es gibt Grobstaub und Feinstaub. Letzterer ist definiert durch eine Partikelgröße kleiner als zehn Mikrometer. Staub kann organisch oder anorganisch sein. Beides findet sich im Hausstaub, angereichert durch Milben, Bakterien oder Pilze. Wir kennen oder haben schon einmal gehört von kosmischem Staub, Kohlenstaub, Goldstaub und Sternenstaub. Und von Grenzwerten für Staub. Auch in unserer Sprache staubt es ordentlich, selbst wenn sie nicht verstaubt daherkommt. Wir können Abstauber sein oder Staub aufwirbeln. Staub kann sich über eine Sache legen oder von gestern sein. Für Wolfgang Stöcker ist Staub eine Kulturerscheinung, ebenso wie andere Hinterlassenschaften, Zufalls- oder Verfallserscheinungen. „Ich bin gerne dort, wo die Inszenierung kippt, der Verfall beginnt und etwas Neues entsteht.“

Wolfgang Stöcker
Foto: Martin Egbert
 

Er zeigt auf Wasserflecken auf dem Boden, die in verschiedenen Brauntönen ineinander mäandern. Für Wolfgang Stöcker sind sie nicht nur die Spuren einer Leckage, sondern abstrakte Kunst und Zeugnisse des Wechselspiels zwischen Mensch und Natur.

Wolfgang Stöcker hat Staub aus berühmten Weinkellern in Frankreich und Südafrika, dem Opernhaus in Sydney, der Hamburger Elbphilharmonie und dem Petersdom in Rom, vom Grab Strawinskys in Venedig und der Liszt-Orgel in Denstedt gesammelt.
Foto: Martin Egbert
 

Über weitere steile Holz-Treppen und Wege durch das Dachgebälk nähern wir uns den mächtigen Glocken im Westturm. Das ausgeblichene Gerippe einer Taube liegt in einer Ecke. Daneben zeugen verstaubte Glasscherben und Reste von bröseligem Fensterkitt von einer lang zurückliegenden Reparatur. Staubfäden hängen von den Balken, aber nicht an den Zahnrädern und Ketten, mit denen die Glocken bewegt werden. Staub braucht Ruhe. Den findet er auch hier vor allem auf den Stufen, den Mauerkanten und den Bodenbrettern. Wollmäuse allerorten. Im Glockenturm ändern sie aber ihre Struktur, breiten sich in Wellen aus. Beim Schlag der mächtigen Glocke wissen wir warum. Der Klang versetzt alle Körperzellen in Schwingung.

Der rote Faden Staub

Durch Staub tritt Wolfgang Stöcker in Kontakt und Austausch. Staub ist sein roter Faden, an dem entlang er die Welt durchdenkt, kommentiert und erklärt, ob in Form von historischen Führungen durch Köln, Ausstellungen oder von Kunstaktionen in Kirchen oder Museen. Um ihre wertvollen Exponate zu schützen, kontrollieren Museen in ihren Räumen Temperatur, Feuchtigkeit und vieles anderes mehr. „Trotzdem bilden sich auch dort Zonen der Unkontrollierbarkeit, die letztendlich auch von der Zuwendung und dem Interesse der Besucher zeugen.“

Staub aus dem Opernhaus in Sydney.
Foto: Martin Egbert

Stöcker hat Staub aus berühmten Weinkellern in Frankreich und Südafrika, dem Opernhaus in Sydney, der Hamburger  Elbphilharmonie und dem Petersdom in Rom, vom Grab Strawinskys in Venedig und der Liszt-Orgel in Denstedt
gesammelt.

 

Wolfgang Stöcker gießt außerdem Staub in Schreine aus Wachs, stellt dabei Bezüge und Verbindungen her. Und mit sehr ästhetischen Fotos erweitert er den Blick vom Staub auf bröckelnde Fugen, Kratzer und Risse in Fußböden oder Treppenstufen. So entsteht eine Archäologie der Oberflächen.

Staub aus Stravinskys Grab.
Foto: Martin Egbert
 

Nicht selten dient ihm aber der Staub auch als Aufhänger für Spott und Satire. Alleine schon, weil er etwas vorgeblich Sinnloses mit einem Ordnungsapparat wie einem Archiv überzieht. Das lagert in seinem engen Arbeitszimmer, zuhause in dem kleinen Reihenhaus in Köln-Ehrenfeld, das er mit seiner Frau und den zwei Kindern bewohnt. Rund zwanzig Aktenordner mit insgesamt sechshundert Proben stehen neben und gegenüber von Holzregalen, in denen sich Bücher zu Geschichte und Kunst stapeln. Stöcker hat Staub aus berühmten Weinkellern in Frankreich oder Südafrika, der Elbphilharmonie und der Verbotenen Stadt in Peking, vom Grab Strawinskys in Venedig, der Liszt-Orgel in Denstedt, dem Bremer Rathausspeicher, aus Fidel Castros Arbeitszimmer, dem Palast Haile Selassies in Addis Abeba, der Kalahari oder aus dem Petersdom, eingesammelt während der Papstmesse 2012. „Das hier ist die große, weite Welt in kleinen Tüten“, sagt er grinsend.

Interessante Anekdoten

Vieles haben ihm Freunde, Bekannte oder Fremde zugeschickt. Oft gibt es dazu interessante Anekdoten, vom chinesischen Zoll zum Beispiel, der den Brief mit dem Staub aus der Verbotenen Stadt nicht durchgelassen hat. Der Sammler, ein Geschäftsreisender, hat ihn dann selber vorbeigebracht.

Staub aus dem Petersdom.
Foto: Martin Egbert
 

Nicht wenige Proben hat Wolfgang Stöcker schriftlich erbeten. Zu Beginn hat er sich noch Deutsches Staubarchiv genannt. „Es sollte gewichtig klingen, so wie Deutsche Bank, damit meine Anfragen möglichst seriös rüberkommen.“Die zum Teil sehr ernsten, dann aber auch wieder humorigen Antworten heftet er mit ab. Erzählen sie doch von dem Selbstverständnis der Institutionen. „Kirchen haben meistens keine Berührungsängste, vermutlich weil Staub zu Staub sowieso ihr Thema ist.“ Anders politische Institutionen, vor allem hochrangige wie Schloss Bellevue oder der Bundestag. „Die befürchten wohl, es entsteht der Eindruck, sie würden nicht putzen.“

Außerdem gießt er Staub in Schreine aus Wachs, stellt dabei Bezüge und Verbindungen her.
Foto: Martin Egbert

Außerdem gießt er Staub in Schreine aus Wachs, stellt dabei Bezüge und Verbindungen her.

 

Bei allem Humor überwiegt aber die ernste Hinwendung. Gerade beim Rundgang durch Köln erklärt der Künstler und Historiker immer wieder seine Faszination für die ständige Veränderung. „Nachdem die Römer weg waren, haben die Kölner deren Marmorplatten zu Mörtel zermahlen, um daraus die Kirchen zu bauen.“ Und ein Kirchturm aus Tuffgestein, wie der von St. Kunibert am Rhein, ist für Wolfgang Stücker nichts anderes als ein Felsen auf dem Weg zu Staub. So wie wir alle letztendlich auch. 

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