Doppeltes Misstrauen

Der frühere US-Präsident Trump hat viel für die Evangelikalen getan. Ändert sich nun etwas?
Wichtige evangelikale und konservative Persönlichkeiten beten gemeinsam auf einer Pro-Trump-Veranstaltung in Georgia.
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Wichtige evangelikale und konservative Persönlichkeiten beten gemeinsam auf einer Pro-Trump-Veranstaltung in Georgia.

Viele weiße Evangelikale haben die Politik von Donald Trump befürwortet, weil sie gegenüber Regierungen und anderen „Außenseitern“ misstrauisch waren. Warum? Die Antwort liegt zum Teil in den Grundsätzen der Evangelikalen und in ihrer Geschichte, aber auch in Kräften, die die Amerikaner insgesamt betreffen, analysiert die US-Gelehrte und Expertin für Evangelikale, Marcia Pally.

Wie sieht die Zukunft der weißen evangelikalen Politik aus, nachdem Donald Trump das Weiße Haus verlassen hat, aber in der Republikanischen Partei immer noch mächtig ist? Die Beantwortung dieser Frage erfordert einen Blick darauf, wie weiße Evangelikale überhaupt dazu gekommen sind, ihn zu unterstützen.

Seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan waren weiße Evangelikale mit deutlicher Mehrheit für die Republikaner, der tiefste Wert waren 62 Prozent im Jahr 1996 bis zu einem Höchstwert von 81 Prozent im Jahr 2016. Sie haben eine zunehmende Unterstützung für rechtspopulistische Positionen gezeigt, zwischen 76 bis 81 Prozent der Evangelikalen haben 2020 für Trump gestimmt. Diese Unterstützung ergibt sich aus dem evangelikalen Glauben – aber vielleicht nicht aus rein religiösen Überzeugungen wie der Ablehnung von Abtreibung und von LGBTQ-Rechten. Als Amerikaner finden weiße Evangelikale Rechtspopulismus aus den gleichen Gründen attraktiv wie andere Amerikaner. Darüber hinaus bringen bestimmte evangelikale Grundsätze und vor allem ihre religiös-politische Geschichte viele weiße Evangelikale in eine Position, Rechtspopulismus positiv zu bewerten.

Und so finde ich eindimensionale Berichte über evangelikale Politik zu einfach. In der Tat war 2016 die Wirtschaft der wichtigste Faktor bei der Bestimmung der Kandidatenwahl für 62 Prozent der „Evangelikalen dem Glauben nach“ und für 59 Prozent der „sich selbst als Evangelikale identifizierenden Menschen“, so die Meinungsforschung. Nur 36 beziehungsweise 31 Prozent waren durch das Abtreibungsthema motiviert, die Republikaner zu wählen, 17 beziehungsweise 16 Prozent durch LGBTQ-Angelegenheiten. Im Jahr 2020 waren die Wirtschaft (22/24 Prozent) und die Covid-19-Pandemie (16/19 Prozent) die wichtigsten Faktoren für Menschen mit evangelikalem Glauben oder regelmäßige Kirchgänger (Gottesdienstbesuch mindestens einmal im Monat), während die Themen Abtreibung, Religionsfreiheit und die nationale Sicherheit nur für halb so viele Evangelikale wahlentscheidend waren wie für diejenigen, für die die Wirtschaft das Topthema war. Alle anderen Anliegen, einschließlich der Einwanderung und der Kandidaten für den Obersten Gerichtshof, waren für beide Gruppen nur zu acht Prozent oder weniger entscheidend.

Die Sorge um eine starke Wirtschaft (und nicht Fragen der religiösen Überzeugung) führten weiße Evangelikale dazu, für Trump zu stimmen, was eine Affinität zwischen ihren wirtschaftlichen Ansichten und denen Trumps widerspiegelt, nämlich dass erstens eine stark regulierende Regierung die Wirtschaft behindere und eine solche Regierung durch Steuersenkungen und den Abbau von Unternehmensgesetzen in Schach gehalten werden muss. Und dass zweitens Außenstehende (wie Einwanderer oder Nicht-Weiße) jede Arbeit annehmen müssen, da sie sonst die wirtschaftliche Vitalität und die amerikanische Lebensweise untergrüben. Trumps wichtigste Errungenschaften im Amt waren 2017 die dauerhafte Steuersenkung für die reichsten Amerikaner und Unternehmen sowie die Aufhebung vieler Vorschriften in Sachen Umweltschutz, Arbeit, Wohnen, Energie und so weiter; die Grenzmauer, um die Einwanderung zu stoppen; und das Einreiseverbot aus mehreren Ländern mit muslimischer Mehrheit. Wie viele weiße Evangelikale haben diese Politik befürwortet, weil sie gegenüber der Regierung und anderen „Außenseitern“ misstrauisch waren? Die Antwort liegt zum Teil in den Grundsätzen der Evangelikalen und in ihrer Geschichte, aber auch in Kräften, die die Amerikaner insgesamt betreffen. Zunächst besteht in der amerikanischen Kultur seit langem ein Misstrauen gegenüber der Regierung, da Einwanderer in die USA im Laufe der Jahrhunderte ja aus politisch, wirtschaftlich und religiös unterdrückenden Staaten geflohen sind. Die Kultur ist auch von Misstrauen gegenüber Außenstehenden geprägt, da das Leben an den frontiers bei der weißen Besiedlung Nordamerikas Eigenständigkeit erforderte, ebenso Vertrauen in die eigene Gemeinschaft, Vorsicht gegenüber Fremden und den weit entfernten Bundesbehörden. In der Tat weiteten sich die Aufstände gegen Bundessteuern, die Shays’ Rebellion (1786 – 1787) und die Whiskey Rebellion (1791 – 1794), fast so schnell aus wie das Land selbst. So war es auch bei den gegen Einwanderer gerichteten „Alien and Sedition Acts“ von 1798. Die Anti-Einwanderer-„Know Nothing“-Partei war in der Vorkriegszeit eine bedeutende politische Kraft. In den Jahren 1875, 1882 und 1924 wurden erneut diskriminierende Einwanderungsgesetze erlassen.

Sowohl wegen ihrer Lehre als auch wegen ihrer politischen Geschichte trugen Evangelikale zu dieser doppelten Vorsicht bei. Als Erben der Täufer und der religiös Andersdenkenden, die vor den verfolgenden Staatskirchen Europas geflüchtet waren, waren die Evangelikalen gegenüber der Regierung besonders misstrauisch. Die Betonung der Lehre auf das individuelle Lesen der Bibel und auf das „Priestertum aller Gläubigen“ – und nicht auf die Abhängigkeit der Gläubigen von Priestern – trug zum evangelikalen Misstrauen gegenüber den Regierungs- und Kirchenautoritäten bei. Hervorragende Berichte über die evangelikale Rolle in der Ideologie der weißen Vorherrschaft (white supremacy) in Amerika findet man in Robert Jones Buch White Too Long und David Gushees Buch After Evangelicalism. Das doppelte Misstrauen gegenüber der Regierung und Außenstehenden ist nur ein Merkmal der politischen Kultur Amerikas, es ist auch eines des Evangelikalismus – tatsächlich sind 20 bis 25 Prozent der Evangelikalen von beidem geprägt, vom Misstrauen gegen die Regierung wie gegen Außenstehende. Trotzdem scheint das eine kräftige Reaktion zu sein, die besonders unter Bedingungen der Not abrufbar ist. Amira, Wright und Goya-Tocchetto bemerken: „Obwohl die Tendenz, der Ingroup zu helfen, prioritär zu sein scheint, ändern die Befragten in Situationen symbolischer Bedrohung der eigenen Identität den Gang – und entscheiden sich dafür, der Outgroup Schaden zuzufügen.“ Das heißt, äußere Not treibt Menschen dazu, nach Erklärungen und Lösungen zu suchen und den „Anderen“ die Schuld zu geben. Unter den Amerikanern, einschließlich der weißen Evangelikalen, waren die langjährigen „Anderen“ die Bundesregierung und die „Außenseiter“ (Einwanderer, Schwarze). Unter den Bedingungen der Not – sei es der wirtschaftliche Umbruch oder aufgrund eines raschen Wandels des sozialen Status, der Demografie, der Geschlechterrollen oder der Technik – sind diese Gruppen immer wieder beliebte Ziele.

Dies ist eine Möglichkeit zu verstehen, was der Rechtspopulismus Trumps verspricht: nämlich einfache Lösungen für die bedrohte Lebensweise, den befürchteten Statusverlust und wirtschaftliche Nöte, die sich erstens gründen auf ein binäres, in Gegensätzen denkendes „Wir-gegen-Die-Verständnis“ für die Ursachen der Not und die, zweitens, leicht zu erfassen sind, weil sie bekannt sind und dem historisch-kulturellen Hintergrund der Gesellschaft entstammen. Graham Ward nennt dies die „kulturelle Vorstellungskraft“.

Evangelikale sind genauso wie andere Amerikaner mit Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung konfrontiert, insbesondere in Regionen der „alten Industrie“, die vom globalisierten Handel und im Wesentlichen von Automatisierungs- und Produktivitätsgewinnen betroffen sind, die zu 88 Prozent für Arbeitsplatzverlust verantwortlich sind. Mit der finanziellen Not verbunden ist die Angst vor Statusverlust und Veränderungen der Lebensweise. Diejenigen, die sich zwischen 2010 und 2018 am meisten von der Republikanischen Partei angesprochen fühlten, waren Weiße ohne Hochschulabschluss, aber mit einem Einkommen der Mittelklasse (etwa 77 500 bis 130 000 US-Dollar pro Jahr). Sie waren besorgt, dass in einer „wissensbasierten“ Wirtschaft ihre Möglichkeiten zunehmend eingeschränkt würden und ihr „respektabler“ Status bedroht sei.

Zusätzlich zu diesem Druck, der 30 bis 40 Prozent der Amerikaner politisch nach rechts bewegt hat, gibt es Stressfaktoren, die speziell auf Evangelikale wirken, insbesondere das Gefühl politisch-kultureller Marginalisierung und Ablehnung in einer zunehmend säkularen und sozialliberalen Nation. Während des Scopes-Prozesses von 1925 wurden Evangelikale öffentlich verspottet, weil sie sich gegen den Evolutionsunterricht an öffentlichen Schulen aussprachen, in denen 1968 dann das gemeinsame Schulgebet gestrichen wurde. Die Gegenkultur der 1960er-Jahre, die Programme für Bürgerrechte und die „Great Society“ unter der „big-government-Regierung“ von Präsident Lyndon Johnson, die Proteste gegen den Vietnam-Krieg sowie die Bewegungen für Frauen- und Homosexuellen-Rechte förderten das Gefühl der Marginalisierung unter den Evangelikalen. 1973 wurde die Abtreibung legal. In den 1970er-Jahren drohte die Regierung damit, die Steuerbefreiung von religiösen Schulen zu beenden, die Rassentrennung praktizierten. Die Besorgnis der Evangelikalen wuchs erneut, als die Obama-Regierung die Steuerbefreiung und den Zugang zu Bundeszuschüssen für religiöse Institutionen in Zweifel zog, die die LGBTQ-Fakultäten und queere Studenten diskriminierten. Wegen des Bundesgesetzes von 2010, das Angestellten Mittel der Geburtenkontrolle durch betriebliche Krankenversicherungen ermöglichte, und der Legalisierung der Homo-Ehe von 2015 glaubten die Evangelikalen erneut, dass eine große (säkulare) Regierung auf ihre Freiheit einprügele.

Angst vor „den Anderen“

Im Jahr 2020 waren zwei Drittel der weißen Evangelikalen der Ansicht, dass Christen häufig Diskriminierung ausgesetzt seien. Diese Lebensweise, wirtschaftliche und religiöse Sorgen haben zusammen das Gefühl der Not und die Angst vor „den Anderen“ erzeugt, auf die Amira et al. hingewiesen haben. Die evangelikale Unterstützung republikanischer und rechtspopulistischer Positionen ist daher kein faustischer Pakt, bei dem Evangelikale politische Unterstützung im Austausch für die Unterstützung der Republikaner in religiösen Angelegenheiten leisten. Es ist eher eine politische Unterstützung für politische Maßnahmen. Wenn Evangelikale von republikanischen und rechtspopulistischen Vorschlägen angezogen werden, bemühen sie sich um Erleichterung von miteinander verbundenen Zwängen, indem sie sich dem traditionellen Glauben an eine eigenständige Gemeinschaft zuwenden, der von einer übergriffigen Regierung und anderen Außenstehenden nicht belästigt wird – ein Glaube, zu dem sie in zweifacher Weise kommen: durch die evangelikale Doktrin und Geschichte und aus einer langen amerikanischen Tradition, die sie mit anderen Amerikanern gemeinsam haben.

Und wie sieht die evangelikale Zukunft in den USA aus? Sie hängt zum Teil von der Befreiung von gegenwärtigen Nöten ab. Aber das doppelte Misstrauen gegenüber der Regierung und „Außenseitern“ ist tief verwurzelt und so allgegenwärtig, dass es leicht wiederbelebt werden kann. Obwohl die National Association of Evangelicals 2017 eine ganzseitige Anzeige in der New York Times veröffentlichte, in der Trumps Einreiseverbot für Muslime („Muslim ban“) angeprangert wurde, sprachen diese religiösen Führer, wie Amy Sullivan schreibt, „nicht für die meisten weißen Evangelikalen“, denn von diesen, so ermittelten es Meinungsforscher, waren drei Viertel für die (Trump’schen) Flüchtlings- und Einreiseverbote. Obwohl evangelikale Führer im Jahr 2021 gegen Joe Bidens ursprüngliche Entscheidung protestierten, Trumps Begrenzungen der Neuansiedlung von Flüchtlingen beizubehalten, erklärten 71 Prozent der weißen Evangelikalen, dass „die amerikanische Lebensweise vor ausländischem Einfluss geschützt werden muss“.

Nöte und die Angst vor zukünftigen Nöten sind Wunden, die weiter schwären. Jeanne Knutson, Gründerin der International Society of Political Psychology, betont die Kraft der Überzeugung, dass „nur fortgesetzte Aktivitäten zur Verteidigung der eigenen Person (oder der eigenen Gruppe) angemessen dazu dienen, die Gefahr weiterer Aggressionen gegen sich selbst zu verringern“. Ein solches Denken ist bei den US-Evangelikalen weit verbreitet. 

(Übersetzt aus dem Englischen.) 

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Marcia Pally

Marcia Pally ist Professorin für Englisch an der Universität in New York. Sie hat eine Gastprofessur an der Theologischen Fakultät der  Humboldt Universität in Berlin inne.


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