Der Heiler

Alt ist der neue US-Präsident Joe Biden – aber ziemlich dynamisch im Amt zugleich
Der neue US-Präsident Joe Biden kurz vor dem Abflug mit der Air Force One zu seiner ersten Auslandsreise Anfang Juni.
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Der neue US-Präsident Joe Biden kurz vor dem Abflug mit der Air Force One zu seiner ersten Auslandsreise Anfang Juni.

In der Innenpolitik ist Joe Biden schon jetzt kein Übergangspräsident mehr. Er ist  ein  Veränderer. Er will sein Land sozialer und gerechter machen, will die  Spitzensteuern erhöhen und dem Staat eine größere Rolle im Alltag seiner  Landsleute geben – auch  wenn das nicht allen gefällt. Über Bidens furiose erste  Monate im Land der unbegrenzten Möglichkeiten berichtet die US-Korrespondentin Dorothea Hahn.

Bestenfalls könne er ein Übergangspräsident werden, das hatten selbst Anhänger von Joe Biden gemunkelt. Für alles andere sei er zu alt, zu vorsichtig, zu sehr darauf bedacht, die Republikaner nicht vor den Kopf zu stoßen. Außerdem seien große Reformen ohnehin zum Scheitern verurteilt: wegen des tief gespaltenen Landes und wegen seiner schwerfälligen und konservativen Institutionen.

Das war vor dem 20. Januar. Seither hat Biden Skeptiker und Anhänger Staunen gelehrt. Dass er den Ton, den Stil und das Personal in Washington verändern und dass er die Hasstiraden aus dem Weißen Haus – per Tweet, Youtube und vor den Fernsehkameras – beenden würde – das war von ihm erwartet worden. Er hatte sich selbst als Heiler angeboten, als einer, der zusammenbringen würde, was sein Vorgänger zerschlagen hatte. Nach dem langen, bitteren Chaos in der Pandemiebekämpfung war auch erwartet worden, dass Bidens Regierung Erfolge gegenüber dem Virus zeigen würde.

Aber Biden ging weiter. Er nahm die Armut und die wachsende soziale Ungleichheit in den USA ins Visier. Gleich nachdem er sein mit der Rekordsumme von 1,9 Billionen Dollar ausgestattetes Konjunkturprogramm „American Rescue Plan“ unterschrieben hatte, begann er mit der Arbeit an dem Infrastrukturplan „Build Back Better“ – ein Projekt, so gigantisch wie es die USA seit den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht mehr gesehen haben. Bidens Hilfen richten sich gezielt an die untere Mittelschicht. Er führt Sozialleistungen ein, die in anderen Industrieländern selbstverständlich sind, aber in den USA schier unmöglich schienen. Unter anderem enthält der „American Rescue Plan“ steuerliche Erleichterungen für Eltern mit geringem Einkommen. Sie könnten die Kinderarmut in den USA um mehr als die Hälfte reduzieren. Er führt erneut Regeln zur Reinhaltung von Luft und Wasser ein, gab den Familienplanungszentren die staatliche Unterstützung zurück, verbot die Ungleichbehandlung von sexuellen Minderheiten im Militär, im Gesundheitswesen und in Unternehmen. Und Biden stoppte den Mauerbau längs der Südgrenze sowie das Einreiseverbot für Menschen aus muslimischen Ländern. Diese Vorstöße machen Biden zu einem der meist unterschätzten neuen US-Präsidenten seit langer Zeit.

Der 78-Jährige redet wenig (in seinen ersten 100 Tagen im Amt gab er nur ein Drittel der Worte von sich, die sein Amtsvorgänger in derselben Periode abgesondert hatte). Auch bei Unwahrheiten hält er sich zurück (die Fact Checker der Washington Post zählten bei Trump 517 Lügen in den ersten 100 Tagen – bei Biden 78. Nur Letzterer korrigierte einige davon später).

Nach der Trump-Regierung mit mehrheitlich weißen Männern hat Biden Frauen und viele Angehörige der Minderheiten zu Ministern gemacht. Sein Kabinett sieht aus wie das reale Land. Mit Jungen und mit Alten, mit Schwarzen, Latinos und mit einer Native American als Innenministerin. 245 Jahre nach der Unabhängigkeit ist Deb Haaland die erste Nachfahrin von Ureinwohnern in einer US-Regierung. In der Innenpolitik ist Biden damit schon jetzt kein Übergangspräsident mehr. Er ist ein Veränderer. Er will sein Land sozialer und gerechter machen, will die Spitzensteuern erhöhen, will dem Staat eine größere Rolle im Alltag seiner Landsleute geben und will die Gewerkschaften als positive Kraft rehabilitieren. „Die Regierung“, sagt Biden in seiner ersten Ansprache als Präsident vor beiden Kammern des Kongresses, „sind wir, das Volk. Die Regierung sind Du und ich.“ Für die USA sind das radikale Worte. Sie bedeuten eine Abkehr von vier Jahrzehnte alten Dogmen, die sowohl republikanische als auch demokratische Regierungen vertreten haben.

Als Biden sein Amt antrat, standen die USA unter Schock. Mehr als 400 000 Menschen waren bereits in der Pandemie gestorben. Der damals nur zwei Wochen zurückliegende Sturm von hunderten teils schwer bewaffneten Trump-Anhängern auf das Kapitol – der massivste Angriff auf die US-Demokratie seit Generationen – weckte Ängste vor einem neuen Bürgerkrieg. Und der an der Urne gescheiterte Donald Trump verbreitete weiterhin seine zersetzend und aufwiegelnd gemeinte Behauptung, er und nicht Biden sei der Sieger der Wahl. Die Amtseinführung des neuen Präsidenten fand hinter Masken und hinter Zäunen sowie fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die US-Hauptstadt war eine Festung. Soldaten beherrschten das Straßenbild. Biden schien der richtige Mann für die bedrohliche Lage. Bekannt, vertraut, vorhersehbar. Generationen von US-Amerikanern sind mit ihm aufgewachsen. Sie nennen ihn „Joe“. Sie schätzen sein: „Hey Folks“, sein Witzeln über sein Stottern und sein Schulterklopfen für Männer – und sie sehen, dass er sich neuerdings bei Umarmungen und Küsschen für Frauen zurückhält. Sie kennen schon lange seine Ambitionen – er war Senator, Vizepräsident und Daueranwärter für das Weiße Haus. Sie haben Anteil an seinen privaten Dramen genommen – der Autounfall, bei dem seine erste Frau und Tochter starben, der Krebstod seines Sohns Beau, die Drogenabhängigkeit seines zweiten Sohnes Hunter. Haben seine Tränen gesehen. Und mögen seine zweite Gattin Jill, eine berufstätige Frau, die auch als First Lady weiter unterrichtet.

Das hat Biden menschlich gemacht. „Joe“ ist ein Kumpel und ein Sympathieträger. Selbst radikalen Rechten fällt es schwer, Gift gegen ihn zu versprühen. Während sich das Land bei Hillary Clinton oder Barack Obama in glühende Verehrer und leidenschaftliche Gegner spaltet, hören auch Republikaner freundlich zu, wenn Biden über „Unity“ – Einheit – und überparteiliche Zusammenarbeit spricht. Politisch ist er bekannt als Verteidiger des Status Quo, als eine Säule des zentristischen Flügels seiner Partei. Er hat als Senator für ausländische Militäreinsätze und für die Verschärfung des Strafrechts gestimmt. Hat die Interessen von Kreditkartenunternehmen, von denen viele in seinem Bundesstaat Delaware ansässig sind, gegen den Schutz von Konsumenten verteidigt. Und hat vertraulich mit weißen Segregationisten aus den Südstaaten zusammen gearbeitet und noch im zurückliegenden Wahlkampf deren „Höflichkeit“ gepriesen.

Systemischer Rassismus

Als Präsident schlägt Biden andere Töne an. „Der systemische Rassismus ist ein Flecken auf der Seele unserer Nation“, sagte er, nachdem ein Geschworenengericht in Minneapolis einen Polizisten wegen Mord und Totschlag an dem unbewaffneten Schwarzen George Floyd verurteilt hatte. Als Präsident spricht er anders über die tiefen sozialen Gräben, die durch das Land gehen. An seinem 100. Amtstag, bei seiner Rede vor dem Kongress, klingt Biden wie der demokratische Sozialist Bernie Sanders, als er immer wieder sagt, dass auch die Milliardäre endlich ihren fairen Anteil an Steuern zahlen müssen.

Der bekannte schwarze Theologe und Universitätsprofessor Cornel West bescheinigt dem Präsidenten einen politischen Mut, der Barack Obama gefehlt habe. Das Kompliment ist umso gewichtiger, als der Theologe noch im letzten Jahr vor Biden gewarnt hatte. Damals nannte er ihn eine „neoliberale Katastrophe“. Auch andere Linke haben sich Biden angenähert. Der demokratische Sozialist Bernie Sanders, sein mächtigster Widersacher im Vorwahlkampf, ist heute einer seiner großen Unterstützer. Er sieht Biden als den „progressivsten Präsidenten“ seit Franklin Delano Roosevelt, der die USA mit dem „New Deal“ aus der Depression herausgeführt hat. Auf „FDR“ gehen die Sozialversicherung, Stauseen und das Netz von Interstate Highways zurück. Unter Biden wurden die USA binnen weniger Wochen von dem internationalen Schlusslicht bei der Pandemiebekämpfung zu einem Vorbild für andere Länder. Der Erfolg sorgt für Aufbruchstimmung und Optimismus.

Diesen Ruck, der durch das niedergeschlagene Land geht, spüren sowohl demokratische als auch republikanische Wähler. Biden will das nutzen. Nachdem er den American Rescue Plan unterschrieben hat, gehen er und seine Vizepräsidentin auf eine Werbe-Tour durch die Provinz. Bei ihren Auftritten in Swing-States, in denen Biden knapp gegen Trump gewonnen hat, erklären sie die Vorteile ihrer Politik. Das hat Biden von seinem Ex-Chef Obama gelernt. Der hat zwar die Gesundheitsreform durchgesetzt, aber sie anschließend nicht als Werbeargument für seine Politik genutzt. Obama hatte seinen politischen Gegnern die Kommunikation über sein wichtigstes Reformpaket überlassen.

Unter Biden sind die Mehrheiten der Demokraten im Kongress nur hauchdünn. Lediglich dank Vizepräsidentin Harris verfügen sie im Senat über eine Stimme mehr als die Republikaner. Das reicht nicht für große politische Reformen wie das versprochene neue Einwanderungsgesetz, mehr Schusswaffenkontrolle und eine andere Klimapolitik. Um das durchzusetzen, braucht Biden republikanische Dissidenten, die gegen den Mainstream ihrer Partei stimmen. Und er braucht eine Öffentlichkeit, die Druck auf die Kongressabgeordneten macht.

Auf beides arbeitet er hin. Vorerst helfen ihm dabei die internen Auseinandersetzungen in der Republikanischen Partei über die künftige Rolle von Trump. Vorerst suchen die Republikaner auch noch nach dem Leitmotiv für ihre Opposition gegen Biden. Sie haben verschiedene Themen angetestet – darunter die angebliche Invasion an der Südgrenze der USA und zuletzt der angebliche Mangel an Unterstützung für Israel – aber sich noch auf keines festgelegt.

Die Zustimmung zu Bidens Politik ist mit 54 Prozent größer, als Trump sie je erlebt hat. Aber sie ist niedriger als bei früheren US-Präsidenten nach ihren ersten Monaten im Amt. Und die Anhänger von Trump sind geschlossen wie eh und je. Biden präsidiert ein tief gespaltenes Land. Der Graben geht auch durch Bidens katholische Kirche. Das ist anders bei den fundamentalistischen Evangelikalen. Aus ihren Reihen kommt der größte zusammenhängende Wählerblock für Trump. Sie haben Trump ins Weiße Haus gebracht. Haben dafür gesorgt, dass er die US-Botschaft nach Jerusalem verlegt hat. Haben die Obersten Richter ihrer Wahl bekommen. Und haben die Reizthemen Abtreibung und LGBT-Rechte auf die politische Tagesordnung gebracht. Biden steht auf ihrer Liste von großen Übeln.

Liste großer Übel

Für Demokraten wie Biden sind die fundamentalistischen Evangelikalen unerreichbar. Bei den Katholiken ist das anders. Da ist eine Mehrheit der Gläubigen liberal. Sie wollen eine andere Einwanderungspolitik und befürworten mehr Sozialstaat. Aber zugleich hadern 47 Prozent der Katholiken mit Bidens Familienpolitik. Vor allem weil er Schwangerschaftsabbrüche billigt und weil seine Regierung es zulässt, dass die Abtreibungspille während der Pandemie per Post versandt wird.

In der katholischen Hierarchie sind die Biden-Kritiker die lautstärksten. Joseph Naumann, Erzbischof von Kansas City, ist einer ihrer Wortführer. Naumann nennt Bidens Position zum Schwangerschaftsabbruch ein „moralisches Übel“. Für den gläubigen Katholiken und regelmäßigen Kirchgänger Biden wiegt die Kritik schwer. Nach John F. Kennedy ist er erst der zweite katholische Präsident der USA.

Der alte Mann, der ins Weiße Haus gekommen ist, um das Land zu modernisieren, versucht eine Politik, die anderswo abgewickelt wird. Seine sozialen Reformen sind sein wichtigstes Argument. Vorerst sind sie zeitlich befristet. Aber Biden will sie langfristig im Gesetz verankern. Mit republikanischen Mehrheiten nach den Halbzeitwahlen im Herbst 2022 hätte er dazu keine Chance. Er muss weiter die Werbetrommel rühren. 

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