Zeitzeugnis

Reiche: Politisch denken

Mit dem Titel ist das Buch geografisch bereits verortet: Tief träumen und hellwach sein. Es handelt sich um ein Zitat des über Brandenburg hinaus bekannt gewordenen Staudenzüchters und Gartenphilosophen Karl Förster. Tief träumen, das heißt vor allem, gründlich in die Vergangenheit hinabsteigen und Zusammenhänge suchen. Und es heißt, in die Zukunft vorauszuschauen, Ungewöhnliches und Unerwartbares für möglich zu halten. Hellwach muss einer sein, wenn er die Erkenntnisse aus der Vergangenheit und die Visionen für die Zukunft nutzbar machen will. Berlin und Brandenburg: Hier ist Steffen Reiche 1960 geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat evangelische Theologie studiert. Hier wurde er Pfarrer und hat 1989 mit Gleichgesinnten die sozialdemokratische Partei der DDR gegründet. Hier wurde er ihr Landesvorsitzender und 1994 Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur und später Minister für Bildung, Jugend und Sport. Hier ist er nun wieder „Pfarrer mit Leidenschaft“, wie er vorher „Politiker mit Leidenschaft“ war. Freilich wäre er vermutlich, wenn das Wahlergebnis 2009 anders ausgefallen wäre, lieber Politiker geblieben.

Von früher Jugend an war Reiche ein politisch denkender Mensch. Durch das Leben in der Jungen Gemeinde und durch das weltoffene Studium an einer theologischen Hochschule (die in der DDR nicht so bezeichnet werden durfte) war er Argumentieren gewohnt und ein Denken ohne ideologische Schranken. Einige Male durfte er noch vor dem Mauerfall zu Verwandtenbesuchen in die BRD fahren und lernte eine freiere Art des öffentlichen Lebens kennen. Später traf er dort mit haupt- und ehrenamtlichen Funktionären der SPD zusammen.

Den Begriff „Mauerfall“ übrigens lehnt er ab; er schreibt, „die Mauer ist durchlaufen worden und war damit überflüssig.“

Für Reiche beginnt der Verfall der Demokratie in Ostdeutschland mit der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED, was ein Ende der sozialdemokratischen Bewegung bedeutete. Folgerichtig könne die Herstellung der Demokratie nur mit dem Wiederaufleben der SPD gelingen. Für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft nach dem Ende der DDR war eine Partei nötig, die im Unterschied zu allen Parteien der DDR nicht korrumpiert war.

Der Höhepunkt seines Politikerlebens war zweifellos die Zeit als Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg von 1999 bis 2004. Begeistert schreibt er von dieser Arbeit, von seinen Begegnungen mit Schülern, Jugendlichen und Sportlern.

Zu den bewegendsten Abschnitten gehört die Erinnerung an die Gedenkfeier zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück: Nach dem offiziellen Teil saßen die deutschen Verantwortlichen für das Treffen mit den Überlebenden des Lagers zusammen, als zum Erschrecken der Deutschen Tanzmusik erklang. Entsetzt stürzten Reiche und ein Mitarbeiter zu den ehemaligen Häftlingen, um sich für die Taktlosigkeit der Musiker zu entschuldigen. „Doch sie verstanden uns nicht.“ Sie wollten das Leben feiern, hatten die Musik eigens bestellt, sie waren nach dem würdevollen Gedenken mit Deutschland im Reinen.

Was die Freude an der Lektüre des interessanten, gut lesbaren Buches schmälert, ist Reiches gelegentlich spürbar werdende Selbstverliebtheit, seine Unzufriedenheit darüber, dass seine Leistungen, die zweifellos groß sind, nicht gebührend gewürdigt werden.

Eine vergnügte Anmerkung für die Leserschaft von zeitzeichen: Die Theaterzeitschrift der DDR hieß Theater der Zeit und nicht Zeichen der Zeit wie auf Seite 24 notiert; das war eine von der Evangelischen Kirche herausgegebene Vorgängerzeitschrift dieser Zeitschrift, der zeitzeichen.

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