Armut als Hautfarbe

Christen veröffentlichen ein Manifest gegen Brasiliens Präsidenten Bolsonaro
Foto: Carlos Hubner

Im August vergangenen Jahres haben 130 Christen in Brasilien ein Manifest verfasst, das nun auch auf Deutsch vorliegt. Darin wird die Regierungspolitik von Präsident Jair Messias Bolsonaro angeprangert. zeitzeichen sprach mit Hans Alfred Trein, Pfarrer der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien.

zeitzeichenPfarrer Trein, was hat Sie bewogen, ein Manifest über die gesellschaftliche und politische Lage in Brasilien zu formulieren und damit an die Öffentlichkeit zu gehen?

HANS ALFRED TREIN: Aufgrund unseres reformatorischen, lutherischen Bekenntnisses haben wir die Überzeugung, dass wir unseren Glauben und unser alltägliches Leben miteinander verbinden müssen. Seit die jetzige Regierung Brasiliens unter Präsident Bolsonaro vor zwei Jahren die Geschäfte übernommen hat, hat sich die Situation im Land immer weiter verschlechtert: Nekropolitik ist die angemessene Bezeichnung. Viele der anfänglichen Versprechen sind nicht eingehalten worden, und er hat die Lüge, nach seinem Vorbild Donald Trump, zur politischen Methode gekürt.

Woran machen Sie das fest?

HANS ALFRED TREIN : Bolsonaro zog – ähnlich wie Trump – mit einem neoliberalen Diskurs die finanziellen Eliten in sein Boot: Privatisierungen, Arbeitsreform, Rentenreform … immer zu Ungunsten der ärmeren Klassen. Er versprach auch, der Vetternwirtschaft Einhalt zu gebieten. Dabei wird jeden Tag deutlicher, dass er vornehmlich seine Familie und seine Freunde unterstützt, sich mit Milizen umgibt, dabei seine Kritiker als Feinde oder als Kommunisten bezeichnet.

Was sind Ihre Hauptkritikpunkte an der Bundesregierung?

HANS ALFRED TREIN  Laut Bolsonaro betreibt Brasilien eine intensive Waldschutzpolitik. International zugängliche Daten belegen jedoch das Gegenteil. Brände und illegale Abholzung nehmen seit 2019 stark zu. Kontrollinstanzen und selbst die Regierungs-organe zum Waldschutz werden abgebaut. Im Juni 2019 hat er den Rat vom Amazonasfonds abgeschafft. Daraufhin haben Deutschland und Norwegen ihre Spenden zurückgezogen. Nun fordert er jüngst beim virtuellen Klimagipfel Geld, um den Regenwaldschutz wieder aufzunehmen, aber am Tag danach werden über 36 Millionen Euro vom Umweltministerium gekürzt. In der Trockenzeit hat es im Tiefensenkungsgebiet Pantanal große Brände gegeben. Die Regierung macht die NGOs dafür verantwortlich – eine Lüge. Neulich sind 200 000 Kubik-meter Holz illegal aus dem Regenwald entwendet worden. Die Presse prangert das an, und nichts passiert. Über einhundert Amtsenthebungsverfahren liegen inzwischen dem Parlament vor, und nichts passiert. Es ist unerträglich.

Gibt es weitere Kritikpunkte?

HANS ALFRED TREIN  Ein anderes Thema ist unser neues Militärregime, das sich auch ohne Putsch eingerichtet hat. Tausende Militärs sind mittlerweile in der Bundesregierung etabliert, ein Großteil davon ist weiter im Militärdienst tätig. Was passiert im nächsten Jahr, wenn die Opposition die Wahlen gewinnen sollte? Gehen diese Militärs dann zurück in die Kasernen? Der Präsident will auch durchsetzen, dass Menschen bis zu sechs Feuerwaffen zuhause halten können, Waffensammler bis zu sechzig Waffen. Da bahnt sich etwas an.

Sie sprechen in dem Manifest auch davon, dass Brasilien zum Kauf angeboten wird.

HANS ALFRED TREIN: Die Privatisierung unseres staatlichen Ölunternehmens und der Elektrizitätswerke schreiten hinter verschlossenen Türen voran. Ebenso wird die Zentralbank der internationalen Finanzspekulation geöffnet.
Keine andere Nation macht so etwas. Land wird Investoren zum Verkauf angeboten. Große Firmen kaufen Holz und Mineralien auf, Gold soll in Zukunft von großen ausländischen Firmen abgeschürft werden dürfen. Kurz: Es ist ein großer Ausverkauf.

Warum benutzen Sie den Ausdruck Genozid der lokalen Bevölkerung?

HANS ALFRED TREIN: Bolsonaros Umgang mit der Corona-Pandemie ist katastrophal, er hat sie zunächst als kleine Grippe bezeichnet. Und er hat die gesundheitliche Lage gegen die wirtschaftliche ausgespielt. Noch vor einem halben Jahr hat er sich gegen Impfungen ausgesprochen. Wir denken, dass hier eine Art Sozialdarwinismus vollzogen werden soll. Das heißt, die Regierung geht davon aus, dass alle Einwohner die Krankheit bekommen werden und dann so etwas wie eine Herdenimmunität entsteht. Und die, die nicht genug Kraft haben, zu schwach sind, werden sterben. Das nimmt er in Kauf, und das erklärt auch die 395 000 Toten bis Ende April 2021.

In Ihrem Manifest steht, Bolsonaros Religiosität sei nur Marketing.

HANS ALFRED TREI : Ursprünglich war Bolsonaro katholisch, dann hat er sich den Neopfingstlern angeschlossen. Seine Wiedertaufe im Jordan wurde im Wahlkampf sehr ausgeschlachtet und in die Öffentlichkeit getragen, er wurde immer wieder betend und kniend abgebildet. Aber in seinen ganzen Äußerungen ist nichts vom Evangelium der Liebe und des Friedens zu hören. Es ist immer nur von Hass und Bewaffnung die Rede. Trotzdem wird er von Neo-pfingstlern politisch unterstützt, die die arme Bevölkerung mit Heilungen und einer Wohlstandstheologie bezaubern. Angeblich könne jeder predigen, ohne Wissen oder Studium, weil der Heilige Geist alles eingibt. Dieser antiwissenschaftliche Kurs Bolsonaros findet bei vielen einfachen Leuten breite Akzeptanz.

Schon im April 2020 hatte die katholische Bischofskonferenz Brasiliens ein Manifest ausgegeben. Wie wurde Ihres aufgenommen?

HANS ALFRED TREIN  Es hat ironischerweise ein sehr gutes Echo von den im 16. Jahrhundert gegenreformatorischen Jesuiten bekommen und konnte zunächst auf der Webseite der katholischen Universität UNISINOS in São Leopoldo platziert werden. Öffentlichkeitsarbeiter und Journalisten haben es in brasilianischen Zeitschriften und Zeitungen aufgenommen. Doch weder von unserer Kirchenleitung noch vom  Lutherischen Weltbund oder vom Ökumenischen Rat der Kirchen gab es eine Veröffentlichung. Wohl, weil es nicht von der Institution Kirche kam. Sehr kritische Reaktionen gab es auf die universitäre Veröffentlichung. Das weist auf die polarisierte Spaltung innerhalb der brasilianischen Gesellschaft hin, die auch durch unsere Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses geht. Von Kirchenmitgliedern oder Verbänden wie „Erben von Worms“ bekamen wir teils auch aggressive Rückmeldungen.

Welchen Inhalts waren diese Äußerungen?

HANS ALFRED TREIN  Sie fordern die Trennung von Religion und Politik, und leider gibt es auch in unserer Kirche rechtsgerichtete Ideologien bis hin zu faschistischen. Viele Menschen halten Glaube und Ideologie begrifflich nicht auseinander und haben ein autoritäres Gesellschaftsbild nach dem Motto: Eine gute Regierung ist eine starke, autoritäre Regierung, auch mit der Beteiligung von Militärs. Sie lehnen auch aktuelle Diskussionen ab, zum Beispiel über die Gleichstellung der Frau, die Entkriminalisierung der Abtreibung oder die Genderdebatte. Die Kirche sollte dazu schweigen und sich auf biblische Aussagen gründen. Dabei wird kein Unterschied zwischen der biblischen Kultur von vor 2000 Jahren und heute gemacht – geschweige denn die gute Nachricht aktualisiert.

Es herrscht also eine fundamentalistische Auslegung der Bibel vor?

HANS ALFRED TREIN: Ja, obwohl die historisch-kritische Auslegung und die Exegese an unseren Fakultäten betrieben wird. Was wir Theologen in den vergangenen fünfzig Jahren gelernt haben, ist nicht bis zur Basis der Kirche gedrungen. Dazu kommt, dass viele in unserer Kirche zu den Neopfingstlern rüber schielen, denn sie bieten Heilung, auf das Individuum zugeschnittene Spiritualität und Wohlstandstheologie. Dazu findet sich eine rassendiskriminierende Haltung in der Gesellschaft. Armut hat bei uns eine Hautfarbe. Ein Teil der sozialen  Diskriminierung in unserem Land stammt aus der Zeit der Sklaverei. Ganz anders als in Nordamerika haben in Brasilien befreite Sklaven damals keine Existenzmöglichkeit bekommen – zum Beispiel ein Stück Land. Sie sind von der Sklaverei in die Arbeitslosigkeit „befreit“ worden. Daraus ist ein kulturelles und rassistisches Überlegenheitsgefühl entstanden und eine Denkstruktur, die allein auf Verdienst gründet. Was ja nicht stimmt und auch nicht vereinbar ist mit der lutherischen Lehre. Die Mehrheit ist tendenziell dagegen, wenn Politik soziale Integration fördert. Als meine Vorfahren 1825 aus dem Hunsrück emigriert sind, bekamen sie Land zugewiesen. Bolsonaro dagegen hat – verfassungswidrig – den Großgrundbesitzern versprochen, den indigenen Völkern und den Nachkommen der Sklaven keinen Millimeter Land zuzuteilen.

Was erwarten Sie von den Wahlen im nächsten Jahr?

HANS ALFRED TREIN: Unsere Demokratie hat mit der Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff 2016 einen gewaltigen Schlag bekommen. Die Justiz und die offiziellen Medien – in der Hand von fünf brasilianischen Familien – haben das Ihre dazu beigetragen. Auch wir in der Kirche haben uns in der Einschätzung unserer Gesellschaft getäuscht. Wir liegen im gesellschaftlichen Fortschritt, in der Stabilität der demokratischen Institutionen und in der Bildung viel weiter zurück, als wir dachten: Die Massaker an den indigenen Völkern und die Sklaverei sind längst nicht aufgearbeitet. Dazu kommt noch das Ausbleiben einer gesellschaftspolitischen Aufarbeitung der Militär-diktatur (1964 – 1988), ein ständiger politischer Schatten im Hintergrund unserer Geschichte.

 

Das Gespräch führte Kathrin Jütte am 22. April per Videokonferenz.

Das Manifest in deutscher Sprache finden Sie hier.

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Foto: Carlos Hubner

Hans Alfred Trein

Hans Alfred Trein arbeitet seit 1978 er als Pfarrer in der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien. Derzeit ist er im Pfarramt als Übersetzer Theologischer Werke in São Leopoldo tätig.

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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