Von der Lust, Weltbürger zu sein

Gelingt trotz Corona-Pandemie die dringend notwendige Transformation zur Nachhaltigkeit?
Schulstreik für den Klimaschutz im Mai 2019 in Turin.
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Schulstreik für den Klimaschutz im Mai 2019 in Turin.

Die Corona-Pandemie hat die Zahl der hungernden, fliehenden und armen Menschen steigen lassen. Auf 13 der 17 Nachhaltigkeitsziele, die die Vereinten Nationen bis 2030 erreichen wollen, haben sich das Virus und seine Bekämpfung negativ ausgewirkt. Sind sie dennoch zu schaffen? Der Ökonom und Theologe Wolfram Stierle zieht eine alarmierende und gleichzeitig mutmachende Bilanz.

Nun machen Sie einem wieder richtig Lust, ein Weltbürger zu sein, oder richtiger, machen es wieder möglich.“

So schrieb Hannah Arendt 1948 ihrem Lehrer Karl Jaspers. Der hatte ihr ein Essay mit dem Titel „Die Achsenzeit der Weltgeschichte“ geschickt. Woher ihre neue Lebenslust drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach Shoah und Flucht? Wie können Lust, Zuversicht und weltbürgerliche Vitalität möglich sein, wenn Geschichte und Gegenwart von Schmerz und Trauer, Versagen und Resignation erzählen? Wie geht Weltbürgerschaft in einer unwirtlichen Welt?

Die Weltbürger-Aufgabe unserer Jahre verbindet sich mit der Transformation zur Nachhaltigkeit. 2015 haben die Vereinten Nationen alles, was nun zu tun ist, damit die Welt ein für alle wirtlicher Ort wird, in 17 Ziele und 169 Unterziele gefasst. Nachhaltige Entwicklung hat dabei vier Dimensionen: soziale, wirtschaftliche, ökologische und, oft übersehen, kulturelle. Die Fassade des UN-Hauptsitzes in New York erstrahlte in großen Buchstaben: „Let’s get the job done“. Sechs Jahre später spricht wenig dafür, dass diese „Sustainable Development Goals“, kurz SDGs, erreicht werden. So ist es auch bei den Klimazielen des Pariser Abkommens von 2015. Das zum Erreichen der Klimaziele verbleibende CO2-Restbudget ist knapp. Den Menschen bleibt noch eine Generation, eher noch zehn Jahre, um die Erderwärmung unter zwei Grad Celsius zu halten; so die Forschung. Und dann kam Corona. Die Zahl der hungernden, fliehenden und armen Menschen steigt. Für 124 Länder droht die nächste Schuldenkrise. Statistiker haben gerechnet: Die Pandemie hat sich auf 13 der 17 SDGs negativ ausgewirkt. Was macht das mit der Lust, Weltbürger zu sein?

Kein leichter Job. Schaffen wir ihn mit Disziplin? Oder muss erstmal alles anders werden? Die einen vergleichen die Situation mit dem, was das Kriegsende 1945 für die Welt oder der Fall der Mauer 1989 für Europa bedeutet haben. Andere greifen zweihundert Jahre tiefer in die Truhe der Geschichte und fordern eine neue Aufklärung. So der Club of Rome in seinem aktuellen Bericht mit dem doppeldeutigen Titel: „Wir sind dran“. Für wieder andere ist im Anschluss an Karl Polanyi, der 1944 die „Great Transformation“ der Menschheit beschrieb, klar: Die Einbettung allen Lebens in kapitalistische Kalkulation muss überwunden werden. Für nicht wenige ist allein die Evolution der angemessene Bezugsrahmen. Die Menschheit ist vom Holozän ins „Anthropozän“ gestolpert. Die Folgen des menschlichen Einwirkens auf den Planeten sind inzwischen relevanter als die natürlichen Einflüsse der letzten 4,5 Milliarden Jahre. Wer auf der Welt leben darf, was wächst, wie die Temperatur, das Meer und die Pole sich entwickeln – das entscheidet jetzt der Mensch.

Bei solchem Kalibrieren des Transformations-Jobs gäbe es nur zwei vergleichbare Weggabelungen in der Geschichte des Homo sapiens: Am Anfang wurde er sesshaft, baute Städte und hörte auf, umherzustreifen. Mit dem nächsten Entwicklungsschritt begann er, immer raffinierter Holz, Kohle und Erdöl zu verfeuern. Nun ist höchste Zeit für Schritt drei: Er muss lernen, nachhaltig zu wirtschaften, anstatt auszugraben, abzubauen, auszurotten, anzuzünden und danach Müllberge, Mikroplastik, tote Seen, Feinstaub und saure Böden zu hinterlassen. Er muss sich von Lieblingsideen verabschieden, die auf Extraktivismus, Privateigentum, Wachstum und einen am Nutzenkalkül ausgerichteten Individualismus setzen. Inzwischen sagen selbst Minister: Deutschland ist, was Nachhaltigkeit angeht, Entwicklungsland. Die kommende Legislaturperiode hat für viele eine historische Dimension.

Bewegung weltweit

Gut also, dass es weltweit Bewegung gibt. Sogar das Akronym „17 SDGs“ hat sich rumgesprochen. Bundesländer haben Nachhaltigkeitsstrategien formuliert, über 160 Städte und Gemeinden wollen nachhaltig werden. Religionen machen sich auf den Pilgerweg, und die EKD hat eine Nachhaltigkeitsseite ins Netz gestellt. Firmen und Ministerien geloben, klimaneutral zu werden. Weltweit stellen nicht alle, aber doch nicht wenige Nationen Nachhaltigkeits-Strategien auf, formulieren Defizite und Ziele, regeln Zuständigkeiten, erlassen Gesetze und legen Rechenschaft ab. Ökonomen haben neben Eigennutz und Wettbewerb die kooperativen Anteile des homo oeconomicus entdeckt. US-Universitäten ziehen Gelder aus der Karbon-Industrie ab. „Divestment may burst the carbon bubble“, warnen Investoren.

Die Ökonomin Elinor Ostrom bekam den Nobelpreis, weil sie untersuchte, wie Menschen Gemeinschaftsgüter kooperativ bewirtschaften können. Gelungene Beispiele machen die Runde, Visionen einer schönen Welt 2030 haben Konjunktur. Es gibt Fridays for Future, Entrepreneurs for Future, Scientists for Future und es gibt eine neue Hochschätzung des Futur II: Werden wir alles richtig gemacht haben?

Wie also steht es um die SDGs? Schauen wir auf einige. Ziel eins lautet: Armut in all ihren Formen und überall beenden. Hier hat Covid-19 die Lage verschlechtert. Die Armut wächst wieder. Für drei Viertel der Weltbevölkerung gibt es keine staatliche soziale Sicherung. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass 1,6 Milliarden Menschen im informellen Sektor ihre Existenzgrundlage verloren haben. In Indien ist die Wirtschaft im zweiten Quartal 2020 um 24 Prozent eingebrochen. Ziel zwei lautet: den Hunger beenden. Litten Anfang vergangenen Jahres 135 Millionen Menschen an Hunger, so rechnet das Welternährungsprogramm der UNO nun mit einer Viertelmilliarde akut vom Hungertod bedrohter Menschen. Die andere Seite der Medaille zeigt Überdüngung, Lebensmittelverschwendung und Überernährung. Ziel vier fordert Bildung für alle. Trotz aller Anstrengungen haben etwa 17 Prozent der Kinder weltweit keinen Zugang zu einer Grund- oder Sekundarschule. Und Schule „haben“ reicht auch nicht: Von denen, die in Subsahara-Afrika zur Schule gehen, können 87 Prozent kaum lesen, in Europa und den USA sind es 7 Prozent. UN-Generalsekretär António Guterres spricht von einer Generationenkatastrophe. Die UNESCO geht davon aus, dass nach dem Lockdown 24 Millionen Schülerinnen und Schüler nicht mehr in den Unterricht zurückkehren.

Ziel zehn heißt: Ungleichheit verringern. Allein, die Kluft wächst: sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder. Gut 2000 Milliardäre besitzen derzeit so viel wie 60 Prozent der Weltbevölkerung. Ziel 11 fordert: nachhaltige Städte und Gemeinden. Weit über vier Milliarden Menschen leben in Städten. Tendenz zunehmend. Heute werden 70 Prozent des BIP und der Treibhausgase und des Abfalls in Städten generiert. Einstweilen leben 50 Prozent der Menschen in armen Ländern in Slums, in einigen Ländern Afrikas sind es 90 Prozent. Ein besonderes Ziel ist das letzte, Nummer 17: Umsetzungsmittel und Globale Partnerschaft stärken. Hier urteilt die UNO: „Das Interesse der UN-Mitgliedstaaten an funktionierenden Partnerschaften für die Realisierung der SDG ist da – aber die Bereitschaft, hier hinein auch Arbeit und Ressourcen zu investieren, hinkt dem hinterher“. Anders gesagt: Globale Partnerschaft stößt auf Interesse ohne Bereitschaft.

Was sollen wir nun dazu sagen? Die Bundesregierung urteilt in ihrer aktuellen Nachhaltigkeitsstrategie: „Das bisherige Handeln reicht bei weitem nicht aus, um einen nachhaltigen Entwicklungspfad einzuschlagen.“ Oder laufen wir in die falsche Richtung? Noch haben wir jedenfalls den Job nicht gemacht. Und dieses „Wir“, das sind viele: Zivilgesellschaft, Staaten, Institutionen, Unternehmen, Kirchen, Wissenschaft, Städte, Regionen, Künstlerinnen, Architekten, Schülerinnen … Zugegeben, ein Job mit 17 Zielen, 169 Unterzielen und noch mehr sich daraus ergebenden Aufgaben, das kann einem ein buchhalterisches Kribbeln in den Nacken treiben. Kein Wunder, dass immer wieder Betriebe und Kommunen sagen, sie konzentrieren sich auf ausgewählte Ziele. Da ohnehin alles mit allem zusammenhängt, wie Papst Franziskus es formulierte, mag auch darauf Segen ruhen. Andererseits klingt es einladender, diejenigen „Arenen“ auszumachen, wie Uwe Schneidewind und andere es formulieren, in denen wir uns dem Job der Nachhaltigkeit widmen können. Da geht es dann um Konsum und Mobilität, um Stadtentwicklung oder Ernährung, um Ressourcen, Energie oder die Kunst der Kreislaufwirtschaft. Da finden sich Orte für jeden und jede, mitzumachen und neugierig zu werden, was andere tun. In die Arena steigt ein, wer den Garten verwildern lässt, mehr Fahrrad und Bahn fährt, neue Rezepte probiert, woanders investiert, anders einkauft und reist, wer austestet, global solidarischer zu leben oder aufmerksam macht auf das, was lange übersehen wurde und doch wichtig, kostbar und unbezahlbar ist. In der Arena kann man agieren und ackern, feiern und trauern, gewinnen und verlieren. Das sportliche Bild sollte dabei nicht verniedlichen, was auf dem Spiel steht: Gelingt es der Menschheit noch, das Leben innerhalb der planetarischen Grenzen zu organisieren?

Diesem Ineinander von wichtig und winzig, mutlos und mächtig entkommt kein Weltbürger-Denken. Was könnte Hannah Arendt an dem zugesandten Manuskript ermutigt haben? Karl Jaspers hatte darin für alle Kulturen der Menschheit zwischen 800 und 200 vor Christus verwandte geistige Prozesse ausgemacht, die uns bis heute prägen. „In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen“, fand er: Stoa, Judentum, Buddhismus, Zarathustra, Laotse, Konfuzius, Skepsis, Materialismus, Sophistik, Nihilismus, Dualismus, Parmenides, Heraklit, Plato – sie kannten sich nicht, aber sie hätten sich gut verstanden, so formulierte es Jan Assmann. Inwiefern?

Jaspers sprach von der „Achsenzeit“ als einem sich in den Kulturen vollziehenden Übergang vom Mythos zum Logos. Im mythischen Zeitalter war das Absolute Teil der Welt. Geister, Ahnen, griechische und ägyptische Götter waren – verehrt, verlacht, gefürchtet oder königlich – doch gleichsam Nachbarn. Mit dem Aufkommen der Erlösungsreligionen und der Philosophie, so Jaspers, entstand die Überzeugung, dass zwischen göttlicher und weltlicher Macht eine Kluft bestehe. Der Logos ist das Eigentliche, Wahre, ganz Andere. Das Irdische kommt dem Absoluten nie gleich. So die Welt zu denken, hatte Folgen für die Politik. Herrschende Mächte und Ideen können zur Ordnung gerufen und kritisiert werden. Die Propheten Israels haben das vorgeführt. „Es begann ein neuer Versuch dessen, was dem Menschen möglich ist“, so Jaspers.

Es entstanden die Kategorien, in denen wir denken, wenn es um Veränderungen geht: Staat, Recht, Demokratie, aber auch Ethos und die Maßstäbe der Würde von Mensch und Natur. Religionen und Weltanschauungen wissen um die Not der Menschen, mit hohen Ansprüchen ins Reine zu kommen. Manche schlagen vor, sie stoisch oder mit dem kategorischen Imperativ zu lösen, andere mit Nächsten- und Feindesliebe, Dritte mit Sinn für das Unendliche oder nihilistisch. Die Unterscheidung der Achsenzeit stärkt so oder so den Widerstand gegen imperiale Ansprüche auf Erden. So zu denken, begründet die Möglichkeit, umzukehren und anders zu handeln. Will man die Menschen daran hindern, dass sie in Freiheit handeln, so muss man sie daran hindern, zu denken, sollte Hannah Arendt später formulieren. Privilegien müssen sich rechtfertigen.

Klima vor acht

Warum Sklavenarbeit in Textilfabriken? Warum nicht Klima statt Börse vor acht in der ARD? Transzendenz, die Lasten relativiert, neues Denken ermöglicht und Handlungen Sinn gibt, kann sich am Ende sogar mit Lebenslust verbinden. Die Relevanz von Transzendenzerfahrungen für jeden Neuanfang wird neuerdings in der Politik ausgelotet. Das Auswärtige Amt hat ein Referat „Religion und Außenpolitik“ eingerichtet, das BMZ hat eine Strategie „Religion und Entwicklung“ lanciert und im Entwicklungsministerium wirkt der Beauftragte der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit. Transzendenzwissen orientiert das tätige Leben im Welthorizont. Jaspers spricht von der „ewigen Gegenwart“. Zugegeben, das ist großes Kino. 

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Foto: Andreas Schoelzel

Wolfram Stierle

Wolfram Stierle ist Theologe und Ökonom und leitet den Grundsatzstab im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Berlin.


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