„Vergesst mir die Seele nicht!“

Der katholische Priester Sebastian Kneipp glaubte an die Kraft des Wassers – aber nicht nur an sie
Der junge Kneipp mit Lateinbüchern, Bad Grönenbach.
Foto: Martin Glauert
Der junge Kneipp mit Lateinbüchern, Bad Grönenbach.

Sebastian Kneipp wurde als „Wasserdoktor“ und Verfechter der Naturheilkunde weltberühmt. Der katholische Priester, der vor zweihundert Jahren geboren wurde, verstand sich jedoch in erster Linie als Seelsorger. „Ich kann gewissenhaft sagen, ich habe die Medizin geflohen so viel als möglich, aber entkommen konnte ich ihr nicht, da mich gerade die Seelsorge so viel zu den Kranken führte.“ Ein Porträt vom Arzt und Journalisten Martin Glauert.

Mitten auf dem Marktplatz von Bad Grönenbach sitzt ein junger Bursche am Brunnen und lässt es sich offenbar gut gehen. Die Hosenbeine hat er hochgekrempelt und einen Fuß ins Wasser gestellt. Die linke Hand lässt er genussvoll vom kalten Bachlauf umspülen, ohne dabei seine Bücher zu vergessen, die er fest unter den rechten Arm geklemmt hat. Das Wasser hat es ihm offensichtlich angetan, und mit ihm wird er die Welt verändern. Die eiserne Figur nämlich ist niemand anderes als Sebastian Kneipp, der hier als Jugendlicher Latein lernte, um Priester zu werden. Dass er einmal weltberühmt sein würde, ahnte damals niemand.

Armut und Arbeit

„Weberbaschtl“ nennen die Leute daheim den jungen Kneipp. Sein Vater ist ein armer Weber, so arm, dass er dem Sohn nicht mal einen Anzug kaufen kann für die heilige Kommunion. Also schneidert die Mutter ihm einen aus ihrem Sonntagskleid, dem guten schwarzen. In seinen Erinnerungen schreibt Sebastian Kneipp: „Mit 11 Jahren musste ich in den Keller, um die Weberei einzuüben und mit 12 Jahren musste ich täglich fünf Ellen Leinwand weben, wozu ich von morgens früh bis abends brauchte.“ Über all der mühseligen Arbeit vergisst er jedoch nie seinen Traum. „Du musst Priester werden, so rief eine Stimme fortwährend in meinem Inneren“, schreibt Kneipp später. Der Vater ist strikt dagegen. „Wollte dich unser Herrgott zum Studenten, so hätte er uns auch Geld gegeben“, ist die lakonische Antwort auf seine Bitten.

Schroff, aber gütig. Sebastian Kneipp, Kaplan und Heiler.
Foto: Martin Glauert

Schroff, aber gütig. Sebastian Kneipp, Kaplan und Heiler.
 

Doch Baschtl findet sich mit seinem Schicksal nicht ab. Als er endlich 21 Jahre alt ist, wandert er los und landet in Bad Grönenbach. Dort verdingt er sich als Knecht. Jede freie Minute aber verbringt er bei dem Kaplan Matthias Merkle, der ihn in Latein unterrichtet und so auf das Gymnasium vorbereitet. Konfessionelle Scheuklappen hat der junge Priester in spe offenbar nicht, denn er freundet sich mit dem evangelisch-reformierten Pfarrer im Ort an. Christoph Ludwig Koeberlin ist ein kundiger Botaniker und weckt in dem aufgeweckten Burschen die Begeisterung für die Pflanzenheilkunde, die ihn ein Leben lang prägen wird. 1844 ist es so weit, Sebastian Kneipp wird im Gymnasium aufgenommen, nur vier Jahre später kann er endlich das ersehnte Studium der Theologie beginnen.

Nächtliche Gestalt in der Donau

Eine helle Zukunft scheint vor ihm zu liegen, da bricht die nächste Katastrophe herein und droht, alles Erreichte zu vernichten: Kneipp erkrankt lebensgefährlich an Lungentuberkulose. Er hustet Blut, die Ärzte haben ihn schon aufgegeben, da fällt ihm ein Büchlein über die Heilkraft des Wassers in die Hände. Er hat nichts mehr zu verlieren, mit dem Mut der Verzweiflung nimmt er nun die Behandlung selbst in die Hand.

Heimlich läuft er nachts zur nahen Donau, wirft seinen Mantel ab und taucht für Sekunden nackt im Wasser unter, das in diesem Winter 1849 eiskalt ist. Dann eilt er rasch in sein Zimmer zurück und kuschelt sich ins warme Bett. Und siehe da: Das Fieber sinkt, von Tag zu Tag kehren die Kräfte zurück, der todgeweihte Junge wird schließlich ganz gesund. Dieses Schlüsselerlebnis weckt in Sebastian Kneipp eine missionarische Begeisterung für die Heilkraft des Wassers, die er sein Leben lang behalten wird.

Am 2. Mai 1855 wird Sebastian Kneipp als Beichtvater in das Kloster der Dominikanerinnen in Wörishofen entsendet. Sein Auftrag hat es in sich: Neben der Seelsorge für die Nonnen und die Gemeinde soll er das bankrotte Kloster wirtschaftlich wieder auf Vordermann bringen. Eine ganz schöne Zumutung, aber einen Besseren hätte man für diese Aufgabe kaum finden können, denn Sebastian Kneipp ist kein abgehobener Theologe, kein Schreibtischtäter, der sich hinter Büchern versteckt, sondern ein Mann des Volkes.Jetzt kommt ihm seine harte Kindheit als Bauernbub zustatten. Der Sohn bitterarmer Weber aus dem Allgäu ist sich nicht zu schade, auf Viehmärkte zu fahren und höchstpersönlich Kühe für das Kloster auszusuchen. Er kauft Saatgut, führt neue Kleesorten ein und verbessert dadurch die Erträge. Für die nassen Wiesen entwirft er ein Entwässerungssystem, unterweist die Nonnen im Veredeln der Obstbäume und wird als Autodidakt schließlich sogar ein international anerkannter Imker. Sein Erfolg bei der Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche im Rinderbestand des Klosters erregt bei den Bauern im weiten Umkreis erhebliches Aufsehen. Was der Pfaffe alles kann!

Doch das Wasser lässt ihn nicht los. Den blassen Nonnen verordnet er Wassertreten, kranke Gemeindeglieder behandelt er mit Güssen und Wickeln. Sein Ruf als „Wunderdoktor“ verbreitet sich in Windeseile. Wie macht er das nur?

Selbstversuch in der KurOase

Um das am eigenen Leib herauszufinden, unternehme ich an Kneipps originaler Wirkungsstätte einen Selbstversuch. In der Bäderabteilung des Klosters scheint seit 150 Jahren die Zeit stillzustehen. In meiner kleinen Kabine steht nur eine Badewanne, eine Nonne trägt einen einfachen Holzschemel herein. Schwester Johanna ist 84 Jahre alt, ihre Stimme ist leise, der Händedruck weich und freundlich. Nach kurzer Befragung entscheidet sie sich gegen den Oberkörperguss, den „König der Güsse“, wie Kneipp ihn nannte. Stattdessen bin ich ein Kandidat für den Armguss.Im Stehen muss ich mich nun vornüber in die Badewanne beugen und auf dem Schemel abstützen. Dann werden die Arme nacheinander ganz langsam von unten nach oben mit warmem Wasser aus dem Schlauch abgeduscht, erst der rechte, dann der linke. Danach erfolgt die gleiche Prozedur, diesmal jedoch mit kaltem Wasser. „Schön durchschnaufen“, höre ich Schwester Johanna sagen, und tatsächlich bleibt mir kurz die Luft weg, weil das kalte Wasser für einen kleinen Schock sorgt.

Schwester Johanna ist auch mit 84 Jahren immer noch die gute Seele der Badeabteilung.
Foto: Martin Glauert

Schwester Johanna ist auch mit 84 Jahren immer noch die gute Seele der Badeabteilung.

 

Vom Bücken bei der Anwendung ist der Kopf heiß geworden, deshalb gibt es noch eine kalte Gesichtsspülung, „Güsse aufs Maul“ nannte das der alte Kneipp. Danach aber tritt eine wohltuende Wärme im ganzen Körper ein. Gemäß Kneipp’scher Philosophie soll jede Anwendung auch Zuwendung sein. Das spürt man bei Schwester Johanna deutlich. Wenn sie den Guss verabreicht, scheint das Wasser besonders sanft zu fließen.

Seiner Zeit voraus

In seinen wenigen Mußestunden bringt Sebastian Kneipp seine Theorien zu Papier. „Meine Wasserkur“, 1886 erschienen, wird zum weltweiten Bestseller und in 17 Sprachen übersetzt. Aus dem „Weberbaschtl“ ist ein Weltstar geworden. Heilsuchende aus ganz Europa treffen in Wörishofen ein. Adlige, Geschäftsleute und Berühmtheiten sind unter Kneipps Patienten. Ärzte kommen von weit her, um bei ihm zu hospitieren und die Heilmethode in Europa zu verbreiten.Bei einer Kneippkur denkt man meist automatisch an Wassertreten und Güsse, dabei bilden sie nur zwei von fünf Säulen des Kneippschen Therapiekonzepts. Ebenso wichtig sind ihm der Einsatz von Heilpflanzen, eine gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung. Seiner Zeit weit voraus ist die Erkenntnis um die psychosomatischen Zusammenhänge, auch wenn man das damals nicht so nennt. „Erst als ich Ordnung in die Seelen der Menschen brachte, besserten sich auch die körperlichen Gebrechen“, schreibt er in seinen Erinnerungen. Heute würden wir es Psychohygiene nennen, mentalen Ausgleich, Spiritualität und Suche nach der inneren Mitte.

Im Garten des Klosters Wörishofen.
Foto: Martin Glauert

Im Garten des Klosters Wörishofen.
 

Der Markt dafür boomt in unseren Tagen, immer neue Trends entstehen. Kneipps spirituelles Angebot aber sind das Gebet und das Gespräch. Geduldig hört er sich den Kummer der Menschen an, spendet in langen Gesprächen Trost und Zuversicht. Trotz aller medizinischen Erfolge versteht er sich in erster Linie als Priester und Seelsorger. Die Behandlungen und Anwendungen sind für ihn unmittelbar umgesetzte Nächstenliebe. Seine Therapien versteht er als umfassende Sorge für Leib und Seele.

„Drei Güsse aufs Maul“

Diesem Spannungsfeld zwischen den beiden Rollen als Arzt und Pfarrer entkommt er nicht. „Als Priester bin ich für die Seelsorge bestimmt; und ich wäre herzlich froh, wenn keine andere Last meine Schultern drücken würde“, schreibt er im Vorwort zu Meine Wasserkur. „Ich kann gewissenhaft sagen, ich habe die Medizin geflohen so viel als möglich, aber entkommen konnte ich ihr nicht, da mich gerade die Seelsorge so viel zu den Kranken führte.“

Und so hält er eben täglich seine Sprechstunde ab, die manchmal schon fast einem Bauerntheater ähnelt: An einem langen Tisch sitzt der füllige Kaplan, rechts von ihm ein Arzt und links der Sekretär; das Käppchen auf dem schlohweißen Kopf macht ihn noch größer als er eh schon ist; die obersten Knöpfe der abgewetzten Soutane sind leger geöffnet, die Zigarre behält er im Mundwinkel, während er einen Patienten nach dem anderen zu sich winkt. Seine Diagnosen und Ratschläge sind knapp, direkt und unverblümt. „Arbeiten’s, dann sind’s g’sund!“, knallt er einem reichen Adligen an den Kopf, und das gefällt nicht jedem prominenten Gast. Einer Patientin, die zu ausführlich ihre sämtlichen Leiden aufzählt, verordnet er schlicht „drei Güsse aufs Maul“. Nicht einmal Glaubensbrüdern wird Pardon gewährt: Einem alternden Pfarrer, der über Schwindelgefühle und schwache Nerven klagt, erklärt er ungerührt: „Hochwürde, du säufscht z’viel; das ischt der ganze Schwindel!“

Theologische Abgehobenheit und klerikaler Dünkel sind Sebastian Kneipp zuwider. Die Verbindung zu seiner einfachen Herkunft hat er nie verloren. „Wer nicht arm geboren und nicht arm erzogen ist, wird nie recht erfassen das Schicksal, das den Armen trifft“, ist seine Überzeugung. Deshalb besteht er auch vehement darauf, dass mittellose Kranke und Waisenkinder kostenlos behandelt werden. Sämtliche Einnahmen, die er im Lauf der Jahre durch seine Behandlungen und den Verkauf seiner Bestseller verdient, stiftet er dem Kloster und der Gemeinde.

Kalte Güsse für den Papst

In den folgenden Jahren bereist Kneipp fast ganz Europa. Er hält Vorträge und behandelt Staatsoberhäupter, Adlige und einfache Menschen. Ende 1893 wird er sogar von Papst Leo XIII. zum „Päpstlichen Geheimkämmerer“ ernannt, nachdem er ihn mit seiner Methode behandelt hat. Und das wird keine Sonderbehandlung, sondern die altbewährte Prozedur: der Wasserguss. Noch heute kann man in einer Vitrine des Museums in Bad Wörishofen die Gießkanne aus Zinn bewundern, aus der das römische Kirchenoberhaupt seine kalten Güsse erhielt. Die Anwendungen müssen wohl genutzt haben, immerhin wurde Leo XIII. dann auch 93 Jahre alt.

Sebastian Kneipp steht auf der Höhe seines Erfolges, als sich im Sommer 1894 erste Anzeichen von Schwäche zeigen. Mit eiserner Selbstdisziplin arbeitet er weiter, geht sogar noch auf Vortragsreisen. Anfang 1897 jedoch ist er so geschwächt, dass er die Wassergüsse an den Patienten nicht mehr selbst vornehmen kann.

Ein schnell wachsender Tumor im Unterleib wird diagnostiziert, ein fortgeschrittener Blasenkrebs, der auf die Gefäße drückt. Die rettende Operation lehnt Kneipp ab, lässt sich lediglich mit Wasseranwendungen und Lehmwickeln behandeln. Von dem Vorschlag, es mit einer Wallfahrt nach Lourdes zu versuchen, will er nichts wissen. Seine Begründung ist bemerkenswert und zeugt von einem tiefen Gottvertrauen: „Ich bin gläubig. Wunder sind nur notwendig für Leute, die nicht gläubig sind.“ Die handschriftlichen ärztlichen Bulletins, die täglich über den gesundheitlichen Zustand Kneipps abgefasst wurden, sind ergreifend zu lesen. In der letzten Eintragung vom 16. Juni 1897 heißt es lapidar: „Vormittag: Leib ist stark aufgetrieben. Puls 108. Respiration 24. Temperatur 36,5°“. Am folgenden Tag stirbt Sebastian Kneipp im Alter von 76 Jahren.

Wohltäter der Menschheit

Nur wenige Gehminuten vom Kloster entfernt findet man auf dem nahen Friedhof ein eindrucksvolles Mausoleum. „Grabstätte von Pfarrer Sebastian Kneipp, Wohltäter der Menschheit 17. Mai 1821 bis 17. Juni 1897“, ist auf einer Plakette an der Wand zu lesen. Im Inneren steht ein schwarzer Sarkophag aus Granit, darauf liegt eine Deckplatte aus weißem Marmor. An der Wand über dem Sarkophag hängt der Leitspruch, das Lebensmotto von Sebastian Kneipp: „Als Priester liegt mir vor allem das Wohl der unsterblichen Seelen am Herzen. Dafür lebe ich und dafür will ich sterben.“

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