„Verbindungsmodell bleibt Baustelle“

Irmgard Schwaetzer über ihre Jahre als Präses der EKD-Synode und künftige Herausforderungen
Irmgard Schwaetzer
Foto: EKD / Julia Baumgart

Seit siebeneinhalb Jahren ist sie Präses der EKD-Synode, in knapp zwei Wochen eröffnet Irmgard Schwaetzer noch die 13. EKD-Synode, dann wird eine Nachfolge gewählt. Im zeitzeichen-Interview blickt die 79-jährige ehemalige FDP-Spitzenpolitikerin zurück und nach vorn.

Frau Präses Schwaetzer, in den vergangenen zwanzig Jahren waren Sie sehr aktiv in kirchlichen Ehrenämtern und die zwanzig Jahre davor sehr intensiv in der Politik tätig – das ist bekannt. Aber welche christlich-kirchliche Sozialisation haben Sie eigentlich als Kind erfahren?

Irmgard Schwaetzer: Meine Mutter hat mit uns fünf Kindern von klein auf gebetet: jeden Abend am Bett, natürlich vor den Mahlzeiten, und sonntags sind wir in den Kindergottesdienst gegangen. Aufgewachsen bin ich in Warburg, der südlichsten Kleinstadt Westfalens. Dort ging ich auf das neusprachliche Mädchengymnasium „Unser Lieben Frau“, das von katholischen Nonnen geführt wurde. Wir waren drei evangelische Schülerinnen in einer Klasse mit insgesamt 30 Mädchen, und wir hatten damals evangelischen Religionsunterricht bei einer Pfarrerin und sehr guten Theologin, die sich aber nur „Vikarin“ nennen durfte, denn Frauenordination gab es noch nicht. Aus diesem Unterricht habe ich viel mitgenommen.

Wie ist es mit Ihrem kirchlich-religiösen Interesse nach der Schulzeit weitergegangen?

Irmgard Schwaetzer: Diese Erfahrungen haben mich immer geprägt, allerdings zuweilen doch eher im Hintergrund. Das geht ja vielen so nach dem Eintritt ins Berufsleben: Es schieben sich andere Themen in den Vordergrund.

Seit 1980 waren Sie Bundestagsabgeordnete der FDP und haben dann viele Ämter bekleidet. Die FDP gilt ja landläufig nicht als so kirchennahe Partei …

Irmgard Schwaetzer: Der Glaube des Einzelnen spielt in der FDP keine Rolle. Aber ich habe während meiner politischen Karriere in der FDP meist mit Menschen zusammengearbeitet, wie Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff, denen ihr evangelischer Glaube persönlich sehr wichtig war. Seit Kinder- und Jugendtagen hat bei mir persönlich immer die Frage eine Rolle gespielt, was die Richtschnur in meinem Leben ist, und auch und gerade in meinem politischen Leben habe ich mich gefragt, was die Bergpredigt für mich persönlich und mein Handeln bedeutet.

Helmut Schmidt wird der Satz zugeschrieben, dass man mit der Bergpredigt keine Politik machen könne …

Irmgard Schwaetzer: Dem habe ich immer widersprochen, denn natürlich kann man mit der Bibel im Hintergrund Politik machen, auch und gerade mit der Bergpredigt. Warum sollte das „Selig sind, die Frieden stiften“, wie es in der neuen Luther-Übersetzung heißt und wie ich es immer verstanden habe, nicht eine gute Leitlinie für politische Entscheidungen sein? Damals habe ich viele politische Positionierungen der Kirche für problematisch gehalten, besonders die ablehnende Haltung zum NATO-Nachrüstungsbeschluss, denn ich sah darin eine Chance zur Abrüstung, und davon bin ich noch heute überzeugt.

Wie kam es, dass Sie sich dann nach Ihrem Abschied aus dem Bundestag im Jahre 2002 so intensiv ehrenamtlich in der Kirche engagiert haben?

Irmgard Schwaetzer: Schon zu meinen Zeiten als Politikerin bin ich häufiger im Berliner Dom im Gottesdienst gewesen und habe dann während des Ökumenischen Kirchentages 2003 in vielen Gottesdiensten mitgeholfen. Eines Sonntagmorgens ging ich wieder von meiner damaligen Wohnung in der Nähe der Fischerinsel in den Berliner Dom und dachte: „Das wäre doch eigentlich etwas, sich hier zu engagieren!“ Ich hatte – auch über interessante Gesprächskreise – diese Gemeinde gut kennengelernt, und ich wusste, dass Ehrenamtliche immer gebraucht wurden. So habe ich für das Domkirchenkollegium kandidiert und wurde sofort zur Vorsitzenden gewählt. Das blieb ich für neun Jahre, bis 2013 …

… als Sie zur Präses der EKD-Synode gewählt worden waren. Das kam damals, im November 2013 wirklich überraschend, oder?

Irmgard Schwaetzer: Das kann man so sagen. Als ich in den Zug nach Düsseldorf stieg, ahnte ich nichts. Dort angekommen sprach mich jemand an und fragte, wie ich mich denn jetzt entschieden hätte. Ich frage: „Was, wofür? – Naja, Sie werden doch als Präses gehandelt.“ Ich hatte nichts davon gehört.

Nachdem zwischen zwei anderen Kandidaten keine notwendige Mehrheit zu erzielen war, wurden Sie mit großer Mehrheit gewählt. Das geschah recht spät am Abend und am nächsten Morgen hatten Sie dann als Erstes die Sitzung des Präsidiums zu leiten. Haben Sie die Nacht geschlafen?

Irmgard Schwaetzer: Eher wenig, denn ich musste mir die ganzen Unterlagen durchlesen, die ich vorher nur oberflächlich angesehen hatte. Aber es lief recht gut. Zunächst ging ich davon aus, dass ich das Amt nur für den Rest der 11. Synode, also bis Frühjahr 2015, ausüben würde, aber dann kündigte der damalige Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider an, dass er vorzeitig sein Amt abgeben würde, im Herbst 2014 wurde mit Heinrich Bedford-Strohm ein neuer Ratsvorsitzender gewählt, und so wurde ich bestärkt darin, 2015 erneut anzutreten – auch um ein stückweit Kontinuität zu gewährleisten.

Was waren die wichtigsten Themen, mit denen die EKD-Synode unter Ihrer Leitung in den Jahren zu tun hatte?

Irmgard Schwaetzer: Fraglos hat das Reformationsjubiläum die vergangenen Synodenjahre geprägt – mit den Vorbereitungen, aber auch mit der Auswertung ab 2017. Während des Reformationsjubiläums haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir als Kirche dann gehört wurden, wenn wir rausgegangen sind aus unseren Bezügen und wenn wir von Gott in einer Sprache gesprochen haben, die ganz normal war. Diese Erkenntnis könnte noch mehr Eingang finden in unsere Haltung und in die Art und Weise des kirchlichen Lebens, da ist noch Luft nach oben.

Sie haben sich sehr dafür eingesetzt, dass die EKD-Synode 2015 und 2016 die beiden Erklärungen zur Distanzierung von Martin Luthers Antijudaismus und zur Absage an die Judenmission erarbeitet und verabschiedet haben. Warum war Ihnen das so wichtig?

Irmgard Schwaetzer: Schon aufgrund meiner eigenen Biografie – ich gehöre zu der Generation, die in den 1960er-Jahren mit den Eltern diskutiert hat, was sie während der Nazizeit gemacht haben – habe ich früh verinnerlicht, wie wichtig die Themen Aufarbeitung der Ver­gangenheit und Erinnerungskultur sind. Im Zuge der Vorbereitung des Reformationsjubiläums fiel mir auf, dass es wichtig wäre, wenn zusätzlich zur Reformationsbotschafterin und Leitenden Geistlichen wir als Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland offiziell und öffentlich Martin Luthers Antijudaismus in aller Deutlichkeit verurteilen und für den damaligen Irrweg einstehen. So hat die Synode die Kundgebung "Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum" verabschiedet. Das war notwendig, ja überfällig und traf auf breite Zustimmung in der Synode.

Ein Jahr später wurde dann die Kundgebung „…der Treue hält ewiglich. Eine Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes“ verabschiedet. Da gab es mehr Klärungs­bedarf, oder?

Irmgard Schwaetzer: In der Tat, das Thema war diffiziler und vielschichtiger. Einige Monate vor der Synodentagung haben wir einen Thementag veranstaltet, zu dem fast die Hälfte der Synodalen angereist war. Und wir hatten auf der Synode intensive und kontroverse Beratungen, aber letztlich wurde die Kundgebung dann einstimmig verabschiedet. Das hat mich sehr gefreut, denn es ist kein einfaches Thema. Mir ist wichtig, dass ich mit meinem Leben als Christin Zeugnis ablege, natürlich auch in der Begegnung mit Juden. Aber es ist ganz klar nicht unsere Aufgabe, Juden zu einem Glaubenswechsel zu bewegen.

Zu Beginn Ihrer Amtszeit hatte man den Eindruck, dass Sie durchaus bemüht waren, dem Amt der Präses auch außerhalb der Synodentagung durch verstärkte öffentliche Präsenz Aufmerksamkeit zu verschaffen. Wie sind da Ihre Erfahrungen nach über sieben Jahren als EKD-Präses?

Irmgard Schwaetzer: Das stimmt. Recht bald bin ich aber zu dem Entschluss gekommen, dass unsere Grundordnung das Amt nicht so definiert. Dort steht, dass die Synode der Erhaltung und dem inneren Wachstum der EKD verpflichtet ist. Es gibt mit dem Rat der EKD und der Kirchenkonferenz auch noch zwei weitere Leitungsorgane. Natürlich habe ich bewusst öffentliche Termine für die EKD wahrgenommen, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum, und natürlich war es klar, dass die Präses der Synode im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Ratsvorsitzenden zum Besuch nach Auschwitz gefahren ist. Insofern hat die Präses der EKD-Synode schon eine Stellung, die auch nach außen wahrgenommen wird, aber in einer anderen Weise als der oder die Ratsvorsitzende und das ist auch gut so.

In ihrer Amtszeit wurde das Verbindungsmodell der EKD, also das Zusammenwirken der konfessionellen Bünde, der Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), noch einmal weiterentwickelt. Ist dies gelungen oder müssen weitere Schritte erfolgen?

Irmgard Schwaetzer: Die weitergehenden Veränderungen im Rahmen des Verbindungsmo­dell betrafen in erster Linie die Arbeit im Kirchenamt der EKD. Ich selbst bin da nicht angesiedelt, aber allein die Komplexität der Struktur lässt mich vermuten oder vielmehr befürchten, dass durch komplexe Strukturen viel Zeit verlorengeht – insofern kann die jüngste Reform kein letztgültiger Schritt gewesen sein. Die UEK hat zuletzt wieder verstärkt Überlegungen angestellt, ob ihre Zukunft nicht doch ganz innerhalb der EKD liegt und ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt. Von gleichen Überlegungen in der VELKD weiß ich nichts, insofern bleibt es vorerst eine Baustelle.

Sie werden die konstituierende Synode eröffnen und dann wird ein neues Präsidium gewählt. Was geben Sie zum Abschied dem nachfolgenden Präsidium mit auf den Weg und was könnte Ihrer Meinung nach die neue Synode besonders beschäftigen?

Irmgard Schwaetzer: Wir geben als „alte“ 12. Synode der „neuen“ 13. Synode einen Vor­schlag für einen völlig neuen, verkürzten Ablauf der Tagung mit. Und es gibt natürlich auch Themen, die von der 12. Synode angestoßen wurden, die auch in der neuen Synode eine große Rolle spielen werden. Dazu gehören sicherlich die Themen Frieden, die Prävention, Intervention, Aufarbeitung und Hilfe bei Fällen sexualisierter Gewalt sowie die Umsetzung der „Zwölf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“ und der Finanzstrategie bis 2030.

In Folge der Freiburger Studie, die vor zwei Jahren eine Halbierung der Kirchenmitgliederzahlen bis 2060 prognostizierte, sind auf der vergangenen Synodentagung die „12 Leitsätze“ der EKD verabschiedet worden. Was für Vorstellung von der künftigen Gestalt von Kirche ist darin für Sie enthalten?

Irmgard Schwaetzer: Es ist die Vorstellung von einer Kirche, die eine grundlegend andere Haltung zu ihrer Rolle in der Gesellschaft einnimmt als es häufig heute noch der Fall ist. Ich stelle mir eine Kirche vor, die eben nicht nur sagt: „Ihr seid alle eingeladen“, sondern die fragt: „Bitte sagt mal, was euch wirklich existentiell auf dem Herzen liegt, und dann sehen wir, was das mit Gott zu tun hat." Es wird eine Kirche sein, in der es natürlich am Sonntag um 10 Uhr Gottesdienste gibt, sicher nicht mehr so viele wie jetzt, aber dafür ganz viele neue digitale und analoge Angebote. Und dies alles mit sehr viel Selbstverantwortung und Offenheit für diejenigen, die keine Kirchenmitglieder sind. Also kurz gesagt: flexibler, agiler, damit lebendiger. Die Parochialgemeinden werden natürlich wichtig sein im zukünftigen kirchlichen Netzwerk aus Gemeinden, Projekten und anderen Orten.

Wird die Kirche also eher zur NGO, zur Nichtregierungsorganisation, so wie es manche fordern und andere fürchten?

Irmgard Schwaetzer: Bestimmt nicht. Kirche ist und bleibt Institution, Organisation und Bewegung – so wie es in der Kirchensoziologie gegenwärtig definiert wird. Die Institution brauchen wir, weil wir Verlässlichkeit brauchen, auch eine verlässliche Verwaltung, die mit Geld umgehen kann. Aber diese institutionellen Aspekte sollten künftig nicht mehr so im Vordergrund stehen, wie sie es heute noch tun. Wir sind Organisation, weil wir natürlich weiterhin Strategien, Beteiligungsformate und Kommunikationsformen entwickeln müssen. Neu lernen müssen wir, wie wir als Bewegung Menschen ansprechen können, die nicht von sich aus zu uns kommen.

Was verbinden Sie mit Kirche als Bewegung?

Irmgard Schwaetzer: Als Kirche auch Bewegung zu sein, das heißt, schneller zu handeln und sehr viel mehr in Projekten zu arbeiten. Wir sprechen Menschen an ganz unterschiedlichen Orten an. Wir schaffen Erprobungsräume, in denen sicher auch mal etwas schiefgeht, aber dann geben wir nicht auf, sondern setzen neu an. Und wir brauchen Denk- und Reflexionsräume, in denen wir intensiv darüber nachdenken, ob das, was wir tun, mit dem Evangelium übereinstimmt.

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Foto: EKD/Julia Baumgart

Irmgard Schwaetzer

Irmgard Schwaetzer, 79, gehörte von 1980 bis 2002 als Abgeordnete der FDP
dem Deutschen Bundestag an. Sie war unter anderem von 1982 bis 1984 FDP-Generalsekretärin,
von 1987 bis1990 Staatsministerin im Auswärtigen Amt und
von 1990 bis 1993 Bundeswohnungsbauministerin. Sie leitete von 2003 bis 2014
das Berliner Domkirchenkollegium und ist seit 2013 Präses der EKD-Synode.


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