Klingend Brasch

Masha Qrella: Woanders

Wer früher „den ganzen Segen abbekam“, bezog Prügel für etwas, das er nicht gewesen war oder nicht allein, wozu er nichts konnte oder nichts dagegen. Der Schmerz brannte daher nicht nur die Striemen entlang. Schüchterte ein, kränkte, verwirrte und empörte, weckte Zweifel und Lust auf Gegenwehr. Dazu galt es sich zu verhalten und gilt es noch. Gedichte kann man aus solcher Warte deuten, muss es aber nicht. Denn da, wo sie erst gesprochen und gehört ist, wirkt gute Lyrik bereits, was sie mit echtem Segen gemein hat. Masha Qrella gibt uns mit ihrem großartigen Album „Woanders“ jetzt sozusagen den vollen: 17 Songs mit Gedichten von Thomas Brasch (1945 – 2001), der Ost-Berlin 1976 gen Westen verließ. Doch auch da blieb der Widerspenstige außen vor: „Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber/wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber/die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber/die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber/wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber/wo ich sterbe, da will ich nicht hin:/Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ Qrella collagiert diese Zeilen mit anderen, darunter „Wer sind wir eigentlich noch./Wollen wir gehen. Was wollen wir finden./Welchen Namen hat dieses Loch,/in dem wir, einer nach dem anderen, verschwinden“ aus dem Poem „Wie viele sind wir eigentlich noch“. Zu betörend passender Musik und in ihrer warmen Stimme wird daraus der Song „Haut“. Es ist ihre Weise, Braschs Gedichte zu fassen, sich anzueignen, sagt die Sängerin und Musikerin, die mit Bands wie Mina und Contriva und auch solo Ikone des Berliner Postrocks war, dem die Worte fehlten.

Braschs Gedichte entdeckte die 1975 in Ost-Berlin Geborene in den 2010er-Jahren für sich, nicht zuletzt, weil sie in dessen Unbehaustheit das Eigene erkannte und endlich die Worte dafür fand. Sogar mit dem Namenswandel (aus Kurella) hatte sie Abstand zu dem nach der Wende Erlebten formuliert und doch zuerst Weite und Offenheit im westlichen Popuniversum vermutet, was sich trotz stetigem Erfolg zerschlug: Wie soll ich das beschreiben/ich kann nicht tanzen/ich warte nur/in einem Saal aus Stille/treiben Geister/ihren Tanz gegen die Uhr/und ich warte nur/ich warte nur“ singt sie nun zu hypnotischem Techno/Wave-Beat, in den ein Pianolauf tröpfelt und eine wavige Gitarre sägt. Packend, wie das stante pede mitten im Woanders und Nie-Gewesen-Sein einen Standpunkt, Da-Sein, Behaust-Sein ergibt.

Zwar haben Braschs Gedichte ohnehin starke Songqualitäten, aber bei Qrella sind sie in bester Hand. Kongenial träfe es auch, so sehr wir das Wort sonst vermeiden. Die Musik zwischen New Wave, Electronic, Postrock und Balladen-Offenheit spielte sie mit der Schlagzeug-Legende Chris Imler und Multi-Instrumentalist Andreas Bonkowski ein. Tarwater, Andreas Spechtl (Ja, Panik), Dirk Von Lowtzow (Tocotronic) sowie Marion Brasch (die Schwester) in einem Spoken-Word-Auftritt kommen hinzu. Sie waren schon 2019 bei der Performance im HAU in Berlin dabei. Dieses Album ist grandios. Ein Ereignis. Danke.

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