Gott oder Götze

Sonntagspredigt
Foto: Privat

Starker Zwiespalt

Sonntag Judika, 21. März

Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. (Hiob 19,25)

Dieser Satz hat sich vielen Leuten durch Händels Messias eingeprägt. Das Libretto des Oratoriums bezieht diese Worte aus dem Alten Testament auf die Auferstehung Jesu. Aber Georg Friedrich Händels Musik wird auch Hiob gerecht, dem Prototyp eines Menschen, dem viel Leid widerfährt und der deswegen mit Gott hadert. Während im Messias das Halleluja, von einem Chor gesungen und mit Pauken und Trompeten, gewaltig daherkommt singt eine Sopranistin das Bekenntnis zum Erlöser zart, fast zärtlich.

Hiobs Glaube, dass sein „Erlöser lebt“, geht die Klage über erfahrenes Unrecht und die eigene unerlöste Existenz voraus: „Die Hand Gottes hat mich getroffen“ (Vers 21), klagt er und fragt seine Freunde: „Warum verfolgt ihr mich wie Gott?“ (Vers 22).

Manche Gottesbilder des Hiob-Buches sind Christen und Juden im 21. Jahrhundert wahrscheinlich fremd. Aber sie dürften beides schon erfahren haben, Zweifel und Gewissheit, Verzweiflung und Zuversicht, Gottverlassenheit und Gottvertrauen. Diese Ambiguität wird auch angesichts der Corona-Seuche empfunden.

Christen verbinden Hiobs Bekenntnis, gerade kurz vor Ostern, mit der Auferstehung Jesu. Aber man kann noch eine weitere Parallele ziehen: Nach der Überlieferung des Markus- und Matthäusevangeliums ist Jesus mit den Worten des 22. Psalms gestorben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Vers 2). Wer diesen Schrei bei der Verlesung des Evangeliums hört oder in Bachs Matthäuspassion, ist bewegt oder gar erschüttert. Aber darüber darf man nicht die Verse des 22. Psalms vergessen, die folgen: Vers 6 bekennt, dass die Israeliten auf Gott „hofften“ und „nicht zuschanden“ wurden. Und das Thema Gerechtigkeit, das am Sonntag Judika („Gott, schaffe mir Recht“) und bei Hiob anklingt, reißt Vers 27 an: „Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden.“Der Philosoph und Soziologe Max Horkheimer, der sich vom konservativen Judentum seiner Eltern gelöst hatte, sagte 1970 in einem Gespräch mit dem Spiegel, „angesichts dieser Welt und ihres Grauens“ könne er nicht „an einen allmächtigen Gott“ glauben. Aber es bleibe die „Sehnsucht danach“, dass das Unrecht, „durch das die Welt gekennzeichnet“ sei, „nicht das letzte Wort sein möge. Diese Sehnsucht gehört zum wirklich denkenden Menschen“.

 

Unbekanntes Land

Palmsonntag, 28. März

Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. (Hebräer 11,1)

Dies dauernde Zurückgerufenwerden auf den unsichtbaren Gott …, das kann doch kein Mensch aushalten“, klagt Dietrich Bonhoeffer am 18. Oktober 1931 in einem Brief. Der 25-Jährige ist Studentenpfarrer an der Technischen Hochschule Berlin. Er hat es also mit Leuten zu tun, die oft nur das als wirklich anerkennen, was man berechnen, mit Geräten untersuchen und messen und durch Experimente wiederholen kann.

Naturwissenschaftliches Denken prägt Menschen zumindest in unseren Breiten. Es befreit vom Aberglauben, von der Überzeugung, dass es Geister und Dämonen gibt, dass ein böser Blick Menschen krank machen kann und das Coronavirus ein Werk finsterer Mächte ist. Aber es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass es in der Wissenschaft um nackte Tatsachen geht und im Glauben um das, „was man nicht sieht“. Dabei ist der Glaube für Christen und Juden kein esoterisches Wissen, sondern wesentlich Vertrauen. So ist Abraham auch für den Verfasser des Hebräerbriefes ein Vorbild des Glaubens. Denn voller Vertrauen brach er in ein unbekanntes Land auf. Und so etwas geschieht auch heute, in unserer Zeit noch mehr als früher. Junge Leute brechen auf, um fern der Heimat ein Studium oder eine Berufsausbildung zu beginnen. Und später ziehen sie wieder an einen anderen Ort, um eine Stelle anzutreten. Natürlich, hoffentlich informiert sich jeder, bevor er in die Fremde aufbricht. Aber auch dann bleibt ein Rest an Ungewissheit. Schließlich kann viel passieren, Gutes und Schlechtes, mit dem man nicht rechnet, das man nicht vorhersehen kann. Daher kann man Aufbrüche letztlich nur mit einem starken Vertrauen wagen. Und für Christen gründet es in dem Gott, von dem die Bibel erzählt. Sie haben die Zuversicht, dass das Gottvertrauen selbst noch am Lebensende trägt, wenn ein Aufbruch ansteht, der in ein vollkommen unbekanntes Land führt. Das erfuhr auch Dietrich Bonhoeffer. Als er in den Verliesen der Gestapo schmachtete, dichtete er: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

 

Heilsame Einsicht

Karfreitag, 2. April

Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. (Jesaja 53,5)

Die ersten Anhänger Jesu und die Verfasser der Evangelien waren Juden. Die Bedeutung Jesu erläuterten sie anderen Juden mit Hilfe der jüdischen Bibel, die Christen seit dem zweiten Jahrhundert Altes Testament nennen. Und die Ähnlichkeiten zwischen dem leidenden Gottesknecht des Jesaja und dem Jesus der Passionsgeschichten liegen auf der Hand.

Dass Jesus „für unsere Sünden gestorben“ ist, wird oft missverstanden. Dabei kann man das so erklären, dass es auch Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts einleuchtet: In Paul Gerhardts Passionschoral O Haupt voll Blut und Wunden (EG 85) bekennen die Singenden: „Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.“ Sicher: Die meisten Menschen dürften niemals „kreuzige ihn“ geschrien haben. Aber vielleicht haben sie weggehört und weggeschaut, als es andere taten, als Juden, Farbige und andere Mitmenschen verhöhnt, mit Worten oder tätlich angegriffen wurden.

Nicht wenige Menschen, darunter reaktionäre Kirchenleute, vergötzen autoritäre Politiker. Der Glaube an sie ist so bedingungslos und blind, dass deren Lügen selbst dann noch übernommen und verbreitet werden, wenn sie offensichtlich sind. Und das führt auch zu Gewalt: gegen Andersdenkende und gegen Schwächere, die als „Verlierer“ (Englisch: loser) verhöhnt werden.

Christen glauben dagegen an einen Gott, der sich vollkommen mit einem Ohnmächtigen identifiziert und durch diesen mit den Ohnmächtigen der Welt. Besonders radikal formulierte es der lutherische Pfarrer und Dichter Johan Rist (1607 – 1667) im Choral O Traurigkeit, o Herzeleid: „O große Not! Gott selbst ist tot. Am Kreuz ist er gestorben.“ Diese Formulierung wurde in einer späteren Fassung (EG 80, 2) abgemildert in: „O große Not! Gotts Sohn liegt tot.“ Aber auf jeden Fall wird deutlich: Der Gott, an den Christen glauben, unterscheidet sich fundamental von einem Götzen. Und indem das Kreuz das wahre Wesen Gottes und des Menschen offenbart, verhilft es zu Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis, Menschlichkeit und Freiheit.

 

Auch im Diesseits

Ostersonntag, 4. April

Die Israeliten sprachen zu Mose: Warum hast du uns das angetan, dass du uns aus Ägypten geführt hast? (2.Mose 14,11)

Der Pharao und seine Truppen haben die Israeliten, die der Sklaverei in Ägypten entfliehen, fast eingeholt. Das löst Angst aus und die Sehnsucht nach dem Ort, wo alles seine Ordnung hatte, auch wenn sie repressiv war. Bei den Jüngerinnen und Jüngern Jesu ist das etwas anders. Sie rebellieren nicht wie einst die Israeliten. Nach der Kreuzigung Jesu sind sie vielmehr resigniert. Die Männer verkrümeln sich. Die Frauen bleiben zwar und wollen Jesu Leichnam salben, aber sie sorgen sich darum, wer den Stein vom Grab wegrollt.

Die Erzählungen von der Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten und von der Auferstehung Jesu unterscheiden – und ähneln sich. Sie werfen die Frage auf: Findet man sich mit dem Zustand des eigenen Lebens und der Welt ab, selbst wenn man darunter leidet, oder glaubt man daran, dass mehr geschehen kann als das, was vermeintliche Realisten für möglich halten?

Die Bedeutung der Auferstehung Jesu wird oft auf das Jenseits beschränkt. Sicher: Christen vertrauen darauf, dass sie nicht ins Nichts hinein sterben, sondern im Sterben wie im Leben bei Gott geborgen sind. Aber die Auferstehung hat auch einen anderen wichtigen, diesseitigen Aspekt. Daran hat der Berner Dichterpfarrer Kurt Marti (1921 – 2017), der vor hundert Jahren geboren wurde (siehe Seite 45), in seinem anderen Osterlied erinnert: „Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden, ist schon auferstanden und ruft uns nun alle zur Auferstehung auf Erden, zum Aufstand gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren, die mit dem Tod uns regieren.“ Hier berührt sich Ostern mit dem Passahfest, das heute zu Ende geht. In den vergangenen Tagen gedachten Juden wieder der Befreiung ihrer Mütter und Väter im Glauben von den Herren, die sie unterdrückt hatten.

 

Mündige Christen

Sonntag Quasimodogeniti, 11. April

Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. (Johannes 21,4)

Kreuzigung und Auferstehung bedeuteten für die Jüngerinnen und Jünger Jesu einen fundamentalen Einschnitt. Das zeigt auch die Erzählung, die am Ende des Johannesevangeliums steht. Zunächst erkennt nur der Lieblingsjünger Jesus. Er erzählt es Petrus. Und dann fällt der Groschen auch bei den anderen Jüngern.

Das zeigt: Um Jesus Christus zu erkennen und zu verstehen, ist man auf andere angewiesen. Daher spielt die Kirche eine wichtige Rolle. In ihr üben die Getauften miteinander ihr Priestertum aus. Sie müssen durch Wort und Tat die Frage beantworten, wer Jesus für sie und andere ist. Jeder einzelne sucht den „Probierstein der Wahrheit“ (Kant) in sich – und im Gespräch mit den Mitchristen. Denn das Erkenntnisvermögen des Menschen ist beschränkt.

Nichttheologen bringen in der Kirche ihre religiösen Erfahrungen und ihren gesunden Menschenverstand ein. Aber sie hören hoffentlich auch auf Fachleute, christliche Theologen und – die jüdischen, die Jesus neu entdeckt haben (siehe Rezension auf Seite 67). Die Pfarrpersonen, die in der Ortsgemeinde oder im Bischofsamt wirken, haben die Aufgabe, Gespräche über den Glauben und seine „Früchte“ (Matthäus 7,16) anzuregen, zu moderieren und darauf zu achten, dass Wichtiges nicht untergeht. 

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