Bis zum Ende

Seelsorge und Sterbebegleitung
Hände einer Sterbenden
Foto: dpa/Bildagentur-online/Joko

Ein Vertrauensbeweis

Rudolf Koch (64) arbeitet als Pfarrer in der Altenheimseelsorge. Er rechnet damit, dass der Wunsch nach Sterbehilfe zunehmen wird.

Ich arbeite seit neun Jahren hauptamtlich als evangelischer Pfarrer in der Altenheimseelsorge. Keines der sechs Altenheime, die ich in Fürth betreue, ist evangelisch, es sind ein städtisches, vier private und eines vom Roten Kreuz. Die Altenheime geben für diese Seelsorge kein Geld, sind aber immer dankbar, dass ich ins Haus komme.

Meiner Schätzung nach höre ich in knapp der Hälfte meiner Gespräche mit den Menschen im Heim, dass sie nicht mehr leben wollen. Aber der Hintergrund dieser Aussage ist sehr unterschiedlich. Da sind die einen, die mir sagen, das Leben reiche ihnen, sie könnten nun jederzeit gehen. Das ist oft verbunden mit der Aussage, am liebsten würden sie noch einen erfüllten Tag haben und dann in der Nacht einfach für immer einschlafen. Hier sehe ich eine positive „Lebenssattheit“ (Genesis 25,8) nach einem langen Leben, wie es die Bibel beschreibt. Oft ist es mit Dankbarkeit verbunden. Wer meint, im Großen und Ganzen erreicht zu haben, was er oder sie sich vorgenommen hat, trotz aller möglicher Brüche, kann das Sterbenwollen leichter äußern, das passt dann. Es erfordert Weisheit und die Bereitschaft loszulassen. Manchmal bete ich auch mit diesen Menschen um den Tod.

Andere Menschen mit Sterbewunsch äußern dies mit der Aussage, dass das Leben für sie nur noch schwer zu ertragen sei, weil sie Schmerzen hätten, weil sie einsam seien oder weil der Körper ihnen eine Last sei, die ihnen die Lebensfreude raube. Das klingt dann formal wie die Bitte um den assistierten Suizid. Ist es aber nicht. Es soll heißen: „So, wie jetzt, will ich nicht mehr leben!“ Und meine Frage ist dann: Was liegt diesem „Sterbewunsch“ zugrunde? Einsamkeit? Schmerz? Seelischer Schmerz? Kann ich hören, begleiten, gegebenenfalls einen Besuchsdienst organisieren, damit die alten Menschen wieder so etwas wie Lebensmut fassen?

Und dann gibt es eine dritte Gruppe: Diese Menschen denken tatsächlich an einen assistierten Suizid. Ein Wunsch, den ich allerdings extrem selten höre. Ich werte solche Aussagen als einen Vertrauensbeweis mir gegenüber. Denn die wenigen Menschen, die mir dies sagen, wissen ja, dass ich ihnen nichts verabreichen werde. Diese Menschen wollen dann aber auch nicht hören, dass alles schon wieder gut werde – ich möchte sie in ihrem Sterbewunsch ernst nehmen.

Nach meiner Einschätzung könnte dieser Wunsch nach Sterbehilfe in Zukunft zunehmen, auch weil eine neue Generation ans Lebensende kommt, für die Autonomie zentral in ihrem Leben war – und vielleicht auch im Tod ist. Die nun sterbende Kriegs- oder Kriegskindergeneration ist zäh und schon durch viel Hartes gegangen. Das Lebensende bringt viele Kindheitserinnerungen zurück. Das gilt auch für Corona. Häufiger höre ich dann: „Das halte ich auch noch aus.“

Mit diesen Erfahrungen weiß ich, dass der „Sterbewunsch“ immer ernst zu nehmen ist, und ich überlege, zu welcher „Gruppe“ mein Gegenüber gehören könnte. In der aktuellen Diskussion über den assistierten Suizid in der evangelischen Kirche neige ich den Ansichten von Karle, Anselm und Lilie zu. Auch deshalb, weil der neue Rechtsrahmen, den das Bundesverfassungsgericht vorgibt, natürlich auch für die Kirche gilt, sie ist da kein anderer Rechtsraum. Freilich werden wir immer versuchen, den Lebenswillen der Heimbewohner zu stärken, sie zu begleiten und bestmöglich palliativ zu versorgen. Trotzdem kann es sein, dass das alles nichts hilft. In meinen Jahren als Altenheimseelsorger habe ich es schon zweimal erlebt, dass Menschen nicht mehr weiterleben wollten oder konnten – beide sind aus dem Fenster gesprungen.

Protokoll: Philipp Gessler

 

Zwischen Todes- und Lebenswunsch

Pfarrerin Katharina Henke (61) arbeitet seit 1990 als Krankenhausseelsorgerin im Evangelischen Krankenhaus Herne. Sie kann sich einen assistierten Suizid in einer solchen Einrichtung nicht vorstellen.

In unserem Krankenhaus sterben etwa vierhundert Menschen im Jahr, die nicht alle von mir persönlich begleitet werden. Mir ist wichtig, wie sie sterben und wie Sterbebegleitung durch andere Berufsgruppen geleistet werden kann. In unseren Leitlinien heißt es, Patienten „erhalten eine angemessene symptomorientierte Therapie, insbesondere im Hinblick auf Ängste und Schmerzen“. Aber gelingt das? Welche Rahmenbedingungen, welches Vorgehen braucht ein „Sterben in Würde“?

Im Ethikkomitee unserer Krankenhausgemeinschaft haben wir Prozesse dazu angestoßen: Schon bei der Aufnahme werden Patienten gefragt, ob sie eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht haben. Aus Beratungsgesprächen weiß ich, dass die meisten Menschen Intensiv-Maßnahmen, wie eine invasive Beatmung, nur in Anspruch nehmen möchten, um eine Krise zu überbrücken. Aber dauerhaft wollen sie es nicht. Viele haben Angst vor einer Übertherapie am Lebensende.

Wir haben das Verfahren „allow natural death“ (AND) entwickelt: Gerade bei Hochbetagten oder Schwerstkranken besprechen Ärztinnen und Ärzte frühzeitig mit Patienten und Angehörigen, wie weit wir gehen sollen, welche Maßnahmen wir weglassen. Bei ethischen Fallbesprechungen versuchen wir im behandelnden Team die Lebenssituation des Patienten und seinen (mutmaßlichen) Willen genau zu erfassen und mit ethischen Werten abzugleichen. Welche medizinische Maßnahme (außer Palliation) ist jetzt noch indiziert? Empfehlungen zu Therapiefortsetzung oder -abbruch werden gemeinsam getroffen.

Die Auseinandersetzung mit einer schweren Erkrankung oder dem möglichen Lebensende verläuft bei Angehörigen und den Patienten nicht synchron. Oft ist der Patient in der Auseinandersetzung schon weiter als seine Angehörigen und spricht vielleicht mit dem Hausarzt oder der Nachtschwester darüber, aber nicht mit seinen Angehörigen.

Wir müssen Menschen also den Raum geben, damit sie Sätze wie „Ich will nicht mehr, ich schaffe das nicht mehr“ aussprechen können. Das dürfen wir nicht kleinreden oder zurückweisen. Als Seelsorgerin versuche ich den Sterbewunsch mit dem Kranken zu klären: Was ist das Belastende zur Zeit? Und was ist das Drängende dahinter? Überforderte Angehörige? Fehlender Sinn? Ich möchte Möglichkeiten aufzeigen und das befreiende Gespräch untereinander fördern.

Und was gilt, wenn Patienten und Mitarbeitende aus anderen Kulturkreisen kommen? Geprägt von ihrer Religion, ihrem Wertesystem. Was bedeutet Selbstbestimmung in einer kollektiven Kultur? Die muslimische Familie hat für den alten Vater einen maximalen Therapiewunsch. Sie sieht in Leiden und Schmerzen auch eine Prüfung, bei der man Gott besonders nahekommt. Suizid gilt als schwere Sünde. Den Todeszeitpunkt lege allein Gott fest.

Ethik braucht eine Reflektion der Werte, Kommunikation und Zeit. In vielen Fällen kommt dies zu kurz – immer noch. Seelsorge will Ambivalenzen zwischen dem Todes- und dem Lebenswunsch aushalten und begleiten. Ich erlebe, wie dabei religiöse Rituale Kraft und Glanz entfalten.

Ich kann mir einen assistierten Suizid im Evangelischen Krankenhaus nicht vorstellen. Da sind uns die Hände gebunden. Das Thema gehört eher in eine Langzeitbegleitung. Eine Hausärztin kennt den Patienten und seine ganze elende Krankengeschichte seit Jahren. Einmal-Kontakte erscheinen mir für Menschen in einer Suchbewegung nicht ausreichend.

Protokoll: Kathrin Jütte

 

Ein klares Jein

Angela Kessler-Weinrich (54) ist Pastorin und arbeitet seit neun Jahren im Kinder- und Jugendhospiz Bethel.  Manche Eltern wünschen sich dort eine schnellere Erlösung für ihr Kind.

Im Unterschied zu Hospizen für Erwachsene kommen in unser Haus die Menschen nicht nur, um zu sterben. Wir bieten Familien mit lebensverkürzend erkrankten Kindern auch sogenannte Entlastungsaufenthalte bis zu 28 Tagen an. Während dieser Zeit können die Eltern die Pflege ihres Kindes ganz oder teilweise an uns abgeben. So können sie Kraft schöpfen und Zeit für sich oder die Geschwister des erkrankten Kindes finden. Manche kommen wieder, um die letzten Lebenstage des Kindes bei uns zu verbringen. Ein multiprofessionelles Team aus Ärzt*innen, Pädagog*innen und Pflegekräften kümmert sich dann um das Kind und die Angehörigen. Wir haben mehr Zeit als das Personal in einer Klinik, auf die besonderen Bedürfnisse einzugehen. Das macht die Arbeit für mich sehr erfüllend.

Keiner der Kinder und Jugendlichen, denen ich in meiner Arbeit hier begegnet bin, hat jemals den Wunsch nach einem assistierten Suizid geäußert. Allerdings gab es in wenigen Fällen Eltern, die sich eine schnellere Erlösung ihres Kindes von den Qualen der Krankheit wünschten. In solchen Situationen stellt sich die Frage, ob dem Kind etwa tatsächlich noch einmal ein Antibiotikum gegeben wird, wenn es eine Lungenentzündung hat. Oder ob es wirklich noch einmal reanimiert werden soll. Diese Fragen besprechen wir im Team und mit den Eltern. Und in unklaren Situationen steht uns das Instrument der „ethischen Fallbesprechung“ zur Verfügung, bei denen wir gegebenenfalls auch die Ethiker der Einrichtung, zu der unser Hospiz gehört, dazuholen.

Ich finde es grundsätzlich richtig, dass derzeit über die Frage des assistierten Suizids in evangelischen Einrichtungen diskutiert wird. Wenn ich gefragt werde, ob ich dafür oder dagegen bin, dass evangelische Einrichtungen die Möglichkeit eines assistierten Suizids ablehnen sollen, lautet meine Antwort „Jein“. Das Thema ist sehr komplex, und es geht um mehr als um die Frage, ob ich mich als Lebensschützerin oder Kämpferin für die Autonomie des Menschen verstehe.

Einen Menschen in Not, und das sind ja diejenigen, die einen assistierten Suizid wünschen, darf man nicht alleinlassen. Wir haben viel anzubieten, gerade in der palliativen Pflege und in der spirituellen Begleitung. Wenn aber am Ende all diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind und der Wunsch noch immer besteht, wäre es zu einfach zu sagen, „wir machen das nicht“ und das Thema damit für geklärt zu halten. Denn wenn jemand einen solchen Wunsch äußert, müssen wir uns damit auseinandersetzen. Das bedeutet aber nicht, dass wir ihn auch erfüllen müssen.

Klar ist aber, dass niemand, der oder die einen Menschen mit Sterbewunsch begleitet, zu einem assistierten Suizid verpflichtet werden darf. Wir müssen unsere Handlungen stets mit unserem Gewissen vereinbaren können.

Protokoll: Stephan Kosch


 

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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