„Hopsassa und weg“

Zwanzig Jahre aktive Sterbehilfe in den Niederlanden
Rembrandt (1606 – 1669): Artemisia oder Sophonisbe empfängt den Giftbecher (1634).
Foto: dpa/Artcolor
Rembrandt (1606 – 1669): Artemisia oder Sophonisbe empfängt den Giftbecher (1634).

Zwanzig Jahre nach der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden zeigt sich auch das Dilemma dieser Entscheidung. Die Amsterdamer Journalistin Annette Birschel berichtet über eine mögliche Veränderung des Gesetzes.

Es ist 2008. Hannie Goudriaan sagt: „Da stimmt was nicht in meinem Kopf.“ Zwei Jahre später stellt ein Neurologe die Diagnose: semantische Demenz. Die sechzig Jahre alte Niederländerin wird bald die Fähigkeit verlieren, sich auszudrücken. Ihre Sprache wird ohne Bedeutung sein.

„Das wollte sie nicht“, erinnert sich später ihr Mann Gerrit. „Sie sagte: Wenn es so weit ist, dass ich Leute nicht mehr erkenne, wenn ich nicht mehr kommunizieren kann, dann will ich nicht mehr leben.“ Hannie setzt eine Patientenverfügung auf und spricht ausführlich darüber mit ihrem Hausarzt. 2016 strahlt das niederländische TV einen Dokumentarfilm zum Thema aktive Sterbehilfe aus, am Beispiel von drei Patienten. Eine ist Hannie. Die Zuschauer sehen eine körperlich fitte Frau mit kurzen grauen Haaren. Sie kann sich nicht mehr klar ausdrücken. Sie sagt: „Ich muss Hopsassa“ oder „Ich will weg“. Damit meine sie, dass sie sterben wolle, sagen ihr Mann und ihr Arzt. Als ihr Mann sie direkt fragt, ob sie sterben will, sagt sie klar und deutlich: „Ja.“ – „Sicher?“, fragt er. – „ Ja“, sagt sie.

Nächste Szene: Hannie steigt ins Auto, setzt sich hinters Steuer. Sie fährt mit ihrem Mann zu einem Eisschnelllauf-Wettbewerb ins Stadion in Heerenveen in Friesland. Beide sind große Eisschnelllauf-Fans. Vor dem Stadion spielt fröhlich eine Blaskapelle: Hannie tanzt munter mit.

Am nächsten Tag: Hannie sitzt zu Hause auf dem Sofa. Ihr Mann hält sie im Arm. Ihr Blick ist starr. Gegenüber sitzt der Arzt Remco Verwer. Er spritzt ihr ein starkes Schlafmittel. „Schrecklich“, stammelt sie noch. Dann verliert sie das Bewusstsein. Wenig später ist Hannie tot. Ein Sturm der Empörung bricht los. „Wie eine Hinrichtung“, schreibt jemand auf Twitter. „Das ist Mord mit 1,5 Millionen Zeugen“, urteilt Victor Lamme, Professor für Kognitive Neurowissenschaft in Amsterdam. „Hopsassa-Weg-Sterbehilfe“, nannte es der Rotterdamer Ethiker Erwin Kompanje im NRC Handelsblad. „Dieser Dokumentarfilm könnte ein Wendepunkt sein für die Grenzen der Sterbehilfe“, meinte er. „Dass man das Leben beendet von einem Menschen, der seinen Willen selbst nicht mehr bestätigen kann, … auf der Grundlage von subjektiven Interpretationen von leeren Worten und früheren Patientenverfügungen, das kann doch echt nicht sein. Auch nicht in den Niederlanden.“ Der „Hopsassa-Fall“ war keine Kehrtwende, er zeigte aber die Dilemmas der aktiven Sterbehilfe – zwanzig Jahre nach der Legalisierung.

Am 12. April 2001 hatte das Parlament die aktive Sterbehilfe in einem Gesetz geregelt – als erstes Land der Welt. Euthanasie, der sanfte Tod, heißt es im Niederländischen. Das Euthanasie-Gesetz trat ein Jahr später in Kraft. Damit will man todkranken Menschen einen Ausweg aus unerträglichem Leiden geben und Ärzten Rechtssicherheit vor Strafverfolgung bieten. Ein Recht auf Sterbehilfe gibt es aber auch in den Niederlanden nicht und auch keine Verpflichtung für Ärzte. Für Sterbehilfe gelten strenge Bedingungen: Ein Patient muss unerträglich leiden und aussichtslos krank sein. Er muss selbst mehrfach und ausdrücklich darum gebeten haben. Ein zweiter unabhängiger Arzt muss hinzugezogen werden. Dann muss man jeden Fall den regionalen Prüfkommissionen melden. Die entscheiden, ob der Arzt korrekt gehandelt hat. Wenn nicht, kann der Staatsanwalt eingeschaltet werden.

In den ersten Jahren nach Einführung des Gesetzes waren etwa 2500 Fälle gemeldet worden. Inzwischen sind es rund 6300 (2019). Krebs ist der häufigste Grund – zwei Drittel aller Patienten waren im letzten Stadium einer Krebserkrankung. Etwa vier Prozent aller Todesfälle in den Niederlanden sind auf aktive Sterbehilfe zurückzuführen. Doch auffällig sind die regionalen Unterschiede. „In einigen Kommunen kommt Euthanasie bis zu sieben Mal häufiger vor als in anderen Kommunen“, ergab eine Studie der Radboud Universität in Nimwegen und der Protestantischen Theologischen Universität von Groningen im Januar. Die Forscher stellten auch große Unterschiede sogar innerhalb von Kommunen fest. So waren in einem Viertel von Amsterdam rund 14 Prozent aller Todesfälle auf Sterbehilfe zurückzuführen, in anderen nur zwei Prozent. Ursachen können kulturelle Unterschiede und Weltanschauung sein. Beispielweise ist Sterbehilfe im sogenannten Bibelgürtel eher selten – das ist die Region von der Provinz Zeeland im Südwesten bis zum Nordosten mit relativ vielen strenggläubigen Protestanten.

Verstöße gegen die gesetzlichen Regeln gibt es kaum: In mehr als 99 Prozent aller Fälle kamen die Prüfkommissionen zum Urteil, dass die Ärzte sorgfältig gehandelt hatten. Auch der Arzt, der Hannie getötet hatte, wurde nicht verfolgt. In den vergangenen zwanzig Jahren zeigte sich aber auch, dass das Gesetz nicht immer ausreicht. Zum Beispiel bei Minderjährigen. Für sie wurden die Regeln ergänzt – nach Gutachten von Medizinern und Psychologen. Die hatten festgestellt, dass auch Kinder sehr deutlich und klar ihren Willen zu sterben ausdrücken können. Nun dürfen Patienten über zwölf Jahre selbstständig entscheiden, ob sie sterben wollen – nach Abstimmung mit den Eltern. Auch für jüngere Kinder und Babys wird es demnächst Regeln geben, sicherte erst kürzlich Gesundheitsminister Hugo de Jonge zu. Ärzte hatten 2019 die Regierung aufgefordert, Sterbehilfe für Kinder und Babys auf der Grundlage des sogenannten Groninger Protokolls zu regeln. Das Protokoll war von Kinderärzten 2004 aufgesetzt worden als Hilfe im Umgang mit „unerträglich und aussichtlos leidenden Neugeborenen“. Dabei geht es um etwa zehn Fälle im Jahr. Auch für Demenzkranke musste das Gesetz verdeutlicht werden. Denn eigentlich müssen Patienten bei klarem Verstand sein, wenn sie ihren Sterbewunsch äußern. Doch was ist mit denjenigen, die das nicht mehr können? Erst kürzlich hatte ein weiterer Fall für großes Aufsehen gesorgt und am Ende sogar Rechtsgeschichte geschrieben.

Starke Lobby

Die Ärztin eines Pflegeheimes hatte 2016 das Leben einer 74 Jahre alten demenzkranken Frau beendet. Diese hatte erklärt, dass sie sterben wollte, sobald sie wegen ihrer Alzheimer-Krankheit zum Pflegefall würde. Sie wollte nicht in ein Pflegeheim. Doch als es so weit war, war sie nicht mehr in der Lage, sich klar auszudrücken. Sie war orientierungslos, aggressiv und litt – unerträglich, wie die Familie und die Ärztin feststellten. Die Frau hatte zwar eine Patientenverfügung, doch wenn die Ärztin sie nach ihrem Sterbewunsch fragte, machte sie widersprüchliche Angaben. Die Ärztin bat Kollegen um Gutachten und am Ende leistete sie Sterbehilfe. Im Beisein der Familie gab sie der Frau zunächst ein Schlafmittel vermischt mit Kaffee, um die Patientin nicht unruhig zu machen. Dann versetzte sie ihr die Todesspritze. Doch sie wurde strafrechtlich wegen Mordes belangt. Es war der erste Fall in knapp zwanzig Jahren. Die Staatsanwaltschaft zog mit dieser Klage bis zum höchsten Gericht des Landes, dem Hoge Raad, ohne aber eine Strafe zu fordern. Es ging den Anklägern um den höchstrichterlichen Spruch, als Richtschnur für künftige Fälle. Im vergangenen Jahr sprach der Hohe Rat die Ärztin frei: „Ärzte dürfen aktive Sterbehilfe leisten bei demenzkranken Personen, wenn diese den Wunsch klar geäußert hatten, als sie noch bei klarem Verstand waren.“ Auf der Grundlage dieses Urteils passten jetzt die Prüfkommissionen die Regeln an: Danach muss eine Patientenverfügung juristisch nicht perfekt sein, und der Arzt bekommt mehr Raum für Interpretationen. „Ärzte müssen sich jetzt weniger Sorgen machen, dass sie mit Sterbehilfe ihren Kopf in die Schlinge stecken“, sagte Jakob Kohnstamm, Vorsitzender der Kommissionen. „Es gibt für solche Ersuchen keinen Standard. (…) Es ist gut, wenn Patienten selbst festlegen, welche Situationen für sie das Leben unerträglich und aussichtlos machen würden.“ Während diese Neufassung breit unterstützt wird, ist eine andere geplante Veränderung umstritten. Die linksliberale Regierungspartei D66 brachte im vergangenen Sommer den Gesetzesentwurf „Würdevolles Lebensende“ ins Parlament ein – Sterbehilfe für Lebensmüde. „Es gibt Ältere, die finden, dass ihr Leben abgeschlossen ist“, erläuterte D66-Abgeordnete Pia Dijkstra. „Sie sagen: Ich gehe jeden Abend schlafen in der Hoffnung, dass ich nicht mehr aufwache.“ Für diese Gruppe soll Sterbehilfe möglich sein. Für das Gesetz gibt es noch keine Mehrheit – aber die Lobby ist stark. 

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