Fetisch Gegendiskriminierung?

Eine persönliche Antwort auf Ingolf Dalferths Text zur Identitätspolitik
Die 22-jährige Poetin Amanda Gorman liest ihr Gedicht „The Hill we climb“ anlässlich der Vereidigung von US-Präsident Joe Biden am 20. Januar in Washington.
Foto: dpa/Patrick Semansky
Die 22-jährige Poetin Amanda Gorman liest ihr Gedicht „The Hill we climb“ anlässlich der Vereidigung von US-Präsident Joe Biden am 20. Januar in Washington.

Im Januar schrieb der Theologe und Philosoph Ingolf Dalferth für zeitzeichen über seine Erfahrungen mit der in seinen Augen verhängnisvollen Ideologie der Identitätspolitik, die sich an den Universitäten der USA breitgemacht habe. Ihm widerspricht nun der Theologe und WDR-Journalist Arnd Henze vehement in Form eines öffentlichen Briefes.

Lieber Herr Professor Dalferth,

sage niemand mehr, Sie hätten uns nicht gewarnt: „Wir haben in den vergangenen Monaten Viren zu fürchten gelernt. Aber wir unterschätzen immer noch die Gefahr von Ideen, die zu Ideologien werden und sich ungehemmt ausbreiten, weil wir ihre scheinmoralischen Rechtfertigungen hinnehmen.“

Schon in den ersten Sätzen Ihres Leitartikels im Februar-zeitzeichen („Großprojekt Gegendiskriminierung“) machen Sie also klar, dass es um Leben und Tod geht – um eine Bedrohung, so gefährlich wie die Viren (die in den vergangenen Monaten zwei Millionen Todesopfer gefordert haben) oder schlimmer: wie die tödlichen Ideen und Ideologien des 20. Jahrhunderts (an erster Stelle also wohl Nationalsozialismus und Stalinismus mit ihren vielen Millionen Toten)?

Natürlich: Was in den Klammern steht, haben Sie nicht geschrieben. Aber wer Ihre Vergleiche ernst nimmt, kann wohl gar nicht anders, als diese Konkretisierungen mitzulesen. Das Fischen im sprachlich Trüben, das Raunende und zugleich Maßlose – das ist allerdings für ein ganz anderes Genre typisch: Es begegnet einem vor allem in den Onlineforen von Verschwörungsideologen: bei Querdenkern, Impfgegnern, QAnon und neurechten Umvolkungsfantasten.

Tue ich Ihnen Unrecht, wenn ich Sie bereits nach dem ersten Absatz Ihres Artikels in diesen Kontext stelle? Ich fürchte Nein! Denn auch nach dem apokalyptischen Einstieg bleiben Sie bis zum Schluss konsequent im Ungefähren. Gäbe es tatsächlich ein „Großprojekt Gegendiskriminierung“, müssten Sie es doch präzise benennen, beschreiben, belegen und in ihrer Bedeutung nachvollziehbar bewerten können. Stattdessen finde ich in Ihrem Text ein Sammelsurium von undefinierten Kampfbegriffen wie „Woke-Glaubenlehre“ oder „Kult der Diversity“. Gehört „Black Lives Matter“ nun zu dieser Glaubenslehre? Ist die von Ihnen beklagte „Steigerung von Diversität“ an den Hochschulen ein „Kult“?

Sie schreiben aus persönlicher Betroffenheit als ehemaliger Professor am Institute for Religious Studies an der Claremont Graduate University, an der Sie von 2007 bis 2020 wirkten. In den USA gibt es eine strukturelle Trennung zwischen Divinity Schools, in denen die Theologenausbildung einzelner Glaubensrichtungen stattfindet, und Religious Studies, in denen kulturelle und religiöse Vielfalt den Ausgangspunkt von Forschung und Lehre bilden. Jede Uni entwickelt dabei eigene Schwerpunkte.

Was soll also falsch daran sein, wenn die CGU während Ihrer Zeit auf dem Campus ihr Profil stärker in Richtung komparativer Ansätze verändert hat? Es bedeutet jedenfalls nicht zwingend einen Angriff auf das „Erbe Europas“, wenn sich eine Uni an der amerikanischen Pazifikküste entscheidet, die Schwerpunkte zukünftig stärker an den religiösen Herausforderungen in diesem Teil der Welt auszurichten und die Ressourcen entsprechend zu verlagern.

Ich meine: Gerade die von Ihnen genannten Pfingstkirchen und Mormonen brauchen nicht weniger, sondern mehr kritische wissenschaftliche Beachtung. Ein Blick auf Fakultät und Lehrangebot wecken bei mir jedenfalls keinen begründeten Zweifel, dass an der CGU auch ohne einen verdienten Emeritus aus Europa auf hohem akademischen Niveau gearbeitet wird. Sonst würden die Studierenden wohl kaum 100 000 US-Dollar für das zweijährige Masterprogramm bezahlen.

Apropos „Erbe Europas“: Es gibt wohl keinen akademischen Ort, an dem es noch so identitär zugeht wie an den theologischen Fakultäten in Deutschland. Internationaler Austausch auf den Lehrstühlen: Fehlanzeige! Strahlkraft für Studierende aus aller Welt: Fehlanzeige! Einwanderungs- und Aufstiegsbiografien, Neugier auf gelebte Vielfalt unter den angehenden Pfarrer*innen und Lehrkräften? Ganz viel Luft nach oben!

Das war schon zu meinen Studienzeiten in den 1980er-Jahren so. Als ich 1987 mit meinen Erfahrungen aus Göttingen und Heidelberg an die Graduate Theological Union ins kalifornische Berkeley kam, begegnete mir eine Diversität, die neu, begeisternd und herausfordernd zugleich war. Damals prägte die lateinamerikanische Befreiungstheologie den ökumenischen Diskurs. Im Seminar saßen wir mit jungen Theolog*innen aus Südafrika, Bangladesch und den Philippinen zusammen, die sehr konkrete Erfahrungen mit Unrechtsregimen und Menschenrechtsverletzungen mitbrachten – die aber im Blick auf Schwule und Lesben von zum Teil sehr konservativen Vorstellungen geprägt waren. Andere kamen aus konservativen US-Bundesstaaten, in denen sie als Schwule und Lesben Diskriminierungen ausgesetzt waren. Feminis-tische Theologie hatte schon damals einen festen Platz im Curriculum. Und wir weißen Männer aus Europa wurden sehr genau gefragt, warum es auch in den Kirchen so wenig Widerstand gegen den NS-Staat und die Judenverfolgung gab.

Vibrierendes Lernfeld

Identitätspolitisch prallten da Welten aufeinander. Natürlich gab es auch ein mitunter anstrengendes Ringen um Aufmerksamkeit für die je eigene Agenda. Und ja: Es gab auch manch schrille, extreme und verletzende Töne. Niemand behauptet, dass diversity spannungsfrei ist! Aber niemandem wäre es eingefallen, die konkreten Erfahrungen der anderen als ideologisches „Geschäftsmodell“ zu diffamieren. Der Campus war ein vibrierendes Lernfeld für den Umgang mit Diversität – im Seminarraum und auf der Dachterrasse. Immer wieder haben wir bewusst versucht, unsere so unterschiedlichen sozialen und kulturellen Erfahrungen in leidenschaftlich erstrittenen gemeinsamen Seminararbeiten zusammenzuführen.

Mal ehrlich, lieber Herr Professor Dalferth: Unsere Unis in Deutschland können im Kontrast dazu auch 35 Jahre später noch manche „Steigerung von Diversität“ verkraften, ohne dass wir uns vor einem „Diversity Kult“ fürchten müssten. Dieses „Erbe Europas“ verspielt sich vielmehr selbst, wenn es zum musealen Rückzugsraum einer vergangenen homogenen Welt wird.

Genau dafür bietet Ihr Text ein Lehrbeispiel – und deshalb muss man ihn ernst nehmen. Denn er lässt exemplarisch miterleben, wie die Mischung aus Hochmut und Verlustängsten alle Dämme brechen lässt und sich in einem Mix aus Verschwörungslegenden und – ich kann es nicht anders benennen – offenem Rassismus entlädt.

Ist das zu hart formuliert? Ich meine nicht, denn in Ihrem zeitzeichen-Essay schreiben Sie zum Beispiel: „Weil sie [die CGU, AH] infolge von Finanzkrise und Missmanagement keine Mittel mehr hat, mit den Spitzenuniversitäten um die Besten zu konkurrieren, sucht sie mit dem Einsatz für diversity im südkalifornischen Umfeld Studierende mit lateinamerikanischen, indigenen und afroamerikanischen Wurzeln zu gewinnen. Der Kampf gegen die White supremacy und das Werben um Latinxs und People of Colour wird zum Geschäftsmodell.“

Lieber Herr Professor Dalferth, lässt sich diese Herabsetzung von Studierenden aus anderen ethnischen Gruppen anders interpretieren denn als Ausdruck eines weißen Überlegenheitsdenkens – als White Supremacy in Reinkultur? Sehen wir einmal auf Fakten und Zahlen: Tatsächlich liegt die CGU in Sachen diversity deutlich über dem Durchschnitt US-amerikanischer Universitäten. Während landesweit immer noch 62 Prozent der Studierenden Weiße sind, ist der Anteil an der CGU auf 44 Prozent zurückgegangen – liegt damit aber immer noch signifikant über dem Bevölkerungsschnitt in Kalifornien.

Was Sie mit so viel Verachtung abwerten, erweist sich für mich bei sorgfältiger Betrachtung als völlig legitimes „Geschäftsmodell“: die Realität der Diversität in Südkalifornien als Chance für eine hochwertige Forschung und Lehre zu bejahen. Es spricht jedenfalls nicht für Missmanagement, wenn die Uni im Dezember 2020 eine Förderung von 14 Millionen US-Dollar bekam. Damit soll eine Forschungseinrichtung zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung in den nahegelegenen Reservaten des indigenen Serranovolkes entstehen. Profitieren wird davon eine medizinisch extrem unterversorgte Bevölkerungsgruppe – deren sehr reale historische Erfahrung mit White Supremacy wohl kaum als „Woke Glaubenslehre“ denunziert werden kann. Wenn ich versuche, die Substanz des Problems zu verstehen, dann finde ich in Ihrem Text exemplarisch bestätigt, was der Soziologe Aladin El Mafaalani in seinem gleichnamigen Buch als „Integrations-Paradox“ beschreibt: Die Kontroversen um Diversität sind kein Beleg für das Scheitern, sondern im Gegenteil für das Gelingen von mehr gesellschaftlicher Teilhabe und von immer mehr erfolgreichen Aufstiegsbiografien. Wo mehr Latinos und People of Colour ihren Weg in die Universitäten finden, bedeutet das keine Absenkung der Standards, sondern die Überwindung von Barrieren, die diesen Bildungsaufstieg in der Vergangenheit verhindert haben. Daraus ergeben sich allerdings sowohl irrationale Verlustängste als auch ganz reale Konflikte um Ressourcen und Inhalte.

El Mafaalani beschreibt das als einen Prozess in mehreren Phasen. Im ersten Schritt geht es darum, dass sich neue Akteure einen Platz am Tisch erkämpfen. Dafür wird man vielleicht ein paar Stühle zusätzlich holen und etwas zusammenrücken können, aber mancher wird dabei wohl schon um seinen Stammplatz fürchten. Im nächsten Schritt werden die Neuen am Tisch aber nicht nur mitessen, sondern auch die Auswahl der Speisen und die Gesprächsthemen mitbestimmen wollen. Das werden manche als Bereicherung, andere als „Undankbarkeit“ und Angriff auf die bis dahin eher homogene Identität aufnehmen.

Das Aushandeln einer neuen und sich ständig verändernden „Tischkultur“ ist deshalb eine unverzichtbare Voraussetzung für die Anerkenntnis einer neuen Realität. Diesen Prozess wird es nicht ohne Konflikte und Verteilungskämpfe geben. Je mehr sich gesellschaftliche Teilhabe als Erfolgsgeschichte entwickelt, desto mehr wird sie Besitzstände und Privilegien in Frage stellen und herausfordern.

Man ahnt, wie schmerzlich das für Sie in Kalifornien gewesen sein muss. Dabei zeigt Ihr Furor für mich, wie sehr Sie für ein „Erbe Europas“ stehen, das nicht nur durch den Geist der Aufklärung, sondern auch durch genau den identitätspolitischen Dominanzanspruch geprägt ist, den Sie anderen unterstellen. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr!

Lieber Herr Dalferth, habe ich in Ihrem Text ein Argument oder einen Beleg übersehen, die Ihre These vom „Großprojekt Gegendiskriminierung“ stärken würden? Ich finde leider vor allem Querverweise auf Artikel gleichgesinnter Professoren, die Sie vermutlich bei nächster Gelegenheit wiederum zitieren werden. So verstärkt sich dann die Wahrnehmung, dass die Bedrohung immer größer und umfassender wird.

Das ist auch mein Problem mit dem „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, zu dessen siebzig Gründungsmitgliedern Sie gehören. In diesem „Manifest“ wird der Eindruck erweckt, als sei diese Freiheit durch einen moralischen und politischen „Konformitätsdruck“ existienziell gefährdet. Auf Nachfragen in Interviews werden dann aber die immer gleichen vier oder fünf Fälle aus früheren Jahren erwähnt: Thilo Sarrazin in Siegen, die Kopftuchdebatte vor und nach einer Veranstaltung zu diesem Thema mit der Ethnologin Susanne Schröter 2019 in Frankfurt/Main, das unglückliche Comeback des AfD-Gründers Bernd Lucke in Hamburg, Jörg Baberowski in Berlin.

Mir fallen sogar noch ein paar weitere Beispiele ein – aber wofür stehen sie? Für einen strategischen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit oder für die überraschende Erkenntnis, dass es auch im akademischen Bereich Intoleranz und Kleingeistigkeit gibt? Als ich in den 1980er-Jahren in Göttingen studierte, wurde sogar Heiner Geißler dort ziemlich rüde an einer Hörsaal-Rede gehindert – manche der damaligen Störer werden ihm vielleicht Jahre später bei Attac wiederbegegnet sein. Von den vielen radikalen Wortführern der APO, die später zu Ordinarien an den Universitäten geworden sind, gar nicht zu reden. Unsere Demokratie erweist sich da schon als ziemlich resilient.

Dennoch: Zur Wissenschaftsfreiheit gehört für mich ohne jeden Zweifel, dass niemand, der sich im Rahmen des Grundgesetzes äußert, an der freien Rede gehindert werden darf. Das gilt ohne Wenn und Aber!

Zur Wissenschaftsfreiheit gehört es aber auch, dass die sich oft selbst reproduzierenden akademischen Institutionen kritisch hinterfragt und neue Formen der Teilhabe eingefordert werden. Das sind zwei Seiten derselben Medaille.

Mal durchatmen

Wer das kostbare Grundrecht der freien Forschung und Lehre in ein Grundrecht auf Besitzstandswahrung umdeutet, wird am Ende beides verlieren. Aber mal ehrlich: Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Wenn die Konkurrenz um die wenigen Lehrstühle und knappen Forschungsmittel größer wird, ist das noch lange kein „Großprojekt Gegendiskriminierung“. Jan-Martin Wiarda liefert in der Süddeutschen Zeitung vom 7. Februar übrigens eindrucksvolle Belege, dass manche Ihrer Mitstreiter im Austeilen deutlich weniger zimperlich waren als im Einstecken.

Lieber Herr Dalferth,

vielleicht sollten wir deshalb nun alle mal durchatmen. Sie konnten Ihrem Ärger nicht nur in zeitzeichen, sondern auch in anderen Medien ausgiebig Luft machen. Ich konnte Ihnen pointiert widersprechen. Darüber werden sich wieder andere empören … Das alles nennt man Meinungsfreiheit – sie scheint so schlecht nicht zu funktionieren. Der drohende Untergang des Abendlandes, den Sie so eindringlich beschwören, muss noch warten!

Bleiben Sie derweil von den realen Viren verschont. Die sind wirklich gefährlich!

Herzlich, Ihr Arnd Henze 

 

Den Text von Ingolf Dalferth finden Sie hier

Die Selbstdarstellung des  Netzwerks Wissenschaftsfreiheit finden Sie unter netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de.

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Foto: Solveig Böhl

Arnd Henze

Arnd Henze ist WDR-Redakteur und Theologe. Er lebt in Köln. 2019 erschien sein Buch "Kann Kirche Demokratie?". Seit 2020 gehört Henze als berufenes Mitglied der Synode der EKD an.


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