Das Schweigen der Glocken

Auch ein Corona-Kollateralschaden: zeitzeichen-Kolumnist Christoph Markschies fehlt die klingende Unterbrechung der „Eigenzeit“ durch „Gotteszeit“

Kirchenglocken läuten traditionell zum Gottesdienst. In diesen pandemischen Zeiten gibt es deutlich weniger Präsenzgottesdienste. Infolgedessen schweigen immer häufiger die gewohnten Sonntagsgeläute, und diese Rufe in die  „Gotteszeit“ vermisst zeitzeichen-Kolumnist Christoph Markschies sehr …

Am Anfang wusste ich gar nicht, was mir fehlt. Viel zu selbstverständlich ist mir, dass die Evangelische Kirche in der Nachbarschaft sonntags fünf Minuten lang nach halb zehn mit einer Glocke vorläutet und mit drei Glocken fünf vor zehn für fünf Minuten den Gottesdienst einläutet. Wenn ich am Sonntag einmal nicht den Gottesdienst hier oder anderswo (mit-)gestalte, reicht es bequem, beim Vorläuten noch den Kaffee auszutrinken, das Brötchen zu Ende zu essen und dann loszulaufen. Wirke ich selbst im Gottesdienst mit, dann versuche ich immer, eine halbe Stunde vorher da zu sein, damit ich wenigstens das Vorläuten noch draußen höre und das volle Geläut dann natürlich von innen, in der Sakristei, wenn ich mit anderen Mitwirkenden still werde und mich mit Gebet auf den Gottesdienst vorbereite. Fast noch mehr aber liebe ich das Einläuten des Sonntags. Denn dann höre ich nicht nur die drei Stahlglocken von nebenan, sondern je nach folgendem Sonntag fünf oder gar sechs wunderbare Bronzeglocken der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die aus einer Ferne wie ein dumpfes Grollen klingen.

Seit ich vor vielen Jahren in Jerusalem studiert habe, ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, dass der Sonntag Samstagabend beginnt, alle Aufregung der Woche abfallen soll und das dumpfe Donnergrollen mir anzeigt, dass ein anderer das Regiment meiner Zeit übernommen hat. Und besonders schön klingt das Donnergrollen, wenn an Festtagen alle sechs Glocken geläutet werden. Da merkt man gleich, dass etwas Besonderes bevorsteht.

Irgendwann im Dezember merkte ich, dass das Läuten fehlt. Da in den beiden genannten Kirchen seit dem Lockdown keine öffentlichen Gottesdienste mehr stattfinden, wird zu ihnen auch nicht mehr geläutet (falls ich mich nicht verhört habe). In der einen Kirche sitzt der Pfarrer nahezu den ganzen Sonntag und ist ansprechbar, aber natürlich wird nicht pausenlos dazu geläutet. Wenn ich mich gegenwärtig zu einer der Kirchen auf den Weg mache, in denen noch Gottesdienst gefeiert wird, fahre ich nicht wie sonst sozusagen von Geläut zu Geläut, sondern durch einen stillen und stummen Sonntag. Ich bilde mir sogar ein, dass am Samstag das nachbarschaftliche Donnergrollen aus Charlottenburg fehlt (was wahrscheinlich gar nicht stimmt; den Sonntag wird man ja hoffentlich noch einläuten).

Seil langsam ausschwingen lassen

Selten ist mir so deutlich geworden, wie sehr ich den Ton der Glocken liebe und brauche. Als Konfirmand durften wir in der Berlin-Dahlemer Dorfkirche natürlich nur die kleine der beiden Glocken läuten, die große läutete immer der Küster und der zeigte uns auch, wie mit dem Glockenseil umzugehen war (heute werden sie elektrisch geläutet). Die Organistin drückte auf einen kleinen Schalter an der Orgel, wenn es kurz nach zehn war und dann brannte über den Glocken ein Licht – und wir waren angehalten, das Seil darauf langsam ausschwingen zu lassen. Wenn ich aus meinem Studentenzimmer in die Tübinger Stiftskirche rannte, erfreute mich jedesmal die charakteristische kleine Sekunde, der Abstand, in dem die ersten beiden Glocken tonlich aufeinander folgen.

Und nie werde ich vergessen, wie ich in den frühen 1990er-Jahren mit drei Kollegen nach Wochen einer Exkursion durch Syrien und Jordanien zu einem Gottesdienst in der Kirche der Theodor-Schneller-Schule in Amman eilte. Da wir recht spät anlangten, läuteten schon die Glocken, während wir den Weg vom Eingang zur Kirche entlang rannten. Obwohl die Kirche aus den 1950er-Jahren stammt, wurde das Geläut aus dem nach 1945 enteigneten Syrischen Waisenhaus in (West-)Jerusalem mitsamt Kirchenbänken, Glasfenstern und anderer Ausstattung übertragen. Und so hörten wir nach Wochen Wüste und Ausgrabung plötzlich ein wunderschönes Geläut von drei Bronzeglocken der Firma Franz Schilling aus Apolda aus dem Jahre 1910: Heimat mitten in der Fremde.

Wenn das Läuten zum Sonntag entfällt, verfallen manche Kirchen praktisch vollkommen ins Schweigen. Die Kirche in meiner Nachbarschaft hat einen Stundenschlag und eine Uhr, die dazu passend die Zeit anzeigt. Das ist aber keineswegs überall der Fall. Bei einer berühmten Tagung zum Kirchenbau im Jahre 1965 wurde empfohlen, auf Uhren an Kirchtürmen und den Stundenschlag zu verzichten angesichts der Tatsache, dass genügend andere Möglichkeiten existieren, sich zu vergewissern, was die Stunde geschlagen hat. Das Gemeindezentrum, das zur Kirchengemeinde gehört, in der meine Frau tätig ist, benutzt zum Läuten den Glockenturm der benachbarten katholischen Kirchengemeinde und hat weder eine Uhr noch einen Stundenschlag. Da meine eigene Armbanduhr immer wieder einmal etwas vor- oder nachgeht, vermisse ich dann die Zeit, nach der sich der Gottesdienstbeginn richtet, besonders. Bin ich etwa zu spät?

Leipzig aus dem Internet

Es tut mir gut, wenn mir in dem hektischen Einerlei meiner Arbeitswoche lautstark demonstriert wird, dass Gottes Zeit meine Eigenzeit unterbricht. Ich freue mich, wenn sonntägliche Heilszeit wochentägliche Zeit unterbricht, die manchmal Unheilszeit ist. Und Glocken sind mir mehr als ein Zeichen dieser Unterbrechung, sie sind Vollzug des Unterbrechens. Entsprechend traurig bin ich darüber, wenn nicht einmal mehr geläutet wird. Der hervorragende Leipziger Universitätsgottesdienst, den Kollegen der Leipziger Fakultät seit dem ersten Lockdown digital über youtube anbieten, beginnt immer mit dem Geläut der alten Leipziger Universitätsglocke, die die Sprengung der gotischen Universitätskirche überlebt hat und inzwischen wieder zum Gottesdienst in der kombinierten Aula/Universitätskirche läutet. Es gab schon einen Sonntag, da war das Geläut aus Leipzig im Internet das einzige Geläut weit und breit. Entsprechend unmittelbar hat es mich berührt und erfreut.

Sollte man zum Gottesdienst läuten, wenn es gar keinen Gottesdienst gibt? Mir scheint, dass diese Frage auf die viel wichtigere Frage führt, ob man im Augenblick wirklich flächendeckend alle Gottesdienste absagen sollte oder gar muss. Mit einer kurzen generellen Antwort auf diese schwierige Frage, die im Augenblick viele Gemeinden und Pfarrpersonen umtreibt, will ich nicht schließen, dazu ist das Problem hinter der Frage zu komplex. Aber ich will auch nicht verhehlen, wie sehr ich mich freue, wenn es in diesen Tagen läutet und dann auch eine Tür geöffnet ist, um einzutreten. Läuten hört man auch mit Maske und Sicherheitsabstand, vielleicht sogar besonders aufmerksam, wenn man, weil man nicht singen darf, auf fremde Töne achtet.

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