Vielschichtig

Roths neue Tiefenbohrungen

"Im Dunkel. Was war da? Ein Funke. Dem folgte ich nach.“ Mit diesen Worten beginnt Patrick Roths neues Buch Gottesquartett. Erzählungen eines Ausgewanderten. In ihnen steckt schon das ganze Programm dieses schillernden Werks. Der Autor will Licht ins Dunkle, Unbewusste bringen. Er folgt kleinsten Funken und Assoziationen, in der Hoffnung, das im Dunkeln Liegende an die Oberfläche zu befördern, ins Bewusstsein zu heben.

Vier Freunde, zwei Frauen und zwei Männer, sitzen beisammen auf einer Terrasse in den Hollywood Hills. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, unschwer mit Roth selbst identifizierbar, ist einer von ihnen. Verschiedene Umstände haben sie an diesem Ort zusammengebracht. Während Ava vor den Bränden in der Nähe ihres kalifornischen Hauses flieht, ist der Erzähler selbst aus Deutschland zu einer Beerdigung eingeflogen – leider vergebens: Die Feuersbrünste verhindern sein Vorhaben, bei der Trauerfeier eine Rede zu halten.

In dieser angespannten Atmosphäre beginnen sie, sich zum Zeitvertreib das neue Manuskript des Erzählers vorzulesen. „Gottesquartett“ ist es überschrieben, vier Texte, gerahmt durch drei weitere. Es sind – durchaus unerwartet – keine stringent erzählten Kurzgeschichten. Eher eine wilde Mischung aus autobiografischen Fetzen und Erzählsequenzen, aus Bibelmeditationen, theologischen Gedanken über das Lesen und die Sprache und tiefenpsychologisch-traumdeutenden Fragmenten. Ein breiter Strom, der bald am Tübinger Hölderlinturm vorbeirauscht, bald durch die Pariser Cinémathèque strömt, erfasst den Lesenden: Er hört mit Samuel die nächtliche Stimme; bangt mit Abraham, während der mit Gott um die Verschonung Sodoms feilscht; blickt sogar mit Saulus in das leere Grab Jesu.

Diese dichten, von Assoziation zu Assoziation gleitenden Erzählungen werden von kurzen Gesprächssequenzen auf der kalifornischen Terrasse unterbrochen. Die Gespräche der vier Freunde – ebenfalls eine Art Gottesquartett? – kreisen um das gerade Gehörte und unterbrechen den großen thematischen Hauptstrom. Sie stellen in ihrer Leichtigkeit ein Gegengewicht dar zu jenen Haupttexten, die allesamt um große, um die großen Themen kreisen: um Fremde und Heimkehr. Um Zerstörung und Erlösung. Um Liebe und Erinnerung, um Traum und Wirklichkeit. Und immer wieder um das Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem, das für den C. G.-Jung-Schüler Roth eine zentrale Deutungskategorie darstellt.

„Uff ...“, möchte man manchmal mit Vera, einer der vier Freunde auf der Terrasse, seufzen angesichts der Fülle der Verweise. Und doch ist es hochgradig anregend, sich auf diesen Strom einzulassen. Es packt einen während des Lesens geradezu die Lust, im biblischen Text selbst nachzuprüfen: Wie war das nochmal mit Abraham und den zehn Gerechten in Sodom? Was steht im 18. Kapitel der Offenbarung? Aber auch Fellinis „La dolce vita“ oder Chaplins „City lights“ möchte man nun schauen, um Roths Deutungen zu überprüfen. Nicht zuletzt: Was macht eigentlich Michelle Pfeiffer?

Roths neues Werk ist wegen seiner Vorliebe für Etymologien, griechische Vokabeln und jüdische Buchstabenmystik gerade auch für Theologen und Theologinnen ein Fest – LeserInnen ohne theologisches Examen mutet er manchmal vielleicht etwas zu viel zu. Und in mancher traumdeutenden Passage wächst dann wieder die Sehnsucht nach einer gewissen Nüchternheit, ja Sprödheit: Über wie viele archetypische Stöckchen muss der Lesende noch springen?

Trotzdem: Gottesquartett ist in seiner stilistischen und thematischen Fülle so faszinierend, dass man es, am Ende angelangt, sogleich noch einmal lesen und nach weiteren erhellenden Querverweisen abklopfen möchte.

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