Fünf nach zwölf

Entwicklungspolitik konkret

Gerd Müller ist seit 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ein Amt, das er mit hohem Engagement ausfüllt und in dem es ihm gelang, in der Öffentlichkeit immer wieder auf die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit hinzuweisen. Im September vergangenen Jahres kündigte er an, dass er sich nach dieser Legislaturperiode aus der Politik zurückziehen werde. Dass dies bedauerlich ist, zeigt auch die Lektüre seines Buches Umdenken, das er im Februar 2020 abschloss und in dem daher nur in wenigen Sätzen auf die Corona-Pandemie eingehen konnte. Dennoch lohnt es sich, dieses Buch zu lesen, gerade auch für diejenigen, die sich bislang weniger intensiv mit den Fragen der Entwicklungszusammenarbeit beschäftigt haben. Müller zeigt, wie alles mit allem zusammenhängt (Klimawandel, Bevölkerungsentwicklung, Welternährung, Welthandel und Migration), und zeigt Lösungsansätze, die er zum Teil auch politisch umgesetzt hat. Zum Beispiel das Siegel „Grüner Knopf“, das ökologische und soziale Standards in der Textilproduktion festlegt. Ein anderes Beispiel ist der „Marschallplan mit Afrika“, der für mehr Investitionen der Privatwirtschaft in dem Kontinent sorgen soll, den Müller als „Zukunftskontinent“ sieht. Oder die Stiftung „Allianz für Entwicklung und Klima“, die auf Klimaschutzprojekte zur freiwilligen Kompensation von Treibhausgasen in Entwicklungs- und Schwellenländern setzt.

Alle drei genannten Beispiele stehen in der Kritik auch von kirchlichen Entwicklungsexperten, denen solche Projekte zu sehr in der Logik der Marktwirtschaft und der freiwilligen Kooperation mit Unternehmen stehen. In der Tat ist grundsätzliche Wachstumskritik, wie sie etwa die Vertreter der Postwachstumsökonomie vertreten, Müllers Sache nicht und schon gar nicht eine klassisch linke Kapitalismuskritik. Immerhin ist der Mann CSU-Mitglied. Und grundsätzliche Kritiken dieser Art diskutiert er in dem Buch nicht. Nur an einer Stelle, beim Thema Kompensation für Treibhausgase, den Kritiker als „Ablasshandel“ bezeichnen, wird er deutlich: „Wäre es Ablasshandel, müsste man sagen: Schön wäre noch viel mehr Ablasshandel. Und schön wäre es, wenn die, die alles schlechtredeten, endlich ihr eigenes Geld in die Hand nähmen und es für aktiven Klimaschutz einsetzen würden.“

Dabei singt Müller keineswegs naiv das hohe Lied des freien Marktes. Der Satz „Hunger ist Mord, denn wir könnten dieses Schicksal abwenden“ ist in seiner Klarheit beeindruckend. Müller verweist darauf, dass der Wohlstand in Deutschland und Europa auch auf „der Ausbeutung von Mensch und Natur in den Entwicklungsländern aufbaut“, dass zwanzig Prozent der Weltbevölkerung heute über sechzig Prozent des Vermögens verfügten, die Hälfte aller Ressourcen verbrauchen und für die Hälfte aller Umweltbelastungen verantwortlich sind. Ein „Weiter so“ sei nicht mehr möglich. „Tragen wir nicht zur Problemlösung in anderen Regionen der Welt bei, werden die Probleme zu uns kommen.“ Muss man erst mit solchen Sätzen, die auch auf die zunehmende Migration nach Europa anspielen, drohen, damit wir uns für die Entwicklungsländer interessieren?

Vielleicht, pragmatisch ist es zumindest. Und es geht Müller um praktische Lösungen, denn die Zeit drängt. Mehrmals verweist er drauf, dass es schon „fünf nach zwölf“ sei, „wir also in jedem Fall einen Preis zahlen werden.“ Aber weil das Leben weitergehe, sei „es eben auch nicht zu spät, jetzt umzusteuern“. Also, was ist zu tun? „Lassen sich industrielles Wirtschaftswachstum und CO2-Emissionen entkoppeln?“, fragt Müller mit Blick auf den Klimaschutz und hat dabei gerade auch Afrika im Blick. „Afrika muss der grüne Kontinent der erneuerbaren Energien und nicht der schwarze Kontinent der Kohle werden“, fordert er. Denn neben vielen anderen Rohstoffen hat Afrika Fläche und Sonneneinstrahlung genug, um zum Beispiel eine umweltfreundliche Wasserstoffproduktion aufzubauen, die dann auch die Industrieländer beliefert.

Zwar ist dies keine ganz neue Idee und bislang sind kaum entsprechende Projekte realisiert. Aber vielleicht verhilft der Druck des Klimawandels tatsächlich zum Umbau der Wirtschaft in Nord und Süd. Beim Thema Hunger sieht Müller die Lösung einerseits in einer massiven Produktivitätssteigerung durch verbessertes Saatgut (auch ohne Gentechnik möglich), Kühlketten, Schulung der Landwirte. Doch auch die Klärung der Eigentumsverhältnisse, faire Preise und eine geringere Fleischproduktion seien nötig, um den Hunger zu stoppen.

Das Buch ist leicht zu lesen und macht durch die vielen persönlichen Schilderungen von den Erlebnissen und Begegnungen des Ministers die komplexe Lage an Beispielen konkret. Für Fachleute enthält das Buch wenig Neues. Aber es öffnet all denen die Augen, die lernen müssen, dass es nur eine Welt gibt, die gemeinsam die globalen Herausforderungen meistern muss.

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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