Kirche und Suizidhilfe: Ein Verstehens-Versuch
Förmlich explodiert mit ihrer Kritik sind vor einigen Tagen die beiden Systematik- und Ethikprofessoren Ralf Frisch und Günter Thomas in ihrer strikten Ablehnung des in diesen Tagen vieldiskutierten FAZ-Artikels des Trios Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie. Michael Coors, Professor am Institut für Sozialethik der Universität Zürich, hat dagegen eine etwas wohlwollendere Lesart des Beitrags.
„Das Bessere dem weniger Guten vorzuziehen,
weil das ‚absolute Gute’ gerade das Böse um so mehr
hervorrufen kann, ist die oft notwendige Selbstbescheidung
des verantwortlich Handelnden.»
(D. Bonhoeffer, Ethik, DBW 6, S. 221)
Ein Artikel in der F.A.Z. vom 11. Januar hat für viel Aufsehen gesorgt. Der Münchner theologische Ethiker Reiner Anselm (zugleich Vorsitzender der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD), die Bochumer Praktische Theologin Isolde Karle (Professorin für Praktische Theologie in Bochum) und Diakoniepräsident Ulrich Lilie sprechen sich darin dafür aus, dass Suizidhilfe in kirchlichen Einrichtungen nicht nur zuzulassen sei, sondern unter der Bedingung einer intensiven Beratung und Begleitung auch durch die Einrichtungen angeboten werden soll. So haben die meisten den Artikel verstanden, und so verstand ihn auch ich. Ziel sei dabei, so die Autor:innen, sicherzustellen, dass nur diejenigen Menschen Suizidhilfe in Anspruch nehmen, die das auch wirklich wollen: Es gehe um den Schutz der immer auch fragilen Autonomie der betroffenen Personen.
Solch eine Position wäre brisant, weil sie im klaren Gegensatz zur offiziellen Position der EKD stünde – es würde sich, wie Günter Thomas in seiner Replik auf zeitzeichen.net formuliert, um „friendly fire“ handeln. Warum? Auch wenn es natürlich kein kirchliches Lehramt in der EKD gibt, so wurde doch in der 2008 publizierten Orientierungshilfe Wenn Menschen sterben wollen ein relativ breiter Konsens evangelischer Theologie formuliert. Darin wurde festgelegt: Auch wenn Suizidhilfe sich in Einzelfällen der Beurteilung entzieht, ist eine organisierte, geschäftsmäßige Förderung der Suizidhilfe abzulehnen. Denn diese würde, so das Argument, zu einer Normalisierung dessen führen, was nach christlichem Verständnis die Ausnahme bleiben sollte. Begründen lässt sich das damit, dass aus dem Glauben an das menschliche Leben als Gabe Gottes eine grundsätzliche Pflicht zum Schutz jedes menschlichen Lebens folgt – und zwar unabhängig davon, wie einzelne Menschen ihr Leben gerade bewerten – aber eben in gleicher Weise eine Pflicht zum Respekt vor der selbstbestimmten Lebensführung eines jeden Menschen.
Diese beiden Verpflichtungen des Lebensschutzes und des Respektes vor der Selbstbestimmung kollidieren nun aber auf nicht aufzulösende Weise, wenn ein Mensch um Hilfe bei der Selbsttötung gebeten wird. Das ist ein Dilemma, das abstrakt nicht aufzulösen ist. Weil aber organisierte Angebote eine eigene Sogwirkung entfalten können, durch die dieses Dilemma faktisch immer schon in eine Richtung aufgelöst wird, forderte die EKD damals das Verbot von Suizidhilfe-Organisationen. Eine Position, die sie seitdem immer wieder öffentlich vertreten hat.
Das Urteil lässt keinen Spielraum
Den Artikel in der F.A.Z. sahen die meisten klar gegen diese Position der EKD gerichtet: Hier wird gefordert, die Kirche und ihre Diakonie sollen selbst zum Akteur der geschäftsmäßigen Suizidhilfe werden. Dann wurde ich aber darauf aufmerksam gemacht: Man kann den Artikel auch anders lesen. In dieser Lesart wurde er nicht geschrieben, um Werbung dafür zu machen, dass die Kirche zum Akteur der Suizidhilfe wird, sondern weil kirchliche und diakonische Einrichtung ja nicht drumherum kommen werden, sich damit auseinanderzusetzen, dass auch Menschen in ihren Einrichtungen Suizidhilfe in Anspruch nehmen wollen. Denn das Urteil des BVerfG lässt da keinen Spielraum, wie auch immer eine zukünftige rechtliche Regelung (vermutlich in der nächsten Legislaturperiode) aussehen wird.
Liest man diesen Beitrag mit ein bisschen Gutwilligkeit und Dialogbereitschaft, dann geht es den drei Autor:innen darum, zu betonen, dass Kirche Suizidhilfe nur unter bestimmten Bedingungen überhaupt in ihren Einrichtungen zulassen solle – nämlich, wenn es einen gründlichen Beratungsprozess gegeben hat und wenn Angebote seelsorglicher Begleitung bestehen. Auf diese Problemstellung aber wird man sich nolens volens in der Diakonie einstellen müssen: Die freie Verabredung zweier Personen über die Hilfe zur Selbsttötung kann zumindest durch den Staat nicht mehr verboten werden. Ob stationäre Einrichtungen ein solches Verbot im Rahmen ihres Hausrechtes trotzdem aussprechen können, weil es ja keinen Rechtsanspruch auf ein Angebot der Suizidhilfe gibt, ist eine andere Frage und könnte im Kontext einer rechtlichen Regelung der Suizidhilfe Thema werden. Aber gerade angesichts dessen gilt: Ja, diese Diskussion muss Kirche unbedingt führen. Wie sollen Kirche und Diakonie mit Menschen umgehen, die in ihren Einrichtungen, oder ambulant von ihnen betreut, sich um Hilfe zur Selbsttötung bemühen? Sollen sie, so wie im Raum der Caritas und der katholischen Kirche, Suizidbeihilfe in ihren Einrichtungen strikt untersagen und dieses strikte Untersagen zum Markenzeichen der Diakonie machen, oder gibt es andere Wege?
Alles also nur ein Missverständnis? So einfach ist es nicht, denn an zentraler Stelle ist im F.A.Z.-Artikel die Rede davon, dass Kirche in ihren Einrichtungen Suizidhilfe anbietet. Zugleich fällt auf, dass der Text an dieser entscheidenden Stelle unklar ist. Da heißt es: „… erscheint es in der hier dargestellten Perspektive möglich, auch die […] abgesicherten Möglichkeiten eines assistierten Suizids in den eigenen Häusern anzubieten oder zumindest zuzulassen und zu begleiten.“ (Hervorhebung M.C.) Hier werden zwei Alternativen formuliert zwischen denen ein erheblicher Unterschied besteht: Bietet die Kirche assistierten Suizid an, wird sie selbst zu einem Anbieter geschäftsmäßiger Suizidhilfe. Das wäre ein klarer Bruch mit der bisherigen Linie der EKD. Geht es aber darum, Suizidhilfe durch andere in Einrichtungen der Kirche und der Diakonie zuzulassen und dafür Bedingungen zu formulieren, dann könnte man das durchaus als Fortführung des Anliegens der Position der EKD in einer neuen Situation verstehen: Wie kann Lebensschutz noch realisiert werden unter der Bedingung, dass jeder Mensch in Deutschland das Recht auf Hilfe bei der Selbsttötung hat? Denn auch wenn das kein Anspruchsrecht ist, können Einrichtungen der Kirche den durch sie betreuten Menschen nicht verbieten, Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch zu nehmen: Die Frage ist dann nur, wo und unter welchen Bedingungen sie das tun werden.
„Kommunikatives Desaster“
Zum Missverstehen des mutmaßlichen Anliegens der Autor:innen trägt bei, dass beide Möglichkeiten – Anbieten und Zulassen/Begleiten – hier in einem Satz abgehandelt und sonst nicht weiter unterschieden werden. Dass Ulrich Lilie in seinem erklärenden Blogbeitrag vom 15. Januar dann vom „Begleiten“ der Menschen beim Suizid spricht, macht es auch nicht besser: Denn der Begriff „Begleiten“ kann vom bloßen Dabeisein bis hin zum Unterstützen der Suizidhandlung alles bezeichnen. Nicht förderlich für ein Verständnis des F.A.Z.-Textes ist sicher auch, dass er sich fast ausschließlich darauf fokussiert, das Recht auf Selbstbestimmung theologisch zu diskutieren, aber die Schutzpflichten, die durchaus erwähnt werden, nicht unabhängig vom Selbstbestimmungsrecht theologisch begründet. Aufgrund dieser Unschärfen – das muss ich leider so deutlich sagen – halte ich den Text für ein kommunikatives Desaster, weil er die Gefahr birgt, die ohnehin schwierige Debatte innerhalb der Evangelischen Kirche weiter zu polarisieren. Die Texte von Christian Geyer tags drauf in der F.A.Z. und auch der zeitzeichen-Text von Günter Thomas und wenige Tage zuvor von Ralf Frisch sind dafür ein Beleg! Und überhaupt: Dass führende Köpfe der EKD die Diskussion über dieses heikle Thema im Feuilleton der deutschen Zeitung führen statt vertrauensvoll in den zuständigen Gremien, spricht nicht gerade für den aktuellen Zustand der Diskussionskultur in der EKD. Anderes Thema …
Aber die Sache ist zu ernst, um sich mit solchen Stilfragen zu beschäftigen, es ist nur lästig, dass sie ein unaufgeregtes, substanzvolles Gespräch über das künftige Selbstverständnis von evangelischer Kirche und ihrer Diakonie in Deutschland zu hemmen drohen. Dieses Gespräch muss sich zwischen folgenden drei Positionen entscheiden:
Erstens: Die Diakonie kann sich auf den Standpunkt stellen, dass Suizidhilfe in ihren Einrichtungen nicht zulässig ist. Das heißt, man würde sich darauf konzentrieren, Menschen auch in schweren Leidenssituationen Wege zum Leben aufzuzeigen und ihnen eine gute hospizliche und palliative Versorgung anzubieten. Wenn ein:e Bewohner:in dennoch am Wunsch nach Suizidhilfe festhält, bleibt nur die Option, getrennte Wege zu gehen (unter Umständen sogar den Heimvertrag zu kündigen). Ob und wie lange das noch rechtlich möglich sein wird, ist derzeit unklar, aber da im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes klar formuliert ist, dass es kein Anspruchsrecht auf Suizidhilfe gibt, wird dieser Spielraum wohl bestehen bleiben.
Zweitens: Die Diakonie könnte Suizidhilfe durch andere Akteure in ihren Einrichtungen zulassen, aber Bedingungen sowohl an die Qualität der Suizidhilfe als auch an die Beratung und die Option seelsorglicher Begleitung stellen, um so sicherzustellen, dass die Suizidhilfe wirklich nur als ultima ratio zum Einsatz kommt.
Drittens: Die Diakonie könnte selbst in ihren Einrichtungen Suizidhilfe zu ihren eigenen Bedingungen anbieten und durchführen. Damit allerdings müsste die EKD in der Tat ihre 2008 formulierte theologische Position aufgeben.
„EKD-Position theologisch gut begründet“
Da ich die bisherige Position der EKD für theologisch gut begründet halte, scheinen mir ernsthaft diskutabel nur die ersten beiden Optionen. Peter Dabrock hat in seinem Artikel in zeitzeichen m.E. zu Recht darauf hingewiesen, dass auch der erste Weg Ausdruck einer Kultur des selbstbestimmten Sterbens ist. Es wäre fatal, diesen Begriff allein den Verfechtern der Suizidhilfe zu überlassen. Ob die zweite Option eine sinnvolle Alternative darstellt, hängt aber von Fragen ab, die bisher noch gar nicht angeschnitten wurden und die sehr praktische Dimensionen der allgemeinen Pflege- und Organisationsethik im Gesundheitswesen betreffen. Diese wären mit den entsprechenden Expert:innen auf den Gebieten der Pflegewissenschaft und Theologie zu diskutieren.
Angesichts der erheblichen systemischen Probleme in der stationären und ambulanten Pflege habe ich nach wie vor erhebliche Bedenken, dort unter den aktuellen Bedingungen geschäftsmäßige Suizidhilfe zuzulassen. Die Ökonomisierung der Pflege und die Personalknappheit machen auch vor den diakonischen Pflegediensten und - einrichtungen nicht Halt und bringen Zwänge mit sich, die jetzt schon Anlass sind für zahlreiche moralische Konflikte. Schon die Umsetzung des rechtlichen Anspruchs auf Therapiebegrenzung und Versuche, Beratungsstrukturen für die Vorausplanung von Therapiebegrenzungsentscheidungen (sogenanntes Advance Care Planning) zu implementieren, stellen angesichts dieser organisationalen und systemischen Defizite vor erhebliche Herausforderungen. Welche Relevanz hat die Wirklichkeit dieser Defizite für ein Zulassen von Suizidhilfe in stationären Pflegeeinrichtungen? Ich formuliere es bewusst als offene Frage: Man müsste das mit Fachleuten aus dem Bereich der Pflege durchsprechen. Analoge Fragen stellen sich für die ambulante pflegerische Versorgung wie auch für den Krankenhaussektor.
Diese Diskussion hat dann allerdings einen völlig anderen Charakter als eine Diskussion darüber, ob die EKD ihre theologisch begründete Ablehnung der geschäftsmäßigen Förderung der Suizidhilfe aufgeben soll. Es geht dann um eine Diskussion darüber, wie diese Haltung unter den Bedingungen einer neuen, im Detail noch unklaren Rechtssituation praktisch umgesetzt werden kann.
Wenn es um diese Frage geht, dann ist für mich klar: Ja, diese Diskussion müssen wir führen – aber bitte nicht in den oft luftigen Höhen theologischer Reflexion, sondern in engem Austausch mit Pflegewissenschaften und Pflegepraxis. Und – diesen Hinweis erlaubt sich der Autor als Inhaber eines theologischen Lehrstuhls in der Schweiz – es könnte sich lohnen, mit den Partnerkirchen in den Nachbarländern in einen Austausch zu treten, die diese Situation schon länger kennen.
Michael Coors
Michael Coors (*1976) ist außerordentlicher Professor für theologische Ethik, Leiter des Instituts für Sozialethik und des interdisziplinären Ethik-Zentrums der Universität Zürich. Ethische Fragen am Lebensende bilden seit über 10 Jahren einen Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit.