Mich fröstelt

Erste Eindrücke zu einem theologischen Plädoyer für die Ermöglichung des assistierten professionellen Suizids

Soeben habe ich Reiner Anselms, Isolde Karles und Ulrich Lilies Plädoyer für die kirchliche und diakonische Begleitung assistierter Suizide als Element einer erweiterten, der Selbstbestimmung des Individuums an dessen Lebensende dienenden kirchlichen und diakonischen Kasualpraxis zu Ende gelesen. Der Text wurde am Montag, 11. Januar 2021 auf Seite 6 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Sie kennen ihn nicht? Bitte sehr, hier können Sie ihn online lesen, zeitzeichen sei Dank, die zu diesem Zwecke die Nutzungsrechte erworben haben! Selten war ich stärker hin- und hergerissen, anfänglich angezogen und schlussendlich und je länger je mehr doch einigermaßen schockiert von einem ethisch-theologischen Text!

Viele Sätze sprechen mir aus der Seele.

Ja, es ist unwürdig, wenn Lebensmüde mangels Zugangsmöglichkeiten zu weniger qualvollen Weisen der Selbsttötung sich vor Züge werfen oder erhängen, um in ihrer Not den letzten Ausweg zu wählen.

Ja, es ist gut, wenn Menschen, die ihres Lebens überdrüssig sind, wissen, dass sie im Notfall legitimerweise und gesellschaftlich und kirchlich akzeptiert Orte aufsuchen können, an denen sie ihr Leben schmerzfrei beenden können. Denn dieses Wissen, das die Schwelle zur Selbsttötung ja vielleicht nicht etwa niedriger macht, sondern gerade erhöht, könnte sie ja auch davon frei machen, diese Orte tatsächlich aufsuchen zu müssen.

Ja, die Seelsorge muss ein Raum sein, in dem Menschen sich einem anderen Menschen ohne die Angst vor kategorischer Ablehnung ihres Sterbewunsches anvertrauen können! Ja, der assistierte Sui­zid darf nicht zur gesellschaftlich erwarteten und geschäftsmäßig betriebenen Gestalt des Ablebens von Menschen führen, die im Falle ihres Weiterlebens das Gesundheits- und Pflegesystem sowie ihre Angehörigen „nutzlos“ ökonomisch und emotional belasten!

Ja, aus dem Traum selbstbestimmten Sterbens darf nicht durch die Hintertür der Albtraum einer Fremdbestimmung durch eine Gesellschaft einziehen, in der sich rechtfertigen muss, wer nicht sterben will, obwohl es für ihn längst an der Zeit wäre!

Ja, es soll keine Kultur entstehen, in der Menschen mehr oder weniger stillschweigend unter den Druck gesetzt werden, anderen Menschen bei der Selbsttötung zu assistieren!

Ja, eine christliche Ethik, die sich als Anwältin der Autonomie und der Menschenwürde der Schwächsten und Gefährdetsten versteht, tut nicht gut daran, den Hilflosesten und Ausgeliefertsten den letzten Rest freier Willensäußerung angesichts ihrer unweigerlichen Zerstörung durch den bereits in ihnen sein Unwesen treibenden Tod aus den Händen zu schlagen!

Ja, auch ein verzweifeltes und ohnmächtiges suizidales Aufbäumen gegen die Vernichtung kann ein letzter Akt gottebenbildlicher Würde und Freiheit eines Christenmenschen sein!

Und ja, jeder kirchliche, diakonische und ärztliche Versuch, im Nachgang des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Paragraphen 217 des Strafgesetzbuchs den assistierten Suizid der geschäftsmäßigen Erfüllung des Sterbe­wunsches Verzwei­felter in eine geschützte und vertrauensvolle, von Instrumentalisierung und Profit möglichst freie Sphäre hinein zu entreißen, lohnt die seelsorgerliche und die ärztliche Mühe!

"Selbstbestimmung" statt "Gott"

Und doch beschleicht mich auch jetzt, nach wiederholter Lektüre des Artikels, inmitten aller Zustimmung ein großes, gleichwohl gar nicht so leicht erklärbares Unbehagen. Irgendwie fröstelt mich sogar, was gewiss nicht nur am Schnee liegt, welcher derzeit bei eisigen Temperaturen in dichten Flocken vor meinem Fenster vom Himmel fällt.

Ich lese den Text wieder und wieder. Die Worte „Selbstbestimmung“ und „selbstbestimmt“ kommen darin mehr als zwanzigmal vor. Wie oft von „Freiverantwortlichkeit“ und „höchstpersönlichen Entscheidungen“ am Lebensende die Rede ist, habe ich nicht gezählt. Was ich aber registriere: dass das Wort „Gott“ in dieser in ihrer öffentlichen Wirkung nicht zu unterschätzenden Verlautbarung theologischer Ethik ganze drei Mal auftaucht. Ganz offenkundig ist das letzte und entscheidende Wort, das mir in diesem Artikel dreier gravierender theologischer Persönlichkeiten des deutschen Protestantismus begegnet und zugesagt wird, das Wort von der Selbstbestimmung des Menschen. Der christliche Glaube, so entnehme ich dem Text, stärkt Menschen bei ihrer Selbstbestimmung angesichts des unvermeidlichen Todes, der uns alle früher oder später ereilt.

Auf den ersten Blick betrachtet ist dieses Lob der Selbstbestimmung ehrenwert, weil es das verbreitete aufgeklärte und atheistische Vorurteil zu entkräften vermag, Glaube sei letztlich unhinterfragte Fremdbestimmung und zutiefst vormodern, weil er mit dem von Immanuel Kant geforderten Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht das Geringste zu tun hat. Auf den zweiten Blick macht mich das gebetsmühlenartige Insistieren auf der Selbstbestimmung des Menschen an dessen Lebensende als gewissermaßen letztverbliebener heiliger Kuh der christlichen Ethik – vorsichtig gesagt – traurig. Entlarvt hier eine bestimmte theologische Erscheinungsform des Protestantismus, die betont, dass es Linken wie Liberalen, Konservativen wie Progressiven im Raum von Kirche und Diakonie letztlich nur um das Eine und um dasselbe, nämlich um die Autonomie und die Würde des Menschen geht, wes Geistes Kind dieser Protestantismus in seinem tiefsten Herzen ist – nämlich Kind eines religiös reformulierten Humanismus, für den der Mensch das höchste Wesen und der Tod die letzte Wirklichkeit ist?

Gewiss: Es ist in der Tat zutiefst human, kontrafaktisch auch noch im psychischen und physischen Untergang am eigenen Willen, an der eigenen Würde und an der eigenen Freiheit festzuhalten. Aber ist das alles, was Kirche und Diakonie angesichts des Suizidwunsches Verzweifelter zu sagen und zu geben haben? Würde ich, wenn ich ein sterbewilliger, gleichwohl nicht sonderlich kirchlicher Christ wäre, mich wirklich der Kirche als Beratungsinstitution in Suizidfragen anvertrauen, wenn ich das Gefühl hätte, dort würde mir letztlich nichts Anderes gesagt, als was mir auch psychologisch geschultes Personal geschäftsmäßig agierender Suizidassistenzunternehmen sagen könnte: dass ich mich nämlich frei und selbstbestimmt für die Art und Weise und den Augenblick meines Sterbens entscheiden kann, solange ich noch bewusst entscheiden kann?

Würde ich nicht vielmehr etwas ganz Anderes hören wollen, nämlich vielleicht doch den womöglich etwas kitschigen, aber gleichwohl wahren Satz, dass mein Leben in Gottes Hand steht und ich also weder in den Tiefen noch auf den Höhen meines Lebens die letzte und einzige Instanz dieses Lebens bin? Wäre es mir im geschützten Raum von Kirche und Diakonie nicht wohler, die Gewissheit zugesprochen zu bekommen, dass Christus mein Heiland ist und ich daher nicht das Heil im Suizid suchen muss? Und würde mein Vertrauen in die Kirche und ihre Diakonie nicht fundamental zerstört, wenn mich das Gefühl beschliche, sie habe sich nicht mit dem göttlichen Leben, sondern mit dem Tod verbündet?

Ist es nicht vielleicht – mit Verlaub – sogar höchst heimtückisch, wenn die Verfasser und die Verfasserin des FAZ-Artikels Kapital aus dem Faible und der Ansprechbarkeit des modernen Menschen auf seine Autonomie schlagen und Sterbewilligen suggerieren wollen: „Kommt her zu uns, die ihr mühselig und beladen seid! Wir erquicken euch im Raum von Kirche und Diakonie mit der seelsorgerlichen Begleitung beim assistierten Suizid! Denn wir sind die wahren Hüter und Hirten der Selbstbestimmung des Menschen. Geborgener selbstbestimmt und schöner als bei uns könnt ihr nirgendwo sterben! Während die böse Welt nur Kapital aus eurem Exit-Wunsch schlagen will, seid ihr bei uns gut und sicher aufgehoben! Wir machen den Weg in die Freiheit des Nicht-mehr-Seins frei!“ Nicht auszudenken, wenn dafür eines Tages tatsächlich kirchliche und diakonische Werbebroschüren ersonnen würden!

Theologisch pikant und putzig

Ich könnte mir vorstellen, dass Dietrich Bonhoeffer den Geist, der aus dem Artikel von Reiner Anselm, Isolde Karles und Ulrich Lilies spricht, als unredlich und unverschämt pfäffisch diskreditiert hätte. Denn gerade in ihrem Ansinnen, die säkulare Moderne ganz ernstzunehmen, machen die Autoren des Artikels die zur Selbstbestimmung verklärte Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit des modernen Menschen im Angesicht seines Todes zum „Jagdgebiet der modernen Seelsorger“ (Bonhoeffer), ohne dass im Text auch nur ein Wort davon zu lesen wäre, welche christliche Botschaft diese Seelsorger über den Respekt vor der Selbstbestimmung der selbsttätig Sterbenwollenden hinaus diesen Sterbewollenden sagen könnten.

Es mutet mich theologisch pikant und putzig zugleich an, dass drei derart kluge evangelische Theologen ernsthaft mit dem Gedanken spielen, die Kirche und ihre Gemeindepfarrer könnten gesellschaftlichen Einfluss offenbar just dadurch zurückgewinnen, dass man sie in einem säkularen Zeitalter als diejenigen ernstnimmt, bei denen das eigene Sterbenwollen in den einzig guten Händen ist. Wie grotesk und gespenstisch, dass die evangelische Kirche bei der Suche nach einem neuen Alleinstellungsmerkmal gerade beim schönen Sterben landet und die Vorstellung hegt, der lebensmüde säkulare Mensch werde wenigstens an seinem Ende wieder in die Arme der Kirche fliehen, die er um seinen Segen bittet, ehe er selbstbestimmt aus dem Leben scheidet!

Ich hoffe, dass Reiner Anselms, Isolde Karles und Ulrich Lilies Plädoyer vielleicht doch nicht ganz zu Ende gedacht ist. Denn wäre es in der vorliegenden Form tatsächlich zu Ende gedacht, würde mich noch mehr frösteln.Befördern die Autoren nicht genau jene gesellschaftliche Entwicklung der Normierung und Normalisierung des assistierten Suizids im Falle aussichtsloser Krankheitsverläufe, der sie offenbar gerade nicht das Wort reden wollen? Sind sie wirklich so naiv zu glauben, dass sich eine christliche Suizidkultur reiner und aufrichtiger, von Unnützlichkeits- und Instrumentalisierungsmotivationen und Lebensunwertsunterstellungen freier „Freiverantwortlichkeit“ etablieren lässt? Und überhaupt: warum sollte nicht auch jener, der nicht mehr im Besitz seiner geistigen Kräfte und seiner psychischen Gesundheit ist, also nicht selbstbestimmt handelt, das Recht haben, kirchlich-diakonische Assistenz und Beratung zur Beendigung seines Lebens zu wünschen? Gibt es so etwas wie Selbstbestimmung zum Suizid überhaupt oder ist sie eine theoretische Konstruktion? Nie jedenfalls, wenn ich selbst in die Nähe von Zuständen der Lebensmüdigkeit kam – und sei es aus unglücklicher adoleszenter Verliebtheit heraus –, hatte ich das Gefühl, mein Wunsch, meinem Leben ein Ende zu setzen, entspränge wirklich einem Zustand, der mehr wäre als eine formale, also höchst reduktive Selbstbestimmung. Ich fürchte, dass die von Anselm, Karle und Lilie nahezu religiös verehrte Selbstbestimmung ihren Namen letztlich nicht verdient, weil jedes Sterbenwollen letztlich heftigster Getriebenheit und Hilflosigkeit, also ohnmächtigster und verzweifeltster Fremdbestimmung entspringt. Und ich frage mich daher, wie viele „legitime“, echter Selbstbestimmung entspringende Suizidanliegen am Ende noch übrig bleiben, wenn man alle nicht freiverantwortlichen Existenzsituationen abzieht? Wahrscheinlich kein einziges. Und wer wollte sich im Übrigen hybriderweise anmaßen, das zu beurteilen?

Selbsttötung als Kasualie?

Könnte es – fromm gesprochen – nicht vielleicht doch sein, dass das Wesen des christlichen Glaubens und der christlichen Kirche und ihrer Dia­konie nicht nur von außen, sondern auch von innen heraus ausgehöhlt wird, wenn die Kirche zum Ort wird, an dem der assistierte Suizid als konstitutives Element einer erweiterten evangelischen Kasualpraxis, also gewissermaßen als neue Kasualie gepflegt und der Mensch und sein selbstbestimmter Tod als letzte Wirklichkeiten verkündigt werden?

Warum um Himmels willen ziehen Anselm, Karle und Lilie am Ende ihres Textes nicht einfach die Konsequenz eines Plädoyers für die Rechtslage vor dem einschlägigen Verfassungsgerichtsurteil? Gewiss, die Zahnpasta ist sozusagen aus der Tube und das Urteil gesprochen. Aber was nötigt die Autoren dazu, noch weiter zu gehen, aus der Not eines Urteils, dessen Problematik sie ja implizit und explizit in ihrem Text durchschauen, wo sie für sorgfältige Grenzziehungen und Missbrauchsvermeidungen optieren, eine kirchlich-diakonische Tugend zu machen und zu schlussfolgern, Kirche und Diakonie müssten formal und ausdrücklich zu geschützten Räumen der Suizidberatung und Suizidbeihilfe werden?

Ich hätte weit größeren Respekt vor diesem Artikel, wenn er eine Lanze für die rechtliche Grauzone von umsichtig bedachten und begleiteten Einzelfällen des assistierten Suizids im Raum seelsorgerlicher, ärztlicher und psychologischer Vertrauensbeziehungen brechen würde, die es ja zweifellos gibt und die dank der ärztlichen Schweigepflicht und dank des Seelsorgegeheimnisses glücklicherweise gut geschützt sind. Sobald jedoch der assistierte Suizid wie von den Autoren und der Autorin gewünscht gewissermaßen gesellschaftlich, kirchlich und diakonisch institutionalisiert und organisierbar wird, droht, so fürchte ich in der Tat im Sinne der Metapher vom Dammbruch oder der abschüssigen Bahn, aus einer seelsorgerlich verantwortungsvoll begleiteten Ausnahme eine Regel und vielleicht sogar eine irgendwann nicht mehr hinterfragte und missbräuchliche Norm zu werden.

Mich fröstelt. Und kurz vor dem Ende der Verfertigung meines Textes fällt mir nun doch wie Schuppen von den Augen, was wohl wirklich der Grund dafür ist, dass mir der in diesen kalten und dunklen Januartagen des Jahres 2021 publizierte FAZ-Artikel eine Gänsehaut macht. Es sind nicht nur seine theologischen Implikationen. Es ist die Tatsache, dass dieser Artikel auf dem Höhepunkt der Corona-Krise als öffentliches Wort dreier namhafter Theologen das Licht der Welt erblickt.Im Laufe des vergangenen Corona-Jahres ist oft beklagt worden, dass die evangelische Kirche in ihren öffentlichen Verlautbarungen geistlich merkwürdig sprachlos geblieben sei und letztlich nichts Anderes gesagt habe als das, was man auch von der Bundeskanzlerin, dem Bundespräsidenten und den Ministerpräsidenten der Bundesländer hören konnte. Jetzt setzen drei Protagonisten dieser Kirche gleichsam noch einen drauf und eröffnen – gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst, vorsätzlich oder arglos – in einer Zeit tiefer gesellschaftlicher und persönlicher Orientierungslosigkeit, transzendentaler Obdachlosigkeit und Immanzenzverzweiflung vieler Menschen, die mürbe, gepeinigt, krank und in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Existenz gefährdet sind und weder ein noch aus wissen, den theologisch abgesegneten Ausweg der assistierten Selbsttötung im Raum der Suizidagentur Kirche. Und genau das ist trostlos und zynisch, auch wenn es zweifellos das Gegenteil im Sinn hat.

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Foto: Johannes Minkus

Ralf Frisch

Ralf Frisch, Jahrgang 1968, ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.


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