Sichtbare Risse

Radikalisierte Evangelikale

Der amerikanische Religionssoziologe Philip Gorski, der an der Universität Yale lehrt, ist nicht nur in seinem Fach beschlagen, sondern auch historisch, politologisch und theologisch. Das spiegelt sich in diesem Buch und könnte diejenigen abschrecken, deren Interesse sich auf die USA beschränkt. Denn im ersten Kapitel, auf 48 Seiten, entfaltet Gorski die Entwicklung der Demokratie von den griechischen Stadtstaaten bis heute.

Das strapaziert die Geduld der Lesenden, aber dafür winkt ein Erkenntnisgewinn, der über ein Verständnis der USA hinausreicht. Das gilt auch für das zweite Kapitel, das das Verhältnis des Christentums zur Demokratie entfaltet. Gorski zeigt, dass sich im Alten und Neuen Testament und in den Traditionen der Kirchen sowohl herrschaftskritische als auch autoritäre Züge finden. Originell ist seine These, dass der Kirchenvater Augustin, der die Reformatoren stark beeinflusste, eine „Art politischer Theologie“ entwickelt habe, die „leichter mit der liberalen Demokratie zu vereinbaren ist“ als andere theologische Entwürfe.

Ab Kapitel drei schildert Gorski, wie weiße US-Evangelikale, Protestanten, die sich als „wiedergeborene Christen“ verstehen, sich mit der Republikanischen Partei in eine Babylonische Gefangenschaft begeben haben. Unter Evangelikalen hätten sich die apokalyptische Weltanschauung verstärkt und die Auseinandersetzung mit politisch Andersdenkenden in einen „Krieg zwischen den Kräften von Gut und Böse verwandelt“. Hinzu kommen Veränderungen der kirchlichen Landschaft. Die US-Kirchen gelten als „Schulen der Demokratie“: Die Mitglieder wählen den Kirchengemeinderat und oft auch die Ortsgeistlichen. Und auf der regionalen und nationalen Ebene entscheiden gewählte Synoden. Aber unter Evangelikalen gibt es seit den 1970er-Jahren einen Trend zu Megakirchen, die keiner klassischen Konfession oder Denomination angehören. Ihre Besucher scharen sich um einen charismatischen Prediger, der bei „allen wichtigen Entscheidungen das letzte Wort hat“. Und verkündigt wird oft ein Jesus, der „CEO“, Generaldirektor eines erfolgreichen Start-up-Unternehmens war und kein Kritiker des Mammon.

Wie sehr sich Evangelikale radikalisiert haben, verdeutlicht Gorski am berühmten Evangelisten Billy Graham (1918–2018) und seinem Sohn. „Obwohl er politisch nach rechts neigte“, habe der Vater „Präsidenten beider Parteien“ als „spiritueller Berater“ gedient. Sohn Franklin gehörte dagegen zu „Trumps frühesten und streitlustigsten evangelikalen Anhängern“.

Das Wachstum der Evangelikalen endete in den 1990er-Jahren. Und sie erlitten Niederlagen wie die Legalisierung von Abtreibungen und die Ehe für alle. Nun fühlen sie sich als „die am meisten verfolgte Gruppe in Amerika“ und meinen, „einen rücksichtslosen Beschützer“ wie Donald Trump zu brauchen. Ihn und „seine eifrigsten evangelikalen Unterstützer“ verbinde ein weißer Nationalismus, für den Nichtweiße wie Barack Obama keine richtigen Amerikaner sind. Und so stellt Gorski fest, dass diese Evangelikalen „mehr nationalistisch als christlich gesinnt“ sind.

Doch wie geht es weiter? Der Religionssoziologe beobachtet „Risse“ zwischen weißen und schwarzen, älteren und jüngeren Evangelikalen. Er hält es für möglich, dass sich Letztere zurückziehen, weil sie – anders als die Älteren – gegen Klimawandel und Rassismus kämpfen, statt gegen die Ehe für alle.

So empfehlenswert dieses Buch ist, so ärgerlich ist, dass das Lektorat Übersetzungsfehler stehen ließ. So dürfte die Tautologie „evangelische Protestanten“ (Seite 95) darauf zurückzuführen sein, dass evangelical mit „evangelisch“ übersetzt wurde und nicht mit „evangelikal“ wie an anderen Stellen des Buches.

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