Verlässliche Pflege
Fast alle Menschen kommen irgendwann in Berührung mit der fragilen Lebenssituation in der Pflege – sei es als Angehörige oder als Pflegebedürftige. Das löst bei vielen große Sorgen aus – auch um die persönliche wirtschaftliche Existenz. Die Diakonie Deutschland fordert eine umfassende Reform der Pflegeversicherung, wie Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik, darlegt.
Nach 25 Jahren bedarf die Pflegeversicherung einer grundlegenden Reform, um ihre Funktion im System der sozialen Sicherung auch zukünftig zu erfüllen. In den vergangenen 25 Jahren ist die Lebenserwartung erfreulicherweise gestiegen. Im hohen Alter steigt allerdings das Risiko, pflegebedürftig zu werden. Die Zahl der demenziell veränderten Menschen hat zugenommen, aber auch die Zahl derjenigen, die mit erheblichen körperlichen Einschränkungen und Erkrankungen alt werden. Die Zahl der im Alter alleinlebenden Menschen ist gestiegen. Unter ihnen will die Mehrzahl möglichst lange selbständig in der eigenen Wohnung leben.
Die Pflegeversicherung von 1995 war dazu gedacht, häusliche Pflege zu unterstützen und die Pflegekosten beim Einzug ins Pflegeheim zu übernehmen. Die Pflegeversicherung sollte das Pflegerisiko absichern, damit Pflegebedürftige nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein sollten. Denn die Kommunen leisten „Hilfe zu Pflege“, wenn die Bürgerinnen und Bürger ihre Eigenmittel aufgebraucht haben und die Pflegekosten nicht mehr selbst zahlen können.
Die Pflegeversicherung kann dieses Versprechen heute nicht mehr erfüllen. Trotz einiger Reformen in den vergangenen Jahren steigen die Belastungen pflegender Angehöriger und vor allen Dingen die Eigenbeteiligungen an den Pflegekosten bei stationärer Unterbringung kontinuierlich. Ein Platz im Pflegeheim kostet in Deutschland durchschnittlich knapp über 2 000 Euro an Eigenleistungen, der Eigenanteil allein für die Pflege beträgt durchschnittlich fast 800 Euro.
Nach wie vor wird der weit überwiegende Anteil der pflegebedürftigen Menschen zu Hause gepflegt. Pflegende Angehörige sind, wenn sie die Hauptlast der Pflege tragen, sehr viel mehr gefordert als in den 1990er-Jahren, denn Menschen sind heute länger pflegebedürftig und brauchen mehr Pflege und Betreuung. Erschwerend kommt hinzu, dass Angehörige, die die Pflege ihrer Angehörigen übernehmen, in der Mehrzahl selbst noch im erwerbsfähigen Alter sind und für ihre eigene Absicherung im Alter arbeiten. Geben sie ganz oder teilweise ihre Berufstätigkeit für die Pflege von Angehörigen auf, riskieren sie, im Alter in Armut zu leben und selbst von Sozialhilfe abhängig zu werden.
Alter in Armut
Damit die häusliche Pflege gelingt, müssen die Tagespflege und Kurzzeitpflege ausgebaut und ein unterstützendes, servicebasiertes Pflegesystem entwickelt werden. Das Ziel muss sein, dass pflegende Angehörigen der Dauerbelastung entkommen, Pflege und Beruf besser vereinbar werden, die Pflegedienste mehr Zeit für ihren Dienst in den Privatwohnungen einsetzen können und die häusliche Pflege ihrem fachlichen Anspruch gerecht wird.
Die Entscheidung für ein Pflegeheim wird in den meisten Fällen getroffen, „wenn es nicht mehr anders geht“. Die meisten Menschen wollen, so lange es geht, zu Hause bleiben. Nicht zuletzt scheuen sie die sehr hohe und weiter steigende finanzielle Belastung durch die stationäre Pflege. Sie haben die Sorge, dass sie die Pflege nicht selbst zahlen können, ihre Angehörigen belastet werden oder sie Sozialhilfe beantragen müssen. Durch eine Reform der Hilfe zur Pflege (Sozialhilfe) wurde der Rückgriff auf das Einkommen der Kinder eingeschränkt. Nur, wenn die Kinder mehr als 100 000 Euro im Jahr verdienen, müssen sie für die Pflege ihrer Eltern zuzahlen. Das führt allerdings dazu, dass noch mehr pflegebedürftige Menschen auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, die von den Kommunen zu zahlen ist. Die kommunalen Haushalte werden durch die Hilfe zur Pflege zunehmend belastet. Es fehlen Finanzmittel für andere kommunale Aufgaben im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich.
Die vollstationären Pflegeeinrichtungen beklagen seit Jahren eine andauernde Personalknappheit, die der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang (Universität Bremen) in einem Gutachten kürzlich untersucht hat. Er hat in seinem Gutachten zur Personalbemessung einen erheblichen Mehrbedarf an Fach- und Assistenzkräften belegt. Die Pflegekräfte haben nicht genug Zeit, um nach fachlichen Maßstäben ganzheitlich zu pflegen und den Pflegebedürftigen ausreichend Aufmerksamkeit zu schenken. Dieser Mangel ist inzwischen von der Politik erkannt, die in der Konzertierten Aktion Pflege (2018–2019) Vereinbarungen getroffen hat, um mehr Pflegekräfte auszubilden, zu beschäftigen und besser zu bezahlen. Wenn der Pflegeberuf weiterhin attraktiv sein und für junge Menschen werden soll, müssen sich die Rahmenbedingungen in der Pflege verbessern und der (Arbeits-)Druck reduziert werden. Schon heute fehlen 40 000 Pflegekräfte, die dringend benötigt werden.
Diese Maßnahmen werden deutlich mehr Geld kosten. Und da in den nächsten Jahren die Zahl der pflegebedürftigen Menschen kontinuierlich steigen wird, werden sich die Kosten für die Pflege kumulativ erhöhen. Auch zu den Pflegekosten hat Heinz Rothgang verschiedene Gutachten erstellt, eines Ende 2020 für die Diakonie Deutschland. Wenn die Pflegeversicherung, wie 1995 gedacht, die pflegebedingten Kosten im Wesentlichen tragen und wenn zudem die dringend notwendige Verbesserung der Personalsituation umgesetzt werden soll, müssten die Beitragssätze der Pflegeversicherung ganz erheblich steigen.
Eine solche Steigerung der Beitragssätze – die solidarisch von Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmerinnen zu finanzieren wäre, ist politisch nur schwer vermittel- und umsetzbar.
Vor diesem Hintergrund schlägt die Diakonie Deutschland mehrere Maßnahmen vor: In einem ersten Schritt sollte die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung mit begrenzter Eigenbeteiligung weiterentwickelt werden. Die pflegebedürftigen Menschen müssten zu den pflegebedingten Kosten eine kalkulierbare Eigenbeteiligung leisten. Wie hoch diese Eigenbeteiligung ist, muss politisch entschieden werden. Für die Diakonie ist vorstellbar, zunächst die pflegebedingte Eigenbeteiligung einzufrieren und schrittweise zu reduzieren. Zu der Eigenbeteiligung an den Pflegekosten kommen die Kosten für Unterkunft und Verpflegung hinzu. Die Investitionen in die Pflege-Infrastruktur – also der Bau von Pflegeheimen und Tagespflegen – sollten – wie ursprünglich gedacht – von den Bundesländern entsprechend des örtlichen Bedarfs geplant und gefördert und nicht den Pflegebedürftigen aufgebürdet werden.
Die vollstationäre Pflege steht wegen der hohen Eigenanteile und der beschränkten Personalkapazitäten im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Der Diakonie Deutschland ist wichtig, dass die Situation in der häuslichen Pflege verstärkt in den Blick genommen wird. Ein kritisches Indiz für den Handlungsbedarf ist die hohe Zahl von im Haushalt lebenden Haushaltshilfen aus den osteuropäischen Nachbarländern. Die Arbeitsbedingungen dieser Frauen, ihr Lohn, ihre soziale Absicherung müssen dringend politisch diskutiert und besser geregelt werden. Das servicebasierte Pflegeunterstützungssystem der Diakonie Deutschland schlägt eine Kombination von häuslicher Pflege, Tages- und Kurzzeitpflege vor, die auch die Möglichkeit bietet, als Angehöriger abgesichert zu sein und für die Pflege der Angehörigen bezahlt zu werden oder die 24-Stunden-Betreuung angemessen zu regeln.
Breite finanzielle Basis
Um die Ausgestaltung einer bedarfsgerechten pflegerischen Versorgung zu finanzieren und auf eine stärkere gemeinsame Basis zu stellen, braucht es eine Vergrößerung der finanziellen Basis der Pflegeversicherung. Die Diakonie schlägt dafür eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das höhere Niveau der Rentenversicherung beziehungsweise die Erhöhung der Beitragssätze vor sowie die Einbeziehung weiterer Einkommensarten wie Kapital- und Mieterträge bei der Beitragsbemessung.
Gerechtigkeit in der Pflege bedeutet für die Diakonie auch, über eine Steuerfinanzierung nachzudenken – zum Beispiel für die Alterssicherung oder für Lohnersatzleistungen der pflegenden Angehörigen. Das wissenschaftliche Gutachten des Gesundheitsökonomen Rothgang zeigt, dass eine Kombination aus Bürgerversicherungselementen (Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, Einbeziehung weiterer Einkommensarten) und ein Steuerzuschuss in einer festen prozentualen Höhe die Beiträge der Sozialversicherung stabilisieren könnten. Ein pflegebedingter Eigenanteil könnte so auf eine bezahlbare Größe festgelegt werden. Der Vorschlag der Diakonie Deutschland für eine umfassende Reform der Pflegeversicherung wurde bereits an verschiedenen Stellen diskutiert. In den öffentlichen Pflegedialogen des Bundesgesundheitsministers habe ich die diakonischen Reformvorschläge vorgestellt. Eine grundlegende Pflegereform gelingt am besten, wenn ein möglichst großer politischer Konsens besteht. Die Diakonie Deutschland hatte deshalb im Sommer ein Schreiben an Bundeskanzlerin Angela Merkel initiiert – mit der Bitte, einen Pflegegipfel einzuberufen. Dieses Schreiben ist von einem breiten Kreis von Verbänden und Fachleuten unterzeichnet worden. Daraufhin hat die Bundeskanzlerin gemeinsam mit den drei zuständigen Fachministerien die Mitglieder der Konzertierten Aktion Pflege zusammengerufen. Es ist davon auszugehen, dass weitere Dialoge folgen. Es ist zu hoffen, dass auch die Erfahrungen in der Corona-Pandemie in dieser Debatte eine Rolle spielen werden. Pflege ist systemrelevant und wird endlich auch so wahrgenommen.
Die öffentliche Diskussion um eine Pflegereform hat in den vergangenen Wochen an Fahrt aufgenommen. Vor allem die Informationen aus dem Ministerium für Gesundheit lassen den Schluss zu, dass es doch noch in dieser Legislaturperiode zu der Verabschiedung einer Reform der Pflegeversicherung kommen wird.
Ein Systemwechsel
Die Ankündigung aus dem Ministerium, die Eigenanteile der pflegebedürftigen Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen für die Pflegeleistungen auf 700 Euro zu begrenzen, deutet einen Systemwechsel in die richtige Richtung an. Auch Steuerzuschüsse werden vorgeschlagen. Dazu werden Maßnahmen zur Entlastung der pflegenden Angehörigen angekündigt und bessere Gehälter für die Pflegekräfte. Über die Finanzierung und deren Folgen muss noch sehr genau verhandelt werden. Die Bevölkerung ist durchaus bereit, für eine gute Pflege auch mehr Geld zu bezahlen, egal ob über Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge.
Die meisten Menschen wünschen sich ein Pflegesystem, das die Pflege bedarfsgerecht und gut sichert, ohne die pflegebedürftigen Menschen und die Kommunen finanziell zu überfordern. Vor allen Dingen wünschen sie sich ein Pflegesystem, auf das sie sich auch in Zukunft verlassen können.
Maria Loheide
Maria Loheide ist Sozialpolitischer Vorstand der Diakonie Deutschland und Vorstandsmitglied des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung in Berlin.