Schwieriges Erbe

In Hamburg sind die Spuren der Kolonialherrschaft noch weithin sichtbar
Anne Marie Azongs Eltern stammen aus Kamerun, sie selbst ist als Kind nach Deutschland gekommen.
Fotos: Jörg Böthling
Anne Marie Azongs Eltern stammen aus Kamerun, sie selbst ist als Kind nach Deutschland gekommen.

Hamburg war die einflussreichsteKolonialmetropole Deutschlands. Wie soll mit den zahlreichen Spuren dieses Erbes umgegangen werden? Dazu melden sich immer mehr junge Menschen mit familiären Bezügen zu Wort.

Hamburger Schmuddelwetter. Es nieselt. Menschen mit Regenschirmen eilen vorbei in Richtung Wandsbek Markt, einem Verkehrsknotenpunkt im Osten der Stadt. Auf der vierspurigen Straße rauschen die Autos vorbei. Anne Marie Azong steht unter dem Vordach des Eingangs zur Christuskirche. Trotz des Wetters trägt sie weiße Sneaker zu schwarzer Hose und Jacke. Das Violett ihres Lippenstiftes passt zu der Farbe ihrer Strähnen. „Kennen wir Hamburger ja nicht anders, das Wetter“, sagt sie trocken und grinst. Dann geht ihr Blick über den historischen Friedhof.

Hamburger Wißmannstraße
Foto: Jörg Böthling
 

Wir sind hier verabredet, um gemeinsam das Mausoleum von Heinrich Carl von Schimmelmann in Augenschein zu nehmen. Der 1782 gestorbene Schimmelmann galt als reichster Mann Europas. Seinen Reichtum hatte er im transatlantischen Dreieckshandel gemacht. Er exportierte von Hamburg aus Baumwolltuch, Waffen und Schnaps an die Westküste Afrikas, tauschte die Waren gegen Sklaven, die er wiederum nach Nordamerika und in die Karibik verschiffte, um sie dort zu verkaufen. Voll beladen mit Zuckerrohr segelten die Schiffe zurück nach Europa. Schimmelmann betrieb in der Karibik zudem eine eigene Plantage mit tausend Sklaven.

Anne Marie Azongs Eltern stammen aus Kamerun, sie selbst ist als Kind nach Deutschland gekommen. Auch aus dem zentralafrikanischen Land wurden Sklaven geraubt und an der Westküste Afrikas an Händler verkauft. Bereits die Fahrt über den Atlantik überlebten sehr viele nicht.

Hamburger Kaufleute erreichten mit massiver Lobbyarbeit, dass Reichskanzler Bismarck seine zunächst ablehnende Haltung gegenüber Kolonien aufgab. Zum Dank stifteten sie ihm ein großes Denkmal über dem Hafen, um dessen Renovierung die Stadt aktuell streitet.
Foto: Jörg Böthling

 

Was empfindet Anne Marie Azong beim Anblick des Schimmelmann-Mausoleums? „Es macht mich sehr wütend, dass dieser Mensch so einen Ehrenplatz einnimmt“, sagt die 25-Jährige. „Jeder weiß doch um die Verbrechen des Sklavenhandels, warum wird das immer noch heruntergespielt?“

Die Begräbnisstätte Schimmelmanns ist die auffälligste und mächtigste auf dem Friedhof. Das Mausoleum gilt als zentrales Werk des Norddeutschen Klassizismus und steht seit 1940 unter Denkmalschutz.

Wandsbek war zu Schimmelmanns Zeiten ein dänisches Dorf mit einem Gut. Heinrich Carl Schimmelmann erwarb das Gut und ließ das Wandsbeker Schloss bauen. Unter seiner Gutsherrschaft blühte der Flecken vor den Toren Hamburgs ökonomisch und kulturell auf. Deshalb wird er bis heute geehrt: Ein Stieg, eine Allee und eine Straße im Bezirk tragen seinen Namen.

Hamburg
Foto: Jörg Böthling

 

Die Grundschule in der Schimmelmannstraße war lange nach selbiger benannt. Die Schatzmeisterstraße nimmt Bezug auf seine Tätigkeit als Finanzberater der dänischen Könige. 2006 wollte die damalige Bezirksregierung ihn zudem mit der Aufstellung einer Büste vor dem Rathaus ehren. Es kam zu Protesten. Mehrfach wurde die Büste mit roter Farbe attackiert. 2008 entfernte der Bezirk das Denkmal wieder.

Vom Sockel gestoßen

„Wie viel Blut ist durch diesen Menschen vergossen worden, das ist doch viel bedeutsamer als das Positive, was er geschaffen hat.“ Anne Marie Azong steht vor der blauen Texttafel, die von der Stadt am Mausoleum angebracht wurde. Seine Rolle im Sklavenhandel erwähnt diese nur in einem Satz am Ende. Hinter der runden Brille Anne Marie Azongs funkeln ihre Augen vor Empörung.

Die Reederei des Handelshauses Woermann hatte das Monopol auf alle Truppentransporte nach Deutsch- Südwest.
Foto: Jörg Böthling

 

Im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung wurden in den USA, in Belgien und in Großbritannien Denkmäler kritisiert, beschädigt oder ganz vom Sockel gestoßen, die zu Ehren von Entdeckern, Sklavenhändlern oder herausragenden Persönlichkeiten der Kolonialherrschaft geschaffen worden waren. Auch in Deutschland hat die Auseinandersetzung über den Umgang mit diesem Teil der Geschichte neuen Auftrieb erhalten. Dieses Mal aber beteiligen sich verstärkt Menschen, die einen eigenen biografischen Bezug zu dem Thema haben. Viele von ihnen sind junge Afrodeutsche. Sie sind als Kinder eingewanderter Eltern hier aufgewachsen und begreifen dieses Land als ihres. Forderungen stellen sie mit mehr Nachdruck, als noch ihre Eltern es getan hätten. Wie die deutsche Staatsbürgerin Anne Marie Azong, die sich mit ihren Wurzeln in zwei Kontinenten vorwiegend als Hamburgerin fühlt. Trotz ihres ausgeprägten Lokalpatriotismus ist sie von Hamburg enttäuscht. „Wo wird in dieser Stadt der vielen Menschen gedacht, die durch die Sklaverei elendig ums Leben gekommen sind?“, fragt die 25-Jährige. „Wenn wir wirklich ein Teil dieser Gesellschaft sind, muss das endlich passieren.“

Hamburg war als Hafenstadt eine der einflussreichsten Kolonialmetropolen Europas. Hamburger Kaufleute erreichten mit massiver Lobbyarbeit, dass Reichskanzler Bismarck seine ablehnende Haltung gegenüber Kolonien aufgab. Zum Dank stifteten sie ihm ein großes Denkmal über dem Hafen, um dessen Renovierung und Gestaltung die Stadt aktuell streitet. Hanseatische Kaufleute, Reeder und Banken wirkten maßgeblich bei der Berliner Afrika-Konferenz 1884 mit, der Initialzündung zur imperialistischen Aufteilung des Kontinentes unter den Kolonialmächten. Auch an der Durchführung des Genozids an den Herero und Nama in Deutsch-Südwest, heute Namibia, waren Akteure aus Hamburg maßgeblich beteiligt. Die Reederei des bis heute aktiven Handelshauses Woermann zum Beispiel hatte das Monopol auf alle Truppentransporte nach Deutsch-Südwest.

Lovis Jenkins steht vor der Kornhausbrücke. Im Hintergrund die Denkmäler aus Sandstein, die Vasco da Gama und Christoph Kolumbus ehren.
Foto: Jörg Böthling

 

Viele Orte in der Stadt zeugen von diesem schwierigen Erbe. „Irgendwann ist mir klargeworden, ich begegne auf meinen täglichen Wegen ständig der Ehrung von Menschen, die mir sehr geschadet hätten, wenn ich damals gelebt hätte.“ Lovis Jenkins steht vor der Kornhausbrücke. Sie führt von der Hamburger Innenstadt in die historische Speicherstadt, also zum damaligen Hafen. Seit 1903 zieren die Brücke zwei Denkmäler aus Sandstein, die Vasco da Gama sowie Christoph Kolumbus ehren. Der Großvater von Lovis Jenkins war Afroamerikaner, also Nachfahre verschleppter Sklaven. Kolumbus gilt als Entdecker Amerikas. Abgesehen davon, dass andere das bereits vor ihm erledigt hatten, leitete der Italiener die Kolonisierung des Kontinentes ein. Maßgeblicher Motor dieses aus europäischer Sicht erfolgreichen Modells war neben der bedingungslosen Ausbeutung der Rohstoffe die Bewirtschaftung großer Plantagen mit aus Westafrika importierten Sklaven. Und die Urbevölkerung Amerikas wurde auf Kolumbus’ Befehl unterdrückt, versklavt, vergewaltigt, verstümmelt und ermordet. „Das hier ist nicht der gute Onkel Kolumbus, der Superentdecker – wann hört man endlich mit dieser unkritischen Rezeption auf.“ Auch Lovis Jenkins ist wütend.

 

An der Kornhausbrücke gibt es zwar eine blaue Tafel der Stadt. Sie erklärt die Brücke und die damalige Zollgrenze zwischen Altstadt und dem Freihafengebiet. Die Figuren bleiben unkommentiert. Lovis Jenkins ist in Wandsbek aufgewachsen. Er hat die Grundschule in der Schimmelmannstraße besucht. Erst als Erwachsener wurde ihm bewusst, wer der Namensgeber der Schule seiner Kindheit war. Lovis Jenkins schätzt, ebenso wie Anne Marie Azong, die offene bundesrepublikanische Gesellschaft. Es sollte aber gerade in ihr nicht nötig sein, dass so lange um die Anerkennung der Opfer von Kolonialismus und Sklaverei gekämpft werden muss. Die Frage nach dem Umgang mit diesem Erbe betrifft die Grundlagen der modernen europäischen Gesellschaft. „Es gibt diese kolonialen Spuren einfach überall, und es ist keineswegs hysterisch, darauf immer wieder hinzuweisen.“

Teil der Identität

Das aber koste sehr viel Kraft, weil es immer auch um mehr als eine abstrakte politische Auseinandersetzung gehe. „Die Demütigung eines Teils meiner Vorfahren ist Teil meiner Identität.“ Zudem gelte es, immer wieder gegen die Macht selektiver Wahrnehmung anzukämpfen. Einen Reichskanzler Bismarck verbinden nach wie vor sehr viele Menschen vor allem mit dessen Sozialgesetzgebung, Kolumbus mit der Entdeckung Amerikas und Schimmelmann mit der Entwicklung Wandsbeks. Trotz der auch bei ihm sehr großen und tief sitzenden Wut, ruft der Student der Politikwissenschaften nicht zur Stürmung, Sprengung oder zum Abriss auf. Wie aber umgehen, mit einem von nur einer kleinen Lobbygruppe initiierten Denkmal, das bereits bei seiner Einweihung 1908 längst nicht im Sinne aller Hamburger gewesen sein dürfte? „Parallel zur Sanierung soll eine neue Debatte zum Umgang mit dem Bismarck-Denkmal geführt werden“, sagt Enno Isermann. Daran beteiligen will man unter anderem Nachkommen der Kolonisierten und Opferverbände aus den ehemaligen Kolonien. „Das Ziel einer Neu-Kontextualisierung des Bismarck-Denkmals soll möglichst bis zum Abschluss der Sanierung entwickelt und umgesetzt werden“, so der Sprecher der Behörde für Kultur und Medien. Auch um kolonial belastete Straßennamen will die Stadt sich kümmern. Zum 1. September 2020 wurde dafür eine Projektstelle besetzt, die eine Strategie zur Umbenennung erarbeiten soll. Bereits seit 2014 gibt es an der Universität Hamburg die Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung“ .

Gedenktafeln
Foto: Jörg Böthling

 

Und doch bleibt der Eindruck, die Verantwortlichen gestalten nur zögerlich den Umgang mit dem kolonialen Erbe. Bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert stießen Studenten die Denkmäler Hermann von Wissmanns und Hans Dominiks vor der Universität vom Sockel. Beide waren in hohen Posten an der brutalen Niederschlagung von Aufständen in Ost-Afrika und in Kamerun verantwortlich. Heute liegen die Denkmäler im Lager der Universität. Nur kontextualisiert in Ausstellungen sind sie noch öffentlich zu sehen. Für viele andere Denkmäler und Spuren aber fehlt immer noch ein Konzept. „Ich schätze sehr die Erinnerungskultur in Deutschland an die Shoa, aber auch die ist nicht von alleine entstanden, sie wurde mit großem Einsatz erkämpft“, sagt Lovis Jenkins. Das erwartet er auch für die Erinnerungskultur rund um Kolonialismus und Sklaverei. Etwa für das Askari-Relief und das Schutztruppen-Ehrenmal neben dem Gelände der ehemaligen Lettow-Vorbeck-Kaserne.

Das Tor zum sogenannten Tansania-Park in Hamburg-Jenfeld ist verschlossen. Einen Zugang zu bekommen, ist nicht ganz einfach. Seydou Konate steht mit verschränkten Armen vor dem Ehrenmal und blickt die hohe Säule entlang in den grauen Himmel. Sehr lange sagt der 31-Jährige, den seine bereits eingewanderten Eltern vor 15 Jahren aus dem Senegal nachgeholt haben, nichts. „Ja, das ist Geschichte, das ist wirklich passiert“, sagt er dann bedächtig. „Aber was lernen wir daraus?“ Mit der Gestaltung der Lettow-Vorbeck-Kaserne wollten die Nationalsozialisten die ruhmreiche Geschichte deutscher Kolonien heraufbeschwören. Die denkmalgeschützten Kasernengebäude tragen bis heute Namen und Reliefs ihrer Helden, wie etwa des Oberbefehlshabers der Kolonial-Truppen Lothar von Trotha. Sein Vernichtungsbefehl war die Grundlage für den Völkermord an 80 000 Herero und Nama, dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts.

Seydou Konate vor dem Ehrenmal im sogenannten Tansania-Park in Hamburg-Jenfeld.
Foto: Jörg Böthling

 

Bis 2002 schmückten zudem die Askari-Reliefs den Eingang der Kaserne. Sie erzählen die Legende der beispielhaften Treue der afrikanischen Hilfssoldaten zu ihren deutschen Herren. Mit ihrem Umzug in den Park neben dem ehemaligen Eingang wurden die Reliefs zu Nachbarn des Ehrenmals für die Schutztruppe. Noch 1966 wurde diesem eine Gedenktafel für die Gefallenen des Nordafrikafeldzuges hinzugefügt.

Die gefallenen deutschen Soldaten sind für Seydou Konate weder Helden noch Opfer, die Askari nicht nur Opfer. Askari leisteten freiwillig Dienst in Militär und Polizei. Sie waren beteiligt an der brutalen Niederschlagung von Aufständen. „Das macht mich hier besonders traurig“ , sagt Seydou Konate.

Sprechende Denkmäler

Teile und herrsche. Das System ist immer noch lebendig. Bis heute werden afrikanische Länder ausgebeutet. „Alles aus unserer verhängnisvollen gemeinsamen Geschichte muss auf den Tisch.“ Sollte man den Tansania-Park öffnen? Seydou Konate schüttelt den Kopf. „So, wie sie jetzt präsentiert sind, erzählen diese Denkmäler zu wenig.“ Auch auf dem historischen Friedhof in Wandsbek müssten die Denkmäler mehr sprechen. „Auf die hohen weißen Wände des Mausoleums ließen sich Symbole für die Tausenden, namenlosen Opfer der Sklaverei projizieren“, sagt Anne Marie Azong. „Und warum ist das gegenüberliegende Grab von Matthias Claudius so unscheinbar?“ Der Dichter und Publizist ist berühmt für sein Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“. Er war aber auch ein streitbarer Publizist und verantwortlich für eine der ersten Tageszeitungen der Stadt. Vor allem aber gilt sein „Der Schwarze in der Zuckerplantage“ als erste Kritik eines deutschen Lyrikers am Sklavenhandel. Es gäbe also genug zu erzählen, nicht nur auf dem historischen Friedhof von Hamburg-Wandsbek

 

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Jörg Böthling

Jörg Böthling begann 1985 als Seemann auf Fahrten nach Afrika und Asien zu fotografieren. Er studierte Fotografie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und arbeitet als Freelancer. 


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