Kreisen bis zur Ewigkeit

Die Zeit in den Religionen der Welt
Vor rund siebentausend Jahren wurde das Sonnenobservatorium in der Nähe des Ortes Goseck in Sachsen-Anhalt errichtet.
Fotos: dpa
Vor rund siebentausend Jahren wurde das Sonnenobservatorium in der Nähe des Ortes Goseck in Sachsen-Anhalt errichtet.

Die Religionen der Welt haben unterschiedliche Vorstellungen von Zeit hervorgebracht. Während im Christentum, Judentum und Islam die Zeit linear vergeht, folgen etwa Buddhismus und Hinduismus einer zirkulären Zeitvorstellung. Adelheid Herrmann-Pfandt, außerplanmäßige Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg, gibt einen Überblick.

In den Feldern nahe beim Dorf Goseck in Sachsen-Anhalt liegt eines der bemerkenswertesten Bauwerke der europäischen Vorgeschichte. Das älteste Sonnenobservatorium der Welt, vor fast siebentausend Jahren errichtet, 1991 aus der Luft entdeckt, ausgegraben und heute originalgetreu wiederaufgebaut, besteht aus einer kreisrunden doppelten Palisadenreihe, die von Wall und Graben umgeben ist. Bestimmte Lücken in den Palisadenwänden ermöglichen vom Kreiszentrum aus den Blick zu jenen Stellen am Horizont, an denen zur Winter- und Sommersonnenwende die Sonne auf- oder untergeht. Mit Hilfe solcher Anlagen, von denen man in Europa bisher mehr als 130 gefunden hat, konnten unsere in der Jungsteinzeit sesshaft gewordenen, nunmehr vom Ackerbau abhängigen Vorfahren sich in den Jahreszeiten orientieren, um wichtige Zeitpunkte wie den besten Aussaattermin nicht zu verpassen.

Die Kreisgrabenanlage von Goseck war jedoch nicht nur für die materielle Existenzsicherung da, sondern wurde zugleich als Heiligtum genutzt, wie wir unter anderem anhand von Gruben mit Opfergaben an die Götter erkennen. Man glaubt, dass dort große Rituale stattfanden, wofür die unglaublich gute Akustik im Kreisinnern sicherlich hilfreich war. Noch heute haben viele Besucher einen Sinn dafür, an einem heiligen Ort zu stehen, denn auf dem in der Kreismitte eingelassenen Stein mit astronomischen Erklärungen habe ich bei meinem diesjährigen Herbstbesuch in Goseck eine Menge Opfergaben gefunden, darunter Früchte, Nüsse und kleine Steine. Ein solcher Ort weckt Ehrfurcht, nicht nur vor der astronomischen Expertise unserer frühen Vorfahren, sondern vor allem vor der Schöpfung, dem Kosmos, dessen Struktur das Bauwerk „lesbar“ zu machen suchte.

Dieses eindrucksvolle Heiligtum gehört zu den frühesten Zeugnissen für die menschliche Bemühung, sich im Kontinuum der Zeit zurechtzufinden. Was ist Zeit? Obwohl wir dies intuitiv zu wissen meinen, ist es nicht einfach, die Frage zu beantworten. Die Zeit ist eine der Grundbedingungen der Existenz, der menschlichen Welterfahrung und damit auch der Religion. Zeit und Raum bilden zusammen jene Wirklichkeit, in der sich alle Bewegung und alles Leben abspielt. Welcher Weltdeutung wir auch immer anhängen, welche Religion oder Philosophie unser Leben bestimmt, die Zeit wird darin immer eine Rolle spielen, nicht zuletzt weil der Tod, der unserer individuellen Zeit ein Ende setzt, unumgänglich zu jedem Leben dazugehört.

Der Fortgang der Religionsgeschichte seit dem Neolithikum hat eine Vielzahl an religiösen Deutungen der Zeit hervorgebracht, von der „Heilsgeschichte“ über die „Zeitlosigkeit“ besonders heiliger Augenblicke bis zur „Ewigkeit“. Der vielleicht grundlegendste Unterschied ist der zwischen linearem und zyklischem Zeitverständnis.

Modell Mensch

In der linearen Zeitauffassung mit ihrer Geschichtsbezogenheit leben die meisten von uns im Westen; sie gehört zu den drei großen monotheistischen Religionen. Sie beginnt in einem bestimmten Zeitraum, der religiös als Schöpfung, säkular als Weltentstehung nach dem Urknall gedeutet wird, und endet am „jüngsten Tag“, den Juden, Christen und Muslime gleichermaßen erwarten, mit dem „jüngsten Gericht“, gefolgt von einer zeitlosen Zeit, für die wir je nach individuellem Glauben das Paradies oder die ewige Seligkeit erhoffen oder die ewige Verdammnis befürchten. Das Modell, anhand dessen sich das lineare Zeitverständnis entwickelt hat, ist wohl das menschliche Leben, das von einem konkreten Anfang in der Geburt bis zu seinem Ende, dem Tod, läuft und innerhalb dieser Zeitspanne durch eine Abfolge bestimmter Phasen, von der Jugend über die Erwachsenenzeit bis zum Alter, strukturiert ist. Von denen, die meinen, mit dem Tod sei alles aus, neigen einige zu einem gewissen Leistungsdruck: Sie wollen vor dem Tod alles Sehenswerte gesehen und alles Wissenswerte erfahren haben; es gibt auch diverse moderne Anleitungsbücher dazu. Viele religiöse Menschen sehen das irdische Leben als einen Weg auf Gott zu, in dessen Nähe sie ihre „Ewigkeit“ nach dem Tod zu verbringen hoffen. Je stärker sie diese ewige Zeit idealisieren, desto negativer bewerten sie oft das irdische Leben, das ihnen nur als ein unbedeutendes Durchgangsstadium, als „irdisches Jammertal“, erscheint.

Eine säkularisierte Form der Heilsgeschichte ist der Fortschrittsglaube, der aus der Erwartung besteht, dass die Welt, nicht zuletzt aufgrund der Fortschritte in Medizin und Technik, immer weiter voranschreitet und immer lebenswerter wird. Ereignisse wie die Kriegsverbrechen des letzten und der Terrorismus dieses Jahrhunderts können aber auch für die gegenteilige Erwartung sprechen und haben zu fortschrittspessimistischen Haltungen geführt, die von der Zukunft eher eine immer mehr ins Böse und Negative führende Entwicklung erwarten.

Eine eher zyklische Zeitauffassung finden wir im Hinduismus und Buddhismus. Das zyklische Denken orientiert sich am immer wiederkehrenden Jahreszyklus und sieht auch in größeren Zeiträumen eine ähnlich zyklische Struktur. Das menschliche Leben ist nach hinduistischer wie buddhistischer Auffassung kein einmaliger Ablauf, sondern unterliegt dem Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Dieser endet nicht, bevor der Mensch nicht frei ist von irdischen Bedürfnissen und dem Hängen am Leben und bevor er nicht alle seine Vergehen aus diesem und vergangenen Leben gebüßt hat. Bis dahin ist die Wiedergeburt zum nächsten Leben unausweichlich, und sie kann in jeder nur denkbaren Gestalt, von der Ameise bis zum Gott, erfolgen, je nachdem wie viel positive oder negative Handlungsenergie (Karma) der Mensch im jetzigen oder in vorherigen Leben gesammelt hat. Erst wenn alles Karma erloschen, neutralisiert, „abgearbeitet“ ist, erfolgt das, was Hindus Moksha (Erlösung) und Buddhisten Bodhi (Erleuchtung) nennen. Man tritt in einen Zustand jenseits aller Wünsche, Genüsse und Gefühle, das Nirvana, ein und ist von dem Zwang, eine neue Wiedergeburt anzutreten, befreit.

Die Zeiträume, um die es in den zyklisch orientierten Religionen geht, können ein menschliches Leben jedoch bei Weitem übersteigen. Ein von Heinrich Zimmer nacherzählter Mythos aus der heiligen Literatur Indiens macht dies deutlich. Indische Götter sind keine ewigen Mächte, sondern leben eine bestimmte, wenn auch sehr lange Zeit, dann sterben sie und werden durch den nächsten Gott, die nächste Göttin desselben Namens ersetzt. Indiens Götter sind auch, ähnlich wie die griechischen Götter, nicht von unendlicher Weisheit, sondern haben Gefühle und machen Fehler. Der Gott Indra, der König der Götter, ist zum Beispiel sehr ehrgeizig und will seine Königsstadt zu einem architektonischen Wunder ausbauen. Eines Tages erhält er Besuch von einem Knaben, der ihn darüber informiert, dass sein Leben einundsiebzig Äonen dauern werde, wobei jeder Äon eine hohe Anzahl an Jahren enthalte, dann aber enden werde. Der Knabe zeigt auf einen Zug Ameisen, der durch den königlichen Palast zieht, und sagt, dass jede einzelne dieser Ameisen einmal ein Indra, ein Vorgänger des jetzigen Götterkönigs, gewesen sei, der aufgrund seines Karmas nun als Ameise leben müsse. Als der Götterkönig dies gehört hat, vergisst er seinen Stolz, wird demütig und wünscht sich nur noch eines: Erlösung aus dem Geburtenzyklus.

Eine andere Erscheinungsform des zyklischen Zeitverständnisses der Inder ist die Lehre von den vier Weltzeitaltern (Yugas), aus denen jeder Weltzyklus besteht und die eine absteigende Entwicklung nehmen, insbesondere was die Moral der Menschen angeht. Im ältesten der vier Weltzeitalter leben alle nach dem Dharma, dem Weltgesetz, und erfüllen, jeder und jede für sich, die ihnen aufgrund ihrer Geburt und sozialen Stellung zukommenden Aufgaben. Im zweiten und dritten Weltzeitalter nimmt die Ausrichtung am Dharma kontinuierlich ab, bis im heutigen finsteren Weltzeitalter, dem Kali-Yuga, Unwissen, Bosheit, Gier und Gewalt an die Macht gekommen sind und die meisten Menschen den Dharma nicht ausreichend respektieren. Eines Tages jedoch kommt ein Weltuntergang, nach dem der Zyklus wieder von vorne beginnt. Während im Christentum die Person und ihre Geschichte einmalig und unwiederholbar sind, gehört die Idee der ewigen Wiederholung des Gleichen zur zyklischen Weltsicht dazu. Während es im Westen die Größe Gottes ist, die die Menschen Demut lehrt, ist es im Osten eher die Größe der Zeit, in der sich wieder und wieder das Drama der Erlösung abspielt.

Die buddhistische Lehre von den Weltzyklen ähnelt der hinduistischen, setzt aber eigene Schwerpunkte. Nach dem buddhistischen Lehrer Vasubandhu (viertes Jahrhundert nach Christus) gibt es die sechs Lebensbereiche der Götter, Menschen, Tiere, Hungergeister und Höllenwesen. Die ersten drei sind gute, die anderen schlechte Lebensbereiche. Der Anfang eines Weltzyklus setzt ein, wenn das erste Wesen im Bereich der Götter wiedergeboren wird. Da auch Götter, wie gesagt, Fehler machen, werden bald einige von ihnen in schlechteren Lebensbereichen wiedergeboren, bis auch die unterste Hölle Bewohner enthält. Das ist der Normalzustand der Welt. Irgendwann leert sich die unterste Hölle jedoch wieder, und der ganze Zyklus kehrt sich um, bis schließlich kein Lebensbereich mehr Bewohner enthält. Dann wird auch die Welt selbst durch einen großen Brand vernichtet, und danach geht derselbe Zyklus von vorne los.

In Hinduismus und Buddhismus „hat“ ein Mensch mehr Zeit auf der Erde, weil er nicht alles in diesem einen Leben erledigen muss, er kann vieles auch für künftige Leben „aufheben“. Die Vorstellung, dass man die Arbeit an sich selbst und an der eigenen Erlösung über mehrere Leben hin fortführen kann, ist auch für manche Esoteriker im Westen attraktiv, die meist die Wiedergeburtslehre als eine Chance sehen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und in einem neuen Körper weiterzumachen. In Asien dagegen wird die Notwendigkeit weiterer Geburten als Unheil gesehen und die Erlösung aus dem Geburtenkreislauf als das eigentlich Attraktive begriffen.

Alle Religionen besitzen das Konzept des Feiertags, des „Heiligtums in der Zeit“, wie Rabbi Abraham Joshua Heschel ihn genannt hat, eines Zeitraumes, in dem man sich auf das Göttliche besinnt und Gebet, Meditation, Ritual in den Vordergrund des Lebens stellt und der so wichtig ist, dass die Zehn Gebote seine unbedingte Einhaltung fordern. Jährliche Festtage sind der Geburt des Religionsstifters gewidmet oder erinnern an Ereignisse, die zum Heil der Menschen gedient haben. So erinnert die zehntägige Durga-Puja an die Tötung eines bösen Büffeldämons durch die hinduistische Göttin Durga, das muslimische Opferfest an Abrahams von Gott verhinderte Opferung seines Sohnes, das Vesakh-Fest zugleich an Geburt, Erleuchtung und Tod des Buddha, das Passahfest an die Befreiung des Volkes Israel aus dem „ägyptischen Sklavenhaus“. In Naturreligionen wie der von Goseck haben die von den Gestirnen abhängigen Tage wie Sonnenwenden oder Tag- und Nachtgleichen eine besonders heilige Bedeutung und werden noch heute im Neopaganismus, zum Beispiel nach dem keltischen Kalender, als Jahresfeste gefeiert. Rituale gehören zu allen Feiertagen dazu, um die heilige Zeit auch auf der körperlichen Ebene zu erleben. Das gilt auch für die wöchentlichen Feiertage, etwa für den Sonntag als Auferstehungstag im Christentum, den Samstag als Ruhetag des Schöpfers im Judentum, den Mittwoch als Tag des Gottes Ganesha im Hinduismus.

Vielen Religionen gemeinsam ist die Idee, dass die Zeit der irdischen Welt angehört und man zur Gottheit oder zum Göttlichen kommt, wenn man die irdische Welt transzendiert, ob dies nun zeitlich begrenzt in Ekstase, Meditation oder Gebet geschieht oder beim Sterben als Eingehen in die Ewigkeit. Gott oder Nirvana sind im Unterschied zur Welt und zu uns selbst zeitlos, ewig. Für viele Menschen ist es ein Trost, dass sie durch ihre Glaubenspraxis diese Zeitlosigkeit erfahren können und so einen erlebbaren Anteil an der göttlichen Ewigkeit haben.

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Foto: Petra Schiefer

Adelheid Herrmann-Pfandt

Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.


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