Warum kein Prinzessinnenkleid?

Josef als Vorbild: vom Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt in der Kirche
Foto: privat

Josefs Träume und Traumdeutungen sind Gottesgaben, an denen Josefs Geschwister keinen Gefallen finden. Sollten sie sich wie die Garben vor der Garbe Josefs verneigen oder wie Sonne, Mond und elf Sterne vor dem schillernden Stern Josef? Es geht selten gut, wenn sich ältere Geschwister und Eltern dem jüngeren Kind unterordnen sollen. Doch eine andere Gottesgabe macht ihnen noch mehr zu schaffen.

Josef, 17 Jahre alt, erlebt sich nicht als Junge, sondern als Mädchen. Die biblische Erzählung schildert das eindrücklich. Josefs Vater fertigt seinem 17-jährigen Kind ein Kleid an. Beim „bunten Rock“ in der Lutherbibel denken viele Predigende an farbenfrohe, orientalische Kleidung. Doch im hebräischen Urtext trägt Josef ein Ketonät Passim. Im 2. Buch Samuel 13,18f wird solch ein Ärmelkleid näher beschrieben: „Solche Kleider trugen des Königs Töchter.“ Es ist ein Prinzessinnenkleid. Jakob fertigt das Prinzessinnenkleid für Josef.

Ein Junge, der mit 17 Jahren Prinzessinnenkleider anzieht, ein Vater, der das aktiv unterstützt, da geht es um die  außergewöhnliche Identität des Kindes, die von seinen Eltern gemeinsam anerkannt wird. Auch Josefs Mutter schenkt im Sternentraum ihrem Kind Ehrerbietung. Doch sie ist in biblischer Tradition gepaart mit Trauer: Rahel weint um ihre Kinder (Jeremia 31,15), sie weint um ihre vergewaltigte Tochter Dina, weint über den Hass der Brüder, der sich gegen Josef wendet. Sie weint um ihr scheinbar umgekommenes Kind, vielleicht aber auch schon zuvor um ihr Bild von Josef als Jungen und jungen Mann, von dem sie sich aufgrund dessen weiblicher Transidentität verabschieden musste.

Wie gehen wir mit Menschen im Spektrum geschlechtlicher Vielfalt um? Sind wir in einer heteronormativ geprägten Kirche bereit, sie so anzunehmen und zu lieben, wie sie sind? Sind wir Rahel- und Jakob-Menschen, die vielleicht um das Anderssein eines Menschen Trauer empfinden, um dann doch entschieden zu ihnen zu stehen? Sind wir eine Kirche, die verantwortungsvolle Eltern darin unterstützt, zu ihrem intergeschlechtlichen, transidenten oder queeren Kind zu stehen? Haben wir den Mut, wie Jakob und Rahel, Kinder mit einer außergewöhnlichen geschlechtlichen Identität anzunehmen und als Gemeinde ein Ja zu dieser queeren Familie zum Ausdruck zu bringen?

Während Gott ein Ja zu Josefs Transidentität gefunden hat, wurde Josef ausgerechnet von seinen Geschwistern sexuell gedemütigt, ausgezogen, beinahe umgebracht, verkauft und versklavt. Ich bewundere Josef für ihre übermenschliche Kraft, ihren Geschwistern am Ende versöhnlich entgegenzutreten. Nach der glücklichen Zusammenführung Josefs mit ihrem alten Vater Jakob, spricht dieser in 1. Mose 49 Josef einen Segen zu, der über weite Strecken klingt, als sei er einer Frau zugesprochen.

Martin Buber und Franz Rosenzweig stellen sich in ihrer Übersetzung der bildlichen Umschreibung weiblicher Fruchtbarkeit, der weiblich-hügeligen Körperlandschaft und der Benennung Josefs als eine der Töchter (Benot) Jakobs: „Sprossender Fruchtstock Josef, sprossender Fruchtstock am Quell, Tochtergespross schwingt sich mauerhinan … Segnungen des Himmels von droben, Segnungen des Wirbels, der drunten lagert, Segnungen von Brüsten und Schoß! Die Segnungen deines Vaters wuchsen an die Segnungen der ewigen Berge, an die Lust der Weltzeit-Höhn – sie mögen sich senken auf Josefs Haupt.“

Kein intergeschlechtliches Kind, das männliche und weibliche Körperanteile in sich vereint, hat sich dafür entschieden. Kein transidentes Kind, dessen Gehirn sich in einer anderen geschlechtlichen Ausprägung entwickelt hat als der Rest des Körpers, hat sich diese Geschlechtsidentität ausgesucht. Wer sich keinem Geschlecht zuordnen kann oder sich nur von Menschen des gleichen Geschlechts angezogen fühlt, hat sich nicht gegen den Willen des Schöpfers dafür entschieden. Allen wurde ihre Geschlechtsidentität gegeben.

Die Josefs-Geschichte lehrt uns, Menschen mit jeder geschlechtlichen Identität anzunehmen, auch in der Kirchengemeinde. Es wäre schlimm, wenn es ihnen bei uns so erginge wie der 17-jährigen Josef im Kreise ihrer Geschwister. Sie hatten anfangs große Schwierigkeiten mit ihrer transidenten Schwester. Gott aber führte sie über viele Jahre hinweg auf einen Weg zur Annahme und Versöhnung. Es ist höchste Zeit, dass auch wir uns voller Annahme und Respekt vor unseren Geschwistern mit außergewöhnlicher Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung verneigen.

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Klaus-Peter Lüdke ist Pfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Vorstandsmitglied im Trans-Kinder-Netz e. V. und Autor: „Jesus liebt Trans*. Transidentität in Familie und Kirchgemeinde“ ist 2020 in erweiterter Fassung auch auf Englisch erschienen: „Jesus Loves Trans*“ (Kindle).

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